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PAEDART BASEL
«Happy spitter» oder GERD?
Diagnostik und therapeutische Optionen bei gastroösophagealem Reflux
Im ersten Lebensjahr ist gastroösophagealer Reflux häufig und meist nicht therapiebedürftig. Anders sieht es bei älteren Kindern oder bei gastroösophagealer Refluxkrankheit (GERD) aus. An der PaedArt in Basel informierten Dr. med. Marc Sidler und Dr. med. Martina Frech-Dörfler über diagnostische und therapeutische Optionen bei gastroösophagealem Reflux im Säuglings- und Kindesalter.
Tabelle 1: Alarmsymptome bei Regurgitationen und/oder Erbrechen
• biliäres Erbrechen • gastrointestinale Blutung • anhaltendes Erbrechen
im Schwall • Diarrhö • Obstipation • gespanntes Abdomen • Hepatosplenomegalie • Gedeihstörung • Fieber • vorgewölbte Fontanelle • Makro-/Mikrozephalus • Krampfanfälle • Verdacht auf Stoffwech-
selpathologie • Syndrome (Genetik)
Quelle: Vortrag M. Sidler, PaedArt Basel 2015
* Vandenplas Y et al.: Pediatric gastrooesophageal reflux clinical pratice guidelines: joint recommendations of the North American Society for Pediatric Gastroenterology, Hepatology, and Nutrition (NASPGHAN) and the European Society for Pediatric Gastroenterology, Hepatology, and Nutrition (ESPGHAN). JPGN 2009; 49: 498–547.
Gastroösophagealer Reflux kommt bei gesunden Säuglingen drei- bis fünfmal pro Stunde beziehungsweise mehr als 30- bis 100-mal pro Tag vor; 20 bis 70 Prozent der Kinder in diesem Alter gütscheln mehr als zweimal pro Tag. In der Regel erreicht die Frequenz dieser Phänome im Alter von vier Monaten ihren Höhepunkt. Danach sinkt die Prävalenz rasch, und sie liegt bei den Einjährigen nur noch bei 1 bis 5 Prozent. Bei einem 1½-jährigen Säugling müsse eher an einen pathologischen Reflux gedacht werden, sagte Dr. med. Marc Sidler, Oberarzt Gastroenterologie am Universitätskinderspital beider Basel (UKBB), an der PaedArt in Basel. Dahinter könnten auch (in jedem Alter) ein Infekt (Sepsis, Otitis, Harnwegsinfektion, Gastroenteritis, Meningitis), eine Obstruktion im Gastrointestinaltrakt (Pylorus-stenose, Fremdkörper etc.) oder neurologische Störungen oder Fehlfunktionen des Stoffwechsels stecken. Diese Liste möglicher Differenzialdiagnosen sei keineswegs vollständig, betonte Sidler, man müsse bei Regurgitationen und Erbrechen an eine breite Palette potenzieller Ursachen denken; Alarmzeichen, die sogenannten «red flags», sind in Tabelle 1 aufgeführt.
Ist es GERD?
Bei der Unterscheidung eines unkomplizierten ösophagealen Refluxes von der gastroösophagealen Refluxkrankheit (GERD: gastroesophageal reflux disease) spielen klinische Aspekte wie Allgemeinbefinden, Gewichtsverlauf, Essverhalten, Schlu-cken und so weiter eine Rolle (Tabelle 2). Eine weitergehende Abklärung sei nur sinnvoll, wenn es GERD sein könnte, sagte Sidler. Es gibt eine lange Liste von Symptomen oder bestimmten Erkrankungen, die mit GERD einhergehen, bei Kleinkindern und Säuglingen ist jedoch nichts davon so spezifisch, dass es eine sichere GERD-Diagnose erlauben würde. Etwas anders sieht es bei älteren Kindern (≥ 8 Jahre) und Adoleszenten aus. Bei ihnen könnten Anamnese und klinische Untersuchung eventuell ausreichen, um GERD zu diagnostizieren, insbesondere wenn das klassische Symptom Sodbrennen vorliege, erläuterte
Sidler. Die Endoskopie ermöglicht den Ausschluss anderer Schleimhautpathologie (z.B. eosinophile Ösophagitis) und die sichere Diagnose einer Refluxösophagitis, aber «auch wenn wir nichts sehen, heisst das nicht, dass der Patient keine Refluxkrankheit hat», sagte Sidler. Es gibt auch eine nicht erosive Form der gastroösophagealen Refluxerkrankung, die NERD (non-erosive reflux disease). Man dürfe darum nicht versprechen, dass mit der Endoskopie alles geklärt sei. Sie sei nur ein Teil der diagnostischen Möglichkeiten, betonte der Referent.
Keine Evidenz für PPI-Versuch
In der Praxis ist der empirische PPI-Versuch beliebt, obwohl bereits seit einigen Jahren bekannt ist, dass Protonenpumpeninhibitoren GERD-Symptome bei Säuglingen in der Regel nicht lindern können und plazebokontrollierte PPI-Studien mit älteren Kindern und Säuglingen fehlen. In den aktuellen Richtlinien* der amerikanischen und europäischen Fachgesellschaften erlaubt man trotzdem den PPI-Versuch bei Kindern ab acht Jahren, aber nur für maximal vier Wochen. Bei jüngeren Kindern und Säuglingen sollte man hingegen keine PPI geben. Völlig konsequent sind dabei jedoch noch nicht einmal die internationalen Fachgesellschaften: Wenn es um sogenannte Schreibabys geht, genehmigen sie doch einen empirischen PPI-Versuch, aber nur für zwei Wochen. Falls PPI doch helfen, solle man immer wieder versuchen, diese abzusetzen, sagte Sidler. Das Phänomen Reflux verändere sich nämlich mit der Zeit und bleibe nicht immer gleich. Ein Absetzversuch könne sich also immer lohnen. Falls das nicht gelinge, solle man das Kind an einen Spezialisten überweisen. Es sei jedenfalls keine Lösung, langfristig PPI zu geben, denn «Beobachtungsstudien zeigen zunehmend, dass PPI nicht nur harmlos sind», betonte der Referent. So wisse man zum Beispiel aus der Erwachsenenmedizin, dass mit langfristiger PPI-Einnahme eine höhere Rate an Clostridium-difficile-Infektionen verbunden sei. Auch gebe es Hinweise aus der Allergologie, dass die Toleranzentwicklung bei ständiger Säureblockade schlechter sei.
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Anders als man vielleicht noch vor zehn Jahren angenommen habe, seien Säureblocker eben doch nicht völlig harmlos. Als Alternative nannte Sidler pflanzliche Mittel wie das Iberogast®, von dem man aus Studien wisse, dass es bei funktioneller Dyspepsie genauso gut wirke wie Protonenpumpenhemmer.
Vorgehen in der Praxis
Bei einem sogenannten «happy spitter», dem sonst gesunden «Speikind» ohne Alarmsymptome, und in einem Alter von maximal 18 Monaten braucht es keine weiteren Abklärungen und keine Therapie. In der Regel genügt es, einfache Massnahmen wie das Hochlagern im Liegen zu empfehlen und die Eltern zu beruhigen. Auch das Eindicken der Flaschennahrung kann hilfreich sein. Anders sieht es bei Kindern über 18 Monate aus. Bei ihnen sollte die Indikation zu weiterführenden Abklärungen (Endoskopie, Impedanz-pH-Metrie, Bildgebung Magen-Darm-Passage) grosszügig gestellt werden. Das Gleiche gilt für jüngere Kinder mit rezidivierendem Erbrechen und Gedeihstörungen, falls keine Ursache dafür gefunden werden kann. Eventuell kommt ein zeitlich limitierter Versuch mit kuhmilchproteinfreier Formulaernährung für zwei Wochen infrage, wobei sich bei teilweisem Stillen auch die Mutter kuhmilchproteinfrei ernähren muss. Falls das alles nichts bringt, muss das Kind zur weiteren Abklärung an einen pädiatrischen Gastroenterologen überwiesen werden. Bei einen sonst gesunden sogenannten Schreibaby gehört Reflux nicht zu den häufigen Ursachen für das anhaltende, unerklärliche Schreien. Gängige Differenzialdiagnosen sind hier die Kuhmilchproteinallergie, die Obstipation, neurologische Störungen oder Infektionen. Auch bei diesen Kindern lohnt sich ein zeitlich limitierter Versuch mit kuhmilchproteinfreier Ernährung. Als Praxistipp nannte Sidler auf Nachfrage ein paar Tropfen Stevialösung, um die Formulaernährung etwas schmackhafter für das Kind zu machen; auch sei die Peptid-Formulanahrung meist etwas wohlschmekkender. Immer jedoch gelte, dass die Spezialnahrung nur zeitlich limitiert und «nicht ein halbes Jahr lang» gegeben werden sollte, betonte Sidler. Bei älteren Kindern (≥ 8 Jahre) mit Sodbrennen sind zunächst Lifestylemassnahmen angesagt. Des Weiteren seien Ranitidin (Zantic® und Generika) sowie Sucralfat (Ulcogant®) oder Alginate (Gaviscon®) als Bedarfsmedikation eine Option. Falls das nicht helfe, könne man zwei bis vier Wochen lang PPI versuchen, diese aber höchsten drei Monate lang geben und dann wieder langsam wieder auszuschleichen, um einen Rebound-Effekt zu vermeiden. Prokinetika wie das bereits vor Jahren vom Markt genommene Cisaprid haben übrigens keinerlei Stellenwert mehr in der Behandlung eines gastroösophagealen Refluxes.
Wann operieren?
Die drei wesentlichen Untersuchungen im Rahmen der Indikationsstellung für einen chirurgischen Eingriff wegen GERD im Kindesalter seien die Endoskopie, die Impedanz-pH-Metrie und die Bildgebung (Breischluck), erläuterte Dr. med. Martina Frech-Dörfler, Oberärztin Kinderchirurgie am UKBB: «Nur wenn
Tabelle 2: Unkomplizierter gastroösophagealer Reflux oder GERD?
Gewichtsverlauf Essverhalten Schlucken Regurgitationen respiratorischer Status Verhalten Anämie
Wahrscheinlich unkomplizierter Reflux normal normal normal Milch ± sauer normal normal keine
Möglicherweise GERD
Gedeihstörung auffällig unkoordiniert blutig, Magensaft rezidivierende Atemprobleme Irritabilität, Schmerzen möglich
Quelle: Vortrag M. Sidler, PaedArt Basel 2015
zwei dieser drei Untersuchungen entsprechende Befunde aufweisen, wird über die Indikation zu einer allfälligen Operation gesprochen.» Dass die Endoskopie nicht alle Fragen beantworten kann, hatte bereits Marc Sidler erläutert. Doch auch bei der Impedanz-pH-Metrie und dem sogenannten Breischluck sind gewisse Limitationen zu beachten. Die Impedanz-pH-Metrie gibt Auskunft über sauren und nicht sauren Reflux sowie dessen Höhe im Ösophagus; Normwerte für Kinder gibt es nicht, sodass die Bewertung grenzwertiger Befunde schwierig ist. Es sei sehr wichtig, dass PPI spätestens zwei Wochen vor der Untersuchung abgesetzt würden, betonte Frech-Dörfler. Der sogenannte Breischluck liefert nur eine Momentaufnahme: «Es kommt vor, dass auch ein schwerster ösophagealer Reflux nicht bei dieser Untersuchung erfasst wird», sagte die Referentin. Eine absolute Indikation für die Operation sind anatomische Veränderungen wie eine Hiatushernie oder ein Upside-down-Magen. Alle weiteren Indikationen sind im Einzelfall zu diskutieren. Eine Operation komme erst nach dem ersten Lebensjahr infrage und die Indikation werde am UKBB zusammen mit den Eltern gestellt, sagte Frech-Dörfler. In der Regel erfolgen beide Operationsmethoden laparoskopisch (Fundoplication nach Nissen oder nach Thal); eine PEG-Sonde ist keine Kontraindikation. Ziel des Eingriffs sind eine Druckveränderung im Bereich des unteren Ösophagussphinkters und das Erreichen einer Ventilfunktion durch die Rekonstruktion des physiologischen His-Winkels**. Zu den Komplikationen gehören Verletzungen des N. vagus oder benachbarter Strukturen, Blutungen sowie postoperativ die Stenose, ein Rezidiv oder das Gas-bloat-Phänomen. In zirka 90 Prozent der Fälle führt die Operation zu einer deutlichen Verbesserung der Symptomatik. Es gebe keinen statistisch signifikanten Unterschied zwischen der Operation nach Nissen oder nach Thal bezüglich Säureexposition, Ösophagitis, Reoperationsrate und Patientenzufriedenheit; Dysphagien seien nach einer Thal-Operation jedoch seltener, berichtete Frech-Dörfler. Generell schlechtere Resultate sind zu erwarten bei psychomotorisch retardierten Kindern und vorhandenen Fehlbildungen (z.B. Ösophagusatresie, Zwerchfellhernie).
Renate Bonifer
Quelle: Marc Sidler und Martina Frech-Dörfler: Gastroösophagealer Reflux. PaedArt Universitätskinderspital beider Basel (UKBB) am 27. November 2015.
** His-Winkel: Der Winkel zwischen Pars abdominalis des Ösophagus und Magenfundus beträgt normalerweise 50 bis 60 Grad, ab zirka 90 Grad kommt es zu gastroösophagealem Reflux.
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