Transkript
IMPFUNGEN
FSME und Borreliose in der Schweiz
Infektionsrisiken, Impfstrategien und Perspektiven
Die Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) ist in der Schweiz nach der Borreliose die zweithäufigste durch Zecken übertragene Erkrankung. Wie hoch ist das FSME-Risiko tatsächlich und warum gibt es gegen die weitaus häufigere Borreliose keine Impfung?
Die Inzidenz der FSME liegt in der Schweiz zwischen 1 und 8 Fällen pro 100 000 Einwohner.
Im vergangenen Jahr gingen rund 20 000 ärztliche Konsultationen in der Schweiz auf das Konto von Zeckenstichen, knapp die Hälfte wegen Borreliose, die Mehrzahl wegen FSME (1). Da es gegen FSME keine Therapie gibt, bietet nur die Impfung – neben der Vermeidung von Zeckenstichen – Schutz vor den zwar relativ seltenen, aber potenziell tödlichen Komplikationen dieser Erkrankung.
FSME-Risiko in der Schweiz
Die Inzidenz der FSME beträgt im schweizweiten Durchschnitt 1,4 Fälle pro 100 000 Einwohner (1). Sie schwankt jedoch je nach Region beträchtlich. So betrug die durchschnittliche Inzidenz von 2005 bis 2011 im am schwersten betroffenen Kanton Thurgau 7,8 Fälle auf 100 000 Einwohner (2). Nach Angaben des BAG sind in den FSME-Endemiegebieten der Schweiz 0,5 bis 3 Prozent aller Zecken mit dem Virus infiziert; ab einer Höhe von 1000 Meter hat man bisher keine Zecken mit FSME-Viren gefunden (3). Wenn man in einem Endemiegebiet von einer Zecke gestochen wird, beträgt das Risiko demnach maximal 3:100, dass diese Zecke das FSME-Virus überhaupt übertragen könnte. Sollte man zu den 3 der 100 Fälle gehören, heisst das noch lange nicht, dass man an FSME erkranken wird. Nur bei etwa 10 bis 30 Prozent der von einer infizierten Zecke gestochenen Personen treten nach ein bis zwei Wochen grippeähnliche Symptome auf, die erste Phase einer FSME (4). Bei 5 bis 15 Prozent dieser Patienten kommt es nach einiger Zeit zu einem Voranschreiten der Erkrankung, das heisst zu neurologischen Komplikationen, und «in zirka 1 Prozent der Fälle mit neurologischen Symptomen führt die Krankheit zum Tod», so das BAG (3). Impfskeptiker mag diese Risikokonstellation vielleicht noch nicht überzeugen. Prof. Martin Krause erinnerte an der Schweizer Impftagung an ein weiteres, häufiges Phänomen. Viele FSME-Patienten litten unter persistierenden Beschwerden: «Sie können nicht mehr zur Arbeit, funktionieren nicht mehr richtig, können sich nicht mehr konzentrieren.» Eine Studie im Thurgau ergab, dass 60 von 73 FSME-Patienten davon be-
troffen waren und zwar unabhängig vom Ausmass der Erkrankung. Das Phänomen trat gleichermassen bei allen FSME-Patienten auf, sowohl bei denjenigen, die nur über grippeähnliche Symptome klagten, als auch bei Patienten mit Meningitis oder Meningoenzephalitis (5). Gemäss einer im letzten Jahr publizierten Übersicht sind bis zu 46 Prozent der FSME-Patienten von persistierenden Folgen der Infektion wie kognitiven oder neuropsychiatrischen Beschwerden, Balancestörungen, Kopfschmerzen, Dysphasie, Hörstörungen oder spinalen Lähmungen betroffen (2).
FSME-Impfung
Die FSME-Impfung sei angesichts der bestehenden Risiken und der fehlenden Therapie «absolut gerechtfertigt», so Martin Krause. Man müsse letztlich auch bedenken, dass die Impfung zehn Jahre lang schützen soll, ein Zeitintervall, in dem man sicher mehr als einmal von einer Zecke gestochen werden könnte. Die in der Schweiz verfügbaren FSME-Impfstoffe schützen auch vor FSME-Viren im Ausland. Nach der zweiten Dosis weisen über 90 Prozent der geimpften Personen eine Serokonversion auf, nach der dritten Dosis sind es ≥ 97 Prozent. Die Erfahrungen aus Österreich, das mit einem speziellen Programm eine konsequente, praktisch flächendeckende FSME-Impfung erreichen konnte, spreche für eine gute klinische Wirksamkeit, sagte Krause. Zu den häufigen Nebenwirkungen der FSME-Impfung gehören lokale Reaktionen an der Injektionsstelle (30%) und grippeähnliche Symptome (10–20%). Sehr selten wurden Fälle von Enzephalitis und Lähmungen (Guillain-Barré) im Zusammenhang mit der Impfung berichtet, wobei die Frage der Kausalität offen ist. Gemäss einer Übersicht anhand der Daten der Schweizerischen Arzneimittel-Nebenwirkungs-Zentrale (SANZ) sind neurologische Störungen nach einer FSME-Impfung selten und reversibel (6). Man darf die Impfintervalle nicht verkürzen, eine Verlängerung ist jedoch möglich (s. Kasten). Bei Lieferschwierigkeiten kann man auch zwischen den beiden Produkten wechseln, muss dann aber das produktspezifische Intervall für das andere Produkt beachten.
28 5/15
IMPFUNGEN
Konkret bedeutet das beispielsweise, dass die dritte Impfung bei einem Wechsel von FSME-Immun® auf Encepur® erst nach neun Monaten und nicht nach fünf Monaten erfolgen sollte. Die FSME-Impfung kann zu jeder Jahreszeit gemacht werden. Sinnvollerweise beginnt man damit im Winter, um für die kommende Saison geschützt zu sein. Man sollte aber nicht auf den Winter warten: «Lieber impfen als warten», empfahl Martin Krause. Es besteht auch die Möglichkeit einer Schnellimmunisierung, falls die Zeit drängt (s. Kasten). Allerdings besteht ein zuverlässiger Impfschutz erst nach der zweiten Impfdosis. Nicht impfen sollte man hingegen nach einem Zeckenstich: «Die FSME-Impfung ist keine Inkubationsimpfung!» Auch bestehe die Gefahr, dass man die Symptome einer eventuell erfolgten FSME-Infektion als Impfnebenwirkung missdeute, so Martin Krause. Bevor man mit der Impfung nach einem Zeckenstich beginnt, sollte man drei Wochen warten. Da eine durchgemachte FSME eine potenziell lebenslange Immunität verleiht, ist die Frage offen, ob an FSME erkrankte Personen nach einigen Jahren noch geimpft werden sollten. Studien oder persönliche Erfahrungen gebe es für diese seltenen Fälle nicht, sagte Krause. Er würde eine Impfung nach einigen Jahren jedoch auch für diese Personen empfehlen.
Borreliose in der Schweiz
Mit Borrelien infizierte Zecken sind in der Schweiz weitverbreitet. Der Anteil infizierter Zecken wird mit bis zu 40 Prozent angegeben (4), möglicherweise ist er aber auch grösser. So sind im Thurgau 70 Prozent der Zecken mit Borrelien infiziert. Anders als bei der FSME gibt es für borrelientragende Zecken keine Endemiegebiete; unterhalb von 1200 Metern über Meereshöhe sind sie praktisch überall in der Schweiz zu finden. Wie häufig die Borreliose in der Schweiz ist, weiss man nicht ganz genau, da es sich im Gegensatz zur FSME nicht um eine meldepflichtige Erkrankung handelt. Man schätzt die Inzidenz der Borreliose in der Schweiz auf 30 bis 130 pro 100 000 Einwohner, wobei sich die allermeisten Fälle nur als Erythema migrans manifestieren (80–90% aller Lyme-Borreliosen); am seltensten ist die gefürchtete chronische Neuroborreliose mit schätzungsweise 60 bis 300 Fällen pro Jahr in der Schweiz (1% aller Lyme-Borreliosen) (4).
Warum gibt es keine Borrelienimpfung?
Rechtzeitig entdeckt, kann man eine Borreliose mit Antibiotika gut behandeln. Trotzdem stellt sich die Frage, warum es gegen diese Erkrankung keine Impfung gibt, wohl aber gegen die viel seltenere FSME. Die Gründe hierfür sind eher wirtschaftlich-juristischer als wissenschaftlich-medizinischer Natur. Auf der Grundlage von Forschungsergebnissen deutscher Wissenschaftler am Max-Planck-Institut in Freiburg im Breisgau und an der Universität Heidelberg wurden in den Neunzigerjahren in den USA zwei Impfstoffe entwickelt, LYMErix® und ImuLyme®. Beide wurden von der FDA zugelassen, aber nur LYMErix®
kam 1998 in den USA auf den Markt. Beide Impfstoffe beruhen auf demselben Prinzip: Sie induzieren Antikörper
Kasten:
FSME-Impfschema
gegen OspA (outer surface protein A), ein artspezifisches Oberflächenprotein der Borrelien. Diese Antikörper töten den Erreger in der infizierten Zecke, so-
Encepur® N (≥ 12 Jahre), Encepur® N Kinder (1–11 Jahre): 1. Injektion: Tag 0 2. Injektion: Monat 1 bis 3
bald diese Blut von geimpften Personen 3. Injektion: Monat 9 bis 12
saugt. Der Impfstoff war gut verträglich, Schnellimmunisierung:
der Impfschutz betrug in Studien 75 Prozent. Eine mittlerweile widerlegte Hypothese, dass die Impfung bei Personen mit einem bestimmten HLA-Typ autoimmune Arthritis induzieren könnte, führte in den USA schon bald zu entsprechenden Klagen vor US-Gerichten. Damit war der Ruf der Borrelienimpfung in den USA
1. Injektion: Tag 0 2. Injektion: Tag 7 3. Injektion: Tag 21 4. Injektion: Monat 12 bis 18 FSME-Immun® CC (≥ 16 Jahre); FSME-Immun® Junior (1–15 Jahre): 1. Injektion: Tag 0 2. Injektion: Monat 1 bis 3 3. Injektion: Monat 5 bis 12 Schnellimmunisierung:
dahin. Die Umsätze sanken drastisch. 1. Injektion: Tag 0
Aus diesem Grund nahm der Hersteller SmithKline Beecham LYMErix® 2002 vom Markt. Eine Rolle dürfte dabei auch gespielt haben, dass die Impfung in den USA nicht als Routineimpfung anerkannt wurde, sodass Impfschäden nicht durch das US-amerikanische National Vaccine Injury Compensation Program gedeckt worden wären (7).
2. Injektion: Tag 14 3. Injektion: Monat 5 bis 12 EKIF und BAG empfehlen die Impfung für alle Personen mit Expositionsrisiko (ein Tag Aufenthalt in einem Endemiegebiet genügt) ab einem Alter von 6 Jahren; bei Bedarf ist eine frühere Impfung möglich. Die Auffrischimpfung sollte gemäss EKIF und BAG bei weiterhin bestehendem Expositionsrisiko nach 10 Jahren erfolgen.
Seitdem hat kein anderer Hersteller ge-
wagt, erneut einen Borrelienimpfstoff auf den Markt
zu bringen. In Europa hat das Unternehmen Baxter in
den letzten Jahren eine Studie mit einem neuen Impf-
stoff durchgeführt, der gegen die OspA-Varianten der
vier in Europa vorkommenden Burgdorferispezies
wirksam ist. Die multizentrische Studie mit 350 Per-
sonen in Deutschland und Österreich wurde kürzlich
mit Erfolg abgeschlossen (8). Ob und wann der Impf-
stoff auf den Markt kommen wird, ist nicht bekannt.
Auch andere Wege der Borrelienbekämpfung werden
mittlerweile evaluiert. So versuche man in den USA,
wildlebende Nager wie Mäuse mit Ködern gegen
OspA zu immunisieren, in der Hoffnung, damit lang-
fristig die Borrelien zurückzudrängen, berichtete Mar-
tin Krause an der Schweizer Impftagung. Vermutlich
Erfolg versprechender scheint der Ansatz zu sein, An-
tikörper gegen Zeckenspeichel zu induzieren, die
dann möglicherweise auch vor anderen von Zecken
übertragenen Krankheiten schützen könnten. Doch
das ist noch Zukunftsmusik.
Renate Bonifer
Vortrag von Prof. Martin Krause, Münsterlingen, an der Schweizer Impftagung am 7. November 2014 in Biel sowie die folgenden Referenzen.
Literatur: 1. BAG Bulletin Nr. 16 vom 15. April 2015. 2. Schuler M et al.: Epidemiology of tick-borne encephalitis in Switzerland, 2005 to 2011. Euro Surveill 2014; 19 (13): pii=20756. www.eurosurveillance.org/ViewArticle. aspx?ArticleId=20756. 3. www.bag.admin.ch, Stand: 20. August 2015. 4. www.medix.ch, Guideline Zeckenübertragene Krankheiten 5/2015. 5. Schwanda M et al.: Die Frühsommer-Meningoenzephalitis im Kanton Thurgau: eine klinisch-epidemiologische Analyse. Schweiz Med Wochenschr 2000; 130: 1447–1455.
5/15
29
IMPFUNGEN
6. Koller Doser A et al.: Vermutete neurologische Nebenwirkungen der FSME-Impfung: Erfahrung der Schweizerischen Arzneimittel-Nebenwirkungs-Zentrale (SANZ). PRAXIS 200; 91 (5): 159–162. 7. Willyard C: Resurrecting the «yuppie vaccine». Nature Medicine 2014; 20: 698–701. 8. Wressnigg N et al.: A novel multivalent OspA vaccine against Lyme borreliosis is safe and immunogenic in an adult population previously infected with Borrelia burgdorferi sensu lato. Clin Vacc Immunol 2014; 21 (11): 1490–1499. 9. Heininger U: Schutz for FSME – Update 2015. ARS MEDICI 2014; 104 (24): 1251– 1253.
30 5/15