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SCHWERPUNKT
Chronisch funktionelle Obstipation
Therapeutische Optionen im Kindesalter
Zu den Grundpfeilern der Behandlung der chronisch funktionellen Obstipation im Säuglings- und Kindesalter gehört neben medizinischen Massnahmen eine fortlaufende gute Aufklärung der Eltern und Kinder. Es gilt von Anfang an klar zu vermitteln, dass die Behandlung langwierig sein kann, mit den neueren Medikamenten aber keine wesentlichen und sicher keine längerfristigen Nebenwirkungen zu erwarten sind.
Von George Marx
Ratschläge wie ballaststoffreiche Ernährung und viel Trinken sind weniger gut belegt, als viele glauben.
* ESPGHAN: European Society for Pediatric Gastroenterology, Hepatology and Nutrition. ** NASPGHAN: North American Society for Pediatric Gastroenterology, Hepatology and Nutrition.
Die chronische Obstipation ist ein sehr häufiges Problem im Kindesalter, die weltweite Prävalenz wird mit 3 Prozent angegeben (1). Bei 17 bis 40 Prozent der betroffenen Kinder beginnt die chronische Obstipation im ersten Lebensjahr (2). Sie ist häufig assoziiert mit seltener und/oder schmerzhafter Defäkation, Stuhlinkontinenz und chronischen Bauchschmerzen (3). Eine kausale Therapie ist nur möglich bei exogen ausgelösten Obstipationen oder bei Obstipationen, welchen eine Allgemeinerkrankung zugrunde liegt (wie z.B. eine Schilddrüsenproblematik oder eine Zöliakie). Dies sind keine funktionellen Obstipationen, sondern Obstipationen im Rahmen einer anderen Erkrankung, auf welche hier nicht eingegangen wird. Auch eine Reihe weiterer Aspekte der chronischen Obstipation werden im Folgenden nicht diskutiert. Hierzu gehören psychologische und psychotherapeutische Massnahmen (bei Kindern mit psychiatrischem Krankheitsbild indiziert), chirurgische Eingriffe (Morbus Hirschsprung, anorektale Fehlbildungen, stenosierende Prozesse im unteren Intestinaltrakt, chronisch intestinale Pseudoobstruktion) sowie die transkutane Nervenstimulation (TNS). In diesem Artikel geht es um die therapeutischen Optionen der chronischen funktionellen Obstipation im Kindesalter. Es werden vor allem bei der Darstellung der therapeutischen Optionen der chronischen Obstipation im Kindesalter die Kriterien der Guidelines der ESPGHAN* und NASPGHAN** vom Februar 2014 berücksichtigt (4).
Diagnosekriterien
Die chronisch funktionelle Obstipation wird nach den Rome-III-Kriterien diagnostiziert, wenn mindestens zwei der folgenden Symptome vorliegen: • weniger als zwei Defäkationen pro Woche;
• Auftreten einer Stuhlinkontinenzepisode mindestens einmal pro Woche (nachdem das Kind sauber geworden ist);
• exzessive Stuhlretention in der Anamnese; • harte Stühle und Schmerzen bei der Defäkation; • Vorliegen grosser Stuhlmassen im Rektum; • anamnestische Angabe grossvolumiger Stühle.
Symptomatische Behandlung bei chronisch funktioneller Obstipation
Das Therapieziel einer symptomatischen Behandlung ist die vollständige und regelmässige Stuhlentleerung. Die Stuhlentleerung soll täglich oder zumindest jeden zweiten Tag erfolgen, ohne Defäkationsschmerz und ohne unwillkürlichen Stuhlabgang bei Kindern, welche vorher sauber waren. Vier verschiedene Aspekte gehören zur Behandlung der chronisch funktionellen Obstipation: • Aufklärung • Desimpaktion der vorhandenen Stuhlmassen • Prävention einer erneuten Stuhlimpaktion • Nachsorge.
Allgemeine Massnahmen
Die korrekte und geduldige Aufklärung der Eltern und wenn möglich der Kinder über die Obstipation und deren Ursache ohne Schuldzuweisungen ist essenziell. Bei den Erklärungen soll auch über den Mechanismus der Stuhlentleerung im Kindesalter informiert werden. Es handelt sich meistens nicht um eine Motilitätsstörung, sondern um eine Koordinationsproblematik der Stuhlentleerung.
Ernährung
Eine ballastoffreiche Kost mit adäquater Flüssigkeitszufuhr wurde in der Vergangenheit immer als hilfrei-
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Prä- und Probiotika werden nicht empfohlen.
che Therapie bei der Behandlung der chronisch funktionellen Obstipation im Kindesalter erwähnt. Nach Betrachtung von drei Reviewartikeln (5–7) zeigte sich jedoch keine eindeutige Evidenz, dass eine ballaststoffreiche Ernährung die funktionelle Obstipation im Kleinkindesalter positiv beeinflusst. Eine ausgewogene Ernährung ist aber für die allgemeine Gesundheit und andere gesundheitliche Aspekte des Intestinaltraktes immer mit zu berücksichtigen. Bei Kindern mit einer neuromotorischen Entwicklungsretardierung kann eine ballastoffreiche Kost sogar eine negative Auswirkung auf die Motilität des Kolons haben, da sie gern verklumpt und somit für das Kolon schwer zu transportieren ist. Es gibt ebenfalls keine eindeutige Evidenz dafür, dass eine zusätzliche Flüssigkeitszufuhr einen positiven Effekt auf die chronisch funktionelle Obstipation hat.
Körperliche Aktivität
Eine regelmässige körperliche Aktivität hat erfahrungsgemäss einen positiven Effekt auf die Motilität des Intestinaltraktes. Randomisierte Studien zum Kindesalter gibt es allerdings nicht.
Prä- und probiotische Therapie
Das routinemässige Einsetzen von Prä- oder Probiotika wird in der Behandlung der chronisch funktionellen Obstipation im Kindesalter nicht empfohlen. Es gibt in den durchgeführten Studien keine Evidenz für einen positiven Effekt (8, 9).
Toilettentraining
Bei Kindern über 2 bis 3 Jahre ist die regelmässige Aufforderung für einen Toilettengang (5 Minuten nach den Hauptmahlzeiten, um den gastrokolischen Reflex
Tabelle: Laxanzien für Kinder
Substanz PEG 3350
PEG 4000
Lactulose
Paraffinöl
Bisacodyl
GlycerolSuppositorien NatriumhydrogencarbonatSuppositorien Einlauf, Mikroclist
Dosierung initial: 1–1,5 g/kg KG pro Tag (ca. 3–4 Tage) Erhaltungstherapie: 0,2–1 g/kg KG pro Tag ≥ 8 Jahre und > 20 kg: 10–20 g/Tag ≤ 8 Jahre bzw. < 20 kg: 0,7 g/kg KG/Tag 1–3 ml/kg KG pro Tag Produkte Macrogol-Mepha Junior Movicol® Junior Transipeg® Laxipeg® Gatinar® Sirup Duphalac® ≥ 18 Monate: 5–10 ml peroral ≤ 6 Jahre: 10–45 ml peroral 4–12 Jahre: einmalig 5 mg peroral oder rektal > 12 Jahre: 10 mg peroral oder rektal gem. Beipackzettel
Laxamalt® Paragar® Paragol® N Lansoyl® z.B. Dulcolax® Bisacodyl Prontolax®
div.
einmalig 1–2 Zäpfchen
Lecicarbon® (für Kinder)
≥ 2 Jahre: 6 ml/kg KG, max. 130 ml
div.
Alter ab 2 Jahren
Nebenwirkungen (NW), Bemerkungen NW: gelegentlich Bauchschmerzen, Blähungen, Nausea, Erbrechen, Diarrhö
ab 2 Jahren, nach NW: häufig Diarrhö und Bauchschmerzen; gelegentlich Blähungen, Rücksprache Nausea und Erbrechen mit dem Arzt ab 6 Monaten1 ab Säuglings- NW: sehr häufig/häufig: Flatulenz, Bauchschmerzen, Übelkeit und alter Erbrechen, Diarrhö
Immer mit niedriger Dosierung beginnen. Das synthetische Disaccharid wird von der Darmflora verwertet, was eine Steigerung der Dosis bei schwierigen Verläufen erfordern kann. ab 18 Monaten2 NW: Pneumonitis bei pulmonaler Aspiration, Malabsorption bei Langzeitanwendung. Keine langfristige Anwendung (u.a. wegen Toleranzentwicklung), nicht bei behinderten Kindern anwenden. ab 4 Jahren3 NW: Abdominalkolik, Diarrhö, Hypokaliämie, Erbrechen, Proktitis nach rektaler Applikation Keine langfristige Anwendung wegen Toleranzentwicklung, Wasser- und Elektrolytverschiebungen ab Säuglings- Rektale Manipulation ist bei funktioneller Obstipation zu vermeiden. alter ab 12 Monaten NW: lokales Brennen. Rektale Manipulation ist bei funktioneller Obstipation zu vermeiden.
ab 2 Jahren
Rektale Manipulation ist bei funktioneller Obstipation zu vermeiden. Salinische, phosphathaltige Klysmen nicht bei Kleinkindern oder behinderten Kindern sowie bei Nierenerkrankungen: Gefahr einer Hyperphosphatämie oder Hypokalziämie. Cave: Patienten mit Niereninsuffizienz
1 Bei Kindern im Alter von 6 Monaten bis 2 Jahren und mit einem Körpergewicht von mindestens 6 kg darf Macrogol 4000 nach Rücksprache mit dem Arzt angewendet werden, nicht aber bei jüngeren bzw. leichteren Kindern. 2 Bei einigen Produkten wird darauf hingewiesen, dass Paraffinöl bei Kindern unter 12 Jahren nur mit ärztlicher Verordnung angewendet werden darf. 3 Unter 12 Jahren sind Bisacodylpräparate nur mit ärztlicher Verordnungen zugelassen.
Nennung der Produkte gemäss www.swissmedicinfo.ch, Stand: 26. Januar 2016. Einige Angaben wurden gemäss Müller und Heyland 2011 ([11]; Tabelle 1) ergänzt. Die Tabelle erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
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zu nutzen) sicherlich eine sehr wertvolle Massnahme nach erfolgter Desimpaktion. Das Abstützen der Füsse und ein geeigneter Toilettensitz erleichtern die Stuhlentleerung ebenfalls. Das Durchführen eines Stuhlprotokolls ist für den Arzt und auch für die Familie wichtig. In einigen Fällen ist eine sogenannte Biofeedbacktherapie zum Erlernen der Koordination der Stuhlentleerung sinnvoll. Geeignete evidenzbasierte Empfehlungen werden jedoch in den Guidelines nicht erwähnt.
Alternativmedizinische Massnahmen
Obwohl komplementäre Massnahmen wie Akupunktur, Homöopathie oder muskuloskelettale Manipulationen (Osteopathie, chiropraktische Anwendungen) erfahrungsgemäss und nach Expertenmeinung in einigen Fällen eine erfolgreiche Alternative zur medikamentösen Therapie darstellen, gibt es auch hier leider keine sauber durchgeführte Studie, welche uns die Evidenz dafür liefern würde.
Medikamente zur initialen Darmentleerung
Die initiale Darmentleerung ist einer der Hauptpfeiler der Behandlung der chronisch funktionellen Obstipation. Ohne sie wird die Koordination der Stuhlentleerung nicht funktionieren. Bei Säuglingen kann man initial mit Glyzerinsuppositorien oder einem Mikroclist die Desimpaktion einleiten. Auf salinische, phosphathaltige Klysmen sollte bei Kleinkindern, behinderten oder Kindern mit Nierenerkrankungen wegen der Gefahr einer Hyperphosphatämie oder Hypokalziämie verzichtet werden. Auch sollte auf die rektale Manipulation bei Kleinkindern wenn immer möglich verzichtet werden. Grund ist, dass diese Kinder mit chronischer Obstipation oft sehr viel Angst und auch traumatisierende Erfahrungen haben, oft bringt der Verzicht auf eine rektale Manipulation sowie keine Gabe von Zäpfchen oder Mikroclist eine Beruhigung der Gesamtsituation. In solchen Fällen kann die Desimpaktion auch sehr gut mit Polyethylenglykolpräparaten (PEG) initiiert werden. Die Effektivität der Desimpaktion mit Polyethylenglykolpräparaten ist die gleiche wie bei Einläufen (10). Bei Klein- und Schulkindern kann die Desimpaktion mit Bisacodylzäpfchen (Prontolax®, Dulcolax® und Generika) oder mit Polyethylenglykol (PEG) 3350 bis 4000 (Macrogol) eingeleitet werden. Dazu gibt man zirka 1 bis 1,5 g PEG/kg Körpergewicht und Tag über 3 bis 4 Tage, dann erfolgt die Reduktion der Dosis. Die PEG-Präparate wirken besser als Lactulose, Magnesium, Paraffinöl oder Plazebo (10). In der Tabelle werden die in der Schweiz am häufigsten angewendeten oral und rektal angewendeten Medikamente und deren Dosierungen aufgelistet. Nach der Desimpaktion erfolgt die Erhaltungstherapie, welche vor allem in Stuhltrainingsmethoden sowie medikamentöser Therapie besteht.
Medikamentöse Erhaltungstherapie
Die hierfür verwendeten Medikamente sind ebenfalls in der Tabelle aufgelistet. Wir verwenden vor allem die Macrogolmedikamente in einer Dosis von 0,2 bis 1 g/kg Körpergewicht/Tag. Die Dosis und die Therapiedauer sollten sich am Therapieziel orientieren. In der Regel wird eine Therapiedauer von 3 bis 6 Monaten empfohlen. Allerdings dauert es manchmal wesentlich länger (bis zu 2 Jahre), bis die Therapie langsam ausgeschlichen und abgesetzt werden kann. Alternativ können auch Lactulosepräparate in einer Dosis von 1 bis 2 ml/kg Körpergewicht/Tag eingesetzt werden. Diese sind weniger wirksam, haben mehr Nebenwirkungen (z.B. Bauchschmerzen und Meteorismus) und müssen auch häufiger in steigernder Dosierung gegeben werden, da die bakterielle Darmflora die Lactulose abbauen kann. Das Paraffinöl, welches auch in einer Dosis von 1 bis 2 ml/kg Körpergewicht/Tag gegeben wird, sollte sehr zurückhaltend eingesetzt werden. Grund hierfür ist, dass diese Präparate mögliche pulmonale Komplikationen bei Aspiration haben und eine Malabsorption bei hoher Dosierung verursachen können. CO2-freisetzende Suppositorien (z.B. Lecicarbon®) sind bei einigen Kindern zur Stuhlkonditionierung hilfreich.
Zusammenfassung
In diesem Artikel werden die Grundpfeiler der Behandlung der chronisch funktionellen Obstipation im Säuglings- und Kindesalter beschrieben. Wichtig erscheint mir dabei, dass zusätzlich zur Desimpaktion und der Erhaltungstherapie auch eine fortlaufende gute Aufklärung der Eltern und der Kinder erfolgt, denn diese ist essenziell für das Funktionieren (Compliance) der medikamentösen Therapie. Auch soll von Anfang an darauf hingewiesen werden, dass die Behandlung langwierig sein kann und dass mit den neueren Medikamenten, wie zum Beispiel den Macrogolpräparaten, während dieser langen Zeit keine wesentlichen und sicher keine längerfristigen Nebenwirkungen zu erwarten sind. Dieser Punkt ist für die Eltern und die Kinder von grosser Bedeutung.
Korrespondenzadresse: Dr. med. George Marx Leitender Arzt Ostschweizer Kinderspital Claudiusstrasse 6 9006 St. Gallen E-Mail: george.marx@kispisg.ch
Literatur: 1. Van den Berg MM, Benninga MA, Di Lorenzo C: Epidemiology of childhood constipation: a systemetic review. Am J Gastroenterol 2006; 101: 2401–2409. 2. Loening-Baucke V: Constipation in early childhood: patient characteristics, treatment, and long-term follow up. Gut 1993; 34: 1400–1404. 3. Liem O et al.: Health utilization and cost impact of childhood constipation in the United States. J Pediatr 2009; 154: 258–262. 4. Baker SS et al.: Constipation in infants and children:evaluation and treatment. A medical position statement of the North American Society for Pediatric Gastroenterology and Nutrition. J Pediatr Gatroenterol Nutr 1999; 29: 612–626.
Toilettentraining ist eine sinnvolle Massnahme.
PEG-Präparate sind für die Desimpaktation genauso gut geeignet wie Klysmen.
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5. Loening-Baucke V, Miele E, Staiano A: Fiber is beneficial in the treatment of childhood constipation. Pediatrics 2004; 113: e259–264. 6. Castillejo G et al. A controlled, randomized, double- blind trial to evaluate the effect of a supplement of cocoa husk that is rich in dietary fiber on colonic transit in constipated pediatric patients. Pediatrics 2006; 118: e641–648. 7. Kokke FT et al.: A dietary fiber mixture versus laktulose in the treatment of childhood constipation: a double-blind randomized controlled trial. J Peditatr Gatroenterol Nutr 2008; 47: 592–597. 8. Guerra PV et al.: Pediatric functional constipation treatment with Bifidobacterium-containing yogurt: a crossover, double-blind, controlled trial. World J Gastroenterol 2011; 17: 3916–3921. 9. Coccorullo P et al.: Lactobacillus reuteri (DSM 17938) in infants with functional chronic constipation: a double-blind, randomized placebo-controlled study. J Pediatr 2010; 157: 598–602. 10. Bekkali NL et al.: Rectal fecal impaction treatment in childhood constipation: enemas versus high doses oral PEG. Pediatrics 2009; 124: e1108–1115. 11. Müller P, Heyland K: Abklärung und Therapie der Obstipation im Kindesalter. Paediatrica 2011; 22 (3): 25–26.
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