Transkript
SCHWERPUNKT
Leistungssport und Wachstum
Ursache und Wirkung unklar – gute Kontrolle ist nötig
Die Frage, ob Leistungssport Wachstum und Entwicklung ihrer Kinder beeinflusse, wird von Eltern immer wieder gestellt. Eine schlüssige Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Gründe für diese Unsicherheit gibt es hingegen einige. Falls eine umfassende, professionelle und enge Zusammenarbeit aller beteiligten Fachpersonen inklusive des Trainerstabes gewährleistet ist, steht einem intensiven Training bereits in jungen Jahren jedoch nichts entgegen.
Von Doris Braun
Bereits die Definition von Leistungssport ist unklar. Für sportferne Personen bedeutet Leistungssport der einmal pro Woche stattfindende Besuch der Jugendriege oder die eine Woche Skilaufen im Winter. Auch unter Fachleuten besteht keine Einigkeit darüber, wo der Breitensport aufhört und der Leistungssport beginnt und wie viele Trainingsstunden geleistet werden müssen, um als Leistungssportler zu gelten. Das Bundesamt für Sport (BASPO) umschreibt Leistungssport durch die «manifeste Ausrichtung auf Leistungsziele und den Leistungsvergleich anlässlich von nationalen und internationalen Wettkämpfen». Eine definierte Anzahl von Trainingsstunden pro Woche fehlt auch hier. Eine Zahl taucht jedoch immer wieder auf, sei es in der Wissenschaft, der Kunst oder im Sport. Um eine exzellente Leistung erbringen zu können, braucht es mindestens 10 Jahre und 10 000 Stunden intensiven Trainings (1). Damit lässt sich ausrechnen, wie viele Stunden pro Woche trainiert werden müssen, um herausragende Leistungen erbringen zu können.
Huhn oder Ei?
In ästhetischen Sportarten wie Eiskunstlauf oder Kunstturnen stellt sich die Frage, ob Athletinnen erfolgreich sind, weil sie konstitutionell bevorteilt sind – klein, Spätentwickler – oder ob sie eine Verzögerung von Wachstum und Entwicklung aufgrund des grossen Trainingsumfanges erfahren, den diese Sportarten bereits in sehr jungen Jahren erfordern. Um zuverlässige Daten für die Situation in der Schweiz erheben zu können, ist die Anzahl Athleten pro Sportart in der Regel zu klein. Internationale Publikationen zum Einfluss von Leistungssport auf Wachstum und Entwicklung stammen vor allem aus den USA. So untersuchte man dort den Zusammenhang von Training und Wachstum im Kunstturnen im
Auftrag des internationalen Kunstturnverbandes (2, 3). Ob die Erkenntnisse dieser Übersichtsarbeit auf die Verhältnisse in der Schweiz zu übertragen sind, ist allerdings fraglich.
Wie intensiv wird tatsächlich trainiert?
Rechnet man die oben erwähnten 10 000 Trainingsstunden auf den wöchentlichen Trainingsumfang um und nimmt man weiter an, das intensive Training beginne im Alter von fünf Jahren, kommt man auf durchschnittlich 20 Stunden Training pro Woche. Theintz et al. gaben im Jahr 1993 für das Kunstturnen im Alter von 12,3 ± 0,2 durchschnittlich 22 Stunden pro Woche an, für Schwimmer in vergleichbarem Alter 8 Stunden pro Woche (4). Diese Zahlen haben sich im Schwimmen annähernd verdoppelt, im Kunstturnen ist der Trainingsaufwand um rund 30 Prozent gestiegen. Diese Zahlen zeigen, dass in der Schweiz kaum in einer Sportart tatsächlich ab dem Alter von fünf Jahren bereits während 20 Stunden pro Woche trainiert wird. In den ästhetischen Sportarten und in anderen Einzelsportarten, wie zum Beispiel Tennis, gibt es wohl einzelne Kinder und Jugendliche, die einen Trainingsaufwand von 20 Stunden oder mehr leisten, in den Mannschaftssportarten wird in aller Regel deutlich weniger trainiert.
Wachstum und Entwicklung kontrollieren
Wachstumsdaten und Pubertätsstadien werden in der Schweiz in der Regel nach den Perzentilenkurven, die auf der Zürcher Longitudinalstudie basieren, beurteilt. Der Verdacht auf eine Verzögerung von Wachstum und Entwicklung besteht, wenn ein Perzentilenverlust festgestellt wird oder wenn die Entwicklung nicht innerhalb des physiologischen Streubereiches statt-
1/16
Leistungssportler sollten mindestens einmal jährlich ärztlich untersucht werden.
17
SCHWERPUNKT
findet. In diesen Fällen sind weitere Abklärungen angebracht. Zu berücksichtigen ist dabei die Familienanamnese bezüglich Pubertätsentwicklung und Wachstum der Eltern. Weiter ist das Knochenalter zu beurteilen. Liegt das Knochenalter im physiologischen Streubereich, sollte das Kind in sechs Monaten erneut kontrolliert werden. Besteht hingegen ein Knochenalterrückstand von mehr als zwei Jahren, empfiehlt sich eine Abklärung bei einem Spezialisten. Bestehen bei Mädchen keine Zeichen einer Pubertätsentwicklung bis zum Alter von 13 Jahren und/oder keine Menarche bis zum 16. Lebensjahr liegt eine Pubertas tarda vor. Bei Knaben ist dies der Fall, wenn keine Pubertätszeichen bis zum Alter von 14 Jahren vorliegen. Wird klinisch eine Pubertas tarda diagnostiziert, sollte das Knochenalter beurteilt werden. Für das weitere Vorgehen ist die Familienanamnese einzubeziehen. Im Zweifelsfall ist eine Überweisung an einen Spezialisten zu erwägen.
Wachstumsverzögerung
Bei Verdacht auf Wachstumsstörungen sind kürzere Abstände nötig.
und Sport
Daten zu Verzögerung von Wachstum und Entwicklung liegen, wie bereits erwähnt, aus dem Kunstturnen vor. Ein internationales Gremium um Robert M. Malina von der University of Texas at Austin hat die Resultate verschiedenster Studien, unter anderem
auch aus der Schweiz, zusammengefasst. Daraus
geht hervor, dass die Endgrösse durch den hohen
Trainingsaufwand im Kunstturnen nicht beeinträchtigt
wird und dass die Pubertätsentwicklung tendenziell
etwas verzögert ist, aber immer noch im physiologi-
schen Streubereich liegt.
Eine andere Gruppe um Neoklis A. Georgopoulos an
der Universität Patras postuliert, dass nicht der grosse
Trainingsaufwand, sondern die eingeschränkte Ener-
giezufuhr bei ästhetischen Sportarten (z.B. Rhythmi-
sche Sportgymnastik, Ballett, Eiskunstlauf) allenfalls
zu einer Verzögerung von Wachstum und Entwick-
lung führen könne. In der Regel erfolgt jedoch ein
Aufholwachstum und die Endgrösse ist auch hier
nicht beeinträchtigt (5).
Sowohl die Beobachtungen von Malina et al. als auch
von der griechischen Gruppe können die Kernfrage,
was Ursache und was Wirkung ist, nicht beantworten.
Interessant ist die Feststellung der Gruppe um Malina,
dass die im Kunstturnen ausgeschiedenen Athletin-
nen grösser und schwerer sind, ein fort-
geschritteneres Knochenalter haben, die
Kasten: «Red Flags»
Menarche früher bekommen und grössere Eltern haben als die im Kader verbliebenen Athletinnen. Diese Feststel-
• Gewichtsstagnation oder -verlust
lung spricht dafür, dass im Kunstturnen
• Körperlänge: Perzentilenabfall
eine konstitutionelle Verzögerung von
• BMI > P25 • Mädchen: keine Pubertätszeichen im Alter
von 13 Jahren oder keine Menarche im Alter von 16 Jahren • Knaben: keine Pubertätszeichen im Alter von 14 Jahren • sekundäre Amenorrhö oder Oligomenorrhö • Stressfraktur • auffälliges Essverhalten
Wachstum und Entwicklung und eine geringere Zielgrösse ein Selektionsvorteil ist (6). Dies kann auch für andere ästhetische Sportarten wie Eiskunstlauf und Rhythmische Sportgymnastik angenommen werden. Für uns Praxispädiater ist es wichtig, die Warnzeichen einer pathologischen Verzögerung von Wachstum und Entwick-
lung (Kasten) zu kennen, zu erkennen und bei Bedarf grosszügig abzuklären oder abklären zu lassen. Ein voreiliges Trainingsverbot ohne vorausgehende Abklärungen ist nicht sinnvoll und führt in der Regel dazu, dass sich die Athleten und Athletinnen nicht an die Anweisungen halten oder sich anderweitig Rat holen.
Fazit für die Praxis
Sportlerinnen und Sportler, die gemäss der Definition des BASPO Leistungssport betreiben, sollten mindestens einmal jährlich ärztlich untersucht werden. Gewicht, Länge und körperliche Entwicklung sollen dokumentiert werden. Bei Athletinnen nach der Menarche gehören Fragen zum Zyklus zur erweiterten Anamnese. Ebenso soll explizit nach Verletzungen, insbesondere nach Stressfrakturen, gefragt werden. Wichtig sind auch Fragen nach der Ernährung, um einen Eindruck vom Essverhalten zu bekommen und allfällige Essstörungen frühzeitig zu erkennen. Bei geringfügigen Abweichungen von Wachstum und Entwicklung sollen die Athleten in kürzeren Abständen kontrolliert werden. Bestätigt sich die Abweichung, sollen weitere Abklärungen eingeleitet werden. Besteht der Verdacht auf eine Essstörung sollen die Athletinnen ebenfalls engmaschig kontrolliert und bei Diagnose einer Essstörung interdisziplinär betreut werden. Dabei ist es wichtig, dass die betreuenden Fachleute Erfahrung im Sportbereich mitbringen. Eine enge Zusammenarbeit aller beteiligten Fachpersonen inklusive des Trainerstabes ist für Leistungssport betreibende Jugendliche und Adoleszente unabdingbar. Ist eine umfassende professionelle Betreuung gewährleistet, steht einem intensiven Training bereits in jungen Jahren nichts entgegen.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Doris Braun Medbase Swiss Olympic Approved Brunngasse 6 8400 Winterthur E-Mail: d.braun@medbase.ch
Literatur: 1. Simon HA, Chase WG: Perception in chess. Cognitive Psychology 1973; 4: 55–81. 2. Malina RM et al.: Role of intensive training in the growth and maturation of artistic gymnasts. Sport Med 2013: 43: 783–802. 3. Malina RM et al.: Sport training and the growth and pubertal maturation of young athletes. Pediatr Endovrinol Rev 2011; 9 (1): 441–455. 4. Theintz GE et al.: Growth and pubertal development of young female gymnasts and swimmers: a correlation with parental data. Int J Sports med 1989; 10 (2): 87–91. 5. Georgopoulos NA et al.: The influence of intensive physical training on growth and pubertal development in athletes. Ann N Y Acad Sci 2010; 1205: 39–44. 6. Theintz GE et al.: Evidence for a reduction of growth potential in adolescent female gymnasts. J Pediatric 1993; 122 (2): 306–313.
18 1/16