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EDITORIAL
I n diesem Heft werden Ihnen sechs Kasuistiken vorgestellt, mehrheitlich von Kollegen geschrieben, die am Anfang ihrer ärztlichen Tätigkeit stehen. Im Klinikalltag sind es meist sie, die im Erstkontakt mit den besorgten Eltern stehen, die in der Chefarztvisite bezüglich der Differenzialdiagnosen befragt werden und die Ihnen schliesslich als Haus- und Kinderärzte in einem möglichst konzisen Bericht über Krankheits- und Behandlungsverlauf ihrer Patienten berichten. Für viele von ihnen ist es zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden, ob sie später einmal in der Erstversorgung in der Praxis, im Spital oder in der wissenschaftlichen Arbeit ihre berufliche Befriedigung suchen und hoffentlich finden werden.
überfordert, der beschriebene Harnröhrenprolaps bei einem jungen Mädchen war der erstbetreuenden Kollegin wahrscheinlich noch nie begegnet, da er mehrheitlich bei Frauen nicht weisser Ethnie auftritt, das Guillain-Barré-Syndrom wurde durch seltene Zusatzsymptome und das Ausbleiben erwarteter Laborwerte zunächst nicht als solches erkannt. Obwohl man früh in der Ausbildung lernt, dass Borrelien für fast jedes Krankheitsbild verantwortlich sein können, denkt auch der erfahrene Pädiater bei einer akuten Hemiparese nicht primär an ein solch komplexes infektiologisch-immunologisches Geschehen, und bei einem West-Syndrom lehrt erst die Erfahrung, dass sich die typischen Blitz-Nick-Salaam-
Dr. med. Oswald Hasselmann, Ostschweizer Kinderspital, KER-Zentrum, St. Gallen oswald.hasselmann@kispisg.ch
Fallberichte vermitteln Aha-Erlebnisse
Entscheidend für die Qualität ihrer ärztlichen Arbeit ist ihre Begleitung durch berufserfahrenere ältere Kollegen, die ihnen helfen, die primäre Krankheitssymptomatik sowohl in ihrer individuellen als auch in ihrer grundsätzlichen Dynamik zu verstehen. So standen unseren jungen Autoren auch in dieser Ausgabe jeweils ältere als Koautoren zur Seite. Alle Kasuistiken waren auf den ersten Blick nicht eins zu eins in ihr bis dahin erworbenes Lehrbuchwissen einzuordnen. Im Falle des Kawasaki-Syndroms war die Symptomatik «inkomplett», beim PFAPA-Syndrom waren die Kollegen im Spital möglicherweise bei der Auswahl der vielen Differenzialdiagnosen
Anfälle nur schrittweise in Richtung der pathognomonischen Symptomatik entwickeln. William Osler (1849–1919) lehrte seinen Studenten während seiner Zeit an der Johns-HopkinsUniversität nicht nur die Patienten in ihrer jeweiligen Individualität wahrzunehmen: «Don’t tell me what type of disease the patient has, tell me what type of patient has the disease!», sondern er führte auch das «bedside teaching» mit besonderer Wertschätzung der Einzelkasuistik ein. In dieser Tradition wünschen wir Ihnen und uns weiterhin viele Aha-Erlebnisse, wenn sich Symptome anders als erwartet präsentieren.
Oswald Hasselmann
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