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PHARMAKOLOGIE
Selbstmedikation und Adhärenz in der Pädiatrie
Ein wichtiger Faktor im Umgang mit Selbstmedikation und Adhärenz ist die Kommunikation zwischen Fachpersonen und Familien. Vertrauensvolle Beziehungen zwischen Fachpersonen und Patienten, verständliche Erklärungen von Dosierung und Begründungen für die Wahl der Behandlung sowie Hinweise auf mögliche Auswirkungen von Unter- und Überdosierungen können im Idealfall den Therapieerfolg maximieren und unerwünschte Wirkungen verhindern.
Von Franziska D. Weber, Julia Bielicki, Frédérique Rodieux, Johannes N. van den Anker und Marc Pfister
Ein Ehepaar stellt sich mit seinen beiden Kindern in der Kinderarztpraxis vor. Luise, 5 Jahre alt, und Max, 18 Monate alt, leiden seit drei Tagen unter Schnupfen, Husten und Fieber. Die Eltern berichten, dass sie bereits folgende Medikamente verabreicht haben: Fieberzäpfchen in zwei verschiedenen Stärken, abschwellender Nasenspray (es war noch ein Produkt der Mutter zu Hause vorhanden), Fiebersirup. Genaue Angaben zur Gabe der Antipyretika im Verlauf der letzten 24 Stunden (Frequenz und Tagesdosis) können die Eltern nicht machen, da Luise und Max tagsüber jeweils bei ihrer Tagesmutter waren.
Selbstmedikation bei Kindern und Jugendlichen
Selbstmedikation ist die eigenständige Auswahl und Benutzung von Arzneimitteln, inklusive alternativmedizinischer Medikamente, zur Behandlung von selbst diagnostizierten Symptomen und Erkrankungen (1). In Europa wird Selbstmedikation bei Kindern am häufigsten für Erkrankungen des Respirationstraktes wie im obigen Beispiel, bei Kopfschmerzen oder MagenDarm-Beschwerden angewendet. Von den Arzneimittelgruppen werden Vitaminpräparate, Arzneimittel gegen Schmerz oder Fieber sowie Husten- und Erkältungsmedikamente am häufigsten ohne Verordnung eingesetzt. In einer in Deutschland durchgeführten epidemiologischen Studie kam es bei 25 Prozent der Kinder und Jugendlichen in der vorhergehenden Woche mindestens zu einer Episode von Selbstmedikation. Dabei waren 40 Prozent aller eingenommenen Medikamente nicht von einer Fachperson verschrieben, und diese beinhalteten alle Medikamentenklassen, insbesondere Arzneimittel, die auf den Respirationstrakt (32,1%), das Verdauungssystem (21,6%), die Haut
(14,2%) oder das Nervensystem (11,3%) einwirken, wie auch homöopathische Präparate (8,6%) (2). Selbstmedikation ist weit verbreitet und hängt mit einer Reihe von Faktoren zusammen, beispielsweise der Struktur des Gesundheitssystems im jeweiligen Land und dem Wohlstand der Bevölkerung (3). In Ländern mit gut strukturierten Gesundheitssystemen wird Selbstmedikation vor allem bei wohlhabenderen Bevölkerungsschichten beobachtet. Dabei sind ein hohes Bildungsniveau und ein besserer Zugang zu Informationen via Internet mit einem erhöhten individuellen Interesse an der eigenen Gesundheit verbunden, und die Nachfrage nach einer persönlichen Teilnahme an Therapieentscheidungen ist gross (1). Zudem bevorzugen Verbraucher die Bequemlichkeit und die Zeitersparnis der leichten Zugänglichkeit von Arzneimitteln, die ohne Verschreibung erhältlich sind, gegenüber Wartezeiten an Kliniken oder anderen Gesundheitseinrichtungen (1, 3). In vielen Ländern wird eine wachsende Tendenz der Selbstmedikation beobachtet. Als Ursache für diese Entwicklung werden je nach Land mitunter folgende drei Faktoren verantwortlich gemacht: mangelndes Vertrauen in das Gesundheitssystem, umfangreiche Werbung und rasche Verfügbarkeit von Arzneimitteln (1, 3). Im Falle einer selbstlimitierenden Erkrankung, so wie bei Luise und Max, wird die Selbstmedikation häufig auch durch Fachpersonal unterstützt und angeraten.
Mögliche Auswirkungen der Selbstmedikation
Selbstmedikation wie im obigen Beispiel erlaubt Familien häufig, die Auswirkungen von körperlichen Beschwerden ihrer Kinder auf den Alltag zu minimieren. Dabei gibt es reelle, dem Verbraucher häufig nicht bewusste Risiken der Selbstmedikation, beispielsweise
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Selbstmedikation ist weit verbreitet, Risiken sind den Eltern aber häufig nicht bewusst.
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Bei der Selbstmedikation sind Verabreichungsfehler nicht selten.
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Abbildung 1: Beziehung zwischen Dosis sowie therapeutischen und unerwünschten Wirkungen eines Arzneimittels
Kurve beschreibt die zunehmende therapeutische Wirkung mit steigender Dosis, während die zweite Kurve die zunehmend toxische Wirkung bei steigender Dosis darstellt. Die Fläche zwischen diesen beiden Kurven entspricht dem therapeutischen Fenster, welches idealerweise so gross ist, dass beide Kurven möglichst nicht oder nur wenig überlappen. Im Bereich der Selbstmedikation ist vor allem eine Überdosierung gefährlich, während bei niedriger oder fehlender Adhärenz eine Unterdosierung und somit eine reduzierte oder ausbleibende therapeutische Wirkung zu erwarten ist.
unerwünschte, toxische Wirkungen, allergische Reaktionen, Interaktionen mit anderen Medikamenten, Selektion resistenter Keime bei Antibiotikabehandlungen sowie verzögerte Heilungsprozesse (3). Luise und Max haben von ihren Eltern Paracetamolhaltige Produkte erhalten. Dabei ist die Anwendung von Produkten unterschiedlicher Stärken, wie bei Geschwistern häufig, eine potenzielle Fehlerquelle und Ursache für Überdosierungen, insbesondere wenn mehrere Betreuungspersonen diese verabreichen. Dementsprechend ist Paracetamol in Nordamerika und Grossbritannien mit einem Anteil von 14 Prozent die häufigste Ursache für akutes Leberversagen in der Pädiatrie (4). Bei betroffenen Kindern waren häufig Fehler in der Verabreichung festzustellen: • Einnahme von mehr als der empfohlenen Dosie-
rung, • erhöhte Dosierungsfrequenz (empfohlen ist eine
Frequenz von 4 bis 6 Stunden) oder • verlängerte Therapiedauer. Von den Betreuern genannte Gründe, die zu Dosierungsfehlern führten, waren: • Verpackungsanweisung nicht gelesen oder falsch
verstanden, • Nutzung fehlerhafter Messbecher, • Verwendung von Konzentrationen, die von den vor-
geschriebenen abweichen, • Einnahme von für Erwachsene vorgesehenen Ta-
bletten sowie • Unwissen, dass Paracetamol in vielen Husten-/Er-
kältungssäften enthalten ist (4). Bei Luise und Max wäre es wichtig, genauere Angaben zu den Antipyretika zu erhalten, um das Risiko einer Überdosierung von Paracetamol vermeiden zu können.
Das therapeutische Fenster
Eine Herausforderung bei der Selbstmedikation ist der Umgang mit Medikamenten, die ein schmales «therapeutisches Fenster» aufweisen. Das therapeutische Fenster definiert den optimalen Wirkungsbereich einer Behandlung. Die niedrigste einzusetzende Dosis soll garantieren, dass die gewünschte therapeutische Wirkung erreicht wird, gleichzeitig muss die höchste einzusetzende Dosis sicherstellen, unerwünschte, toxische Wirkungen zu vermeiden. Die Dosis-Wirkungs-Beziehung der Behandlungen kann grafisch dargestellt werden (Abbildung 1). Die erste
Adhärenz in der Kinder- und Jugendmedizin
Überlegungen zur Therapieadhärenz ähneln denen zur Selbstmedikation darin, dass es sich bei beiden um Aspekte der Anwendung von Medikamenten direkt durch den Verbraucher handelt. Die WHO definiert Adhärenz als das Ausmass, in dem ein Individuum einer vom Therapeuten empfohlenen Medikamenteneinnahme, Diät oder Lebensstiländerung folgt (5). Ein Patient gilt als nicht adhärent, wenn er weniger als 80 Prozent der verschriebenen Medikation einnimmt (6). Die Therapieadhärenz ist häufig erstaunlich niedrig. In Industrieländern liegt sie im Bereich von nur 50 Prozent und ist noch geringer in Schwellen- und Entwicklungsländern (5, 7). Eine fehlende Adhärenz betrifft vor allem Patienten mit chronischen Erkrankungen wie zystischer Fibrose, Epilepsie und Diabetes mellitus. In dieser Gruppe ist aufgrund der langwierigen Behandlung, der hohen Anzahl an Medikamenten sowie multiplen symptomatischen Remissionen die Adhärenz bei bis zu 70 Prozent der Patienten reduziert (8). Der häufigste Grund für fehlende Adhärenz ist das Vergessen der Medikamenteneinnahme. Es spielen aber auch das gezielte Absetzen wegen unerwünschten Wirkungen, eine hohe Einnahmefrequenz oder häufige Wechsel von Behandlungsstrategien eine Rolle (9). Des Weiteren können bei Kindern eine suboptimale Kommunikation über die vorliegende Erkrankung, fehlendes Vertrauen in die Wirksamkeit der Therapie, die Angst vor unerwünschten Wirkungen wie auch das Fehlen kindgerechter Applikationsformen die Adhärenz beeinträchtigen (8, 10). Dabei sind ein bitterer oder unangenehmer Geschmack sowie nicht kindgerechte Darreichungsformen bei der Verabreichung von Medikamenten an junge Kinder besonders problematisch. In einer Studie mit 18 Elternpaaren von Kindern, die eine antiretrovirale HIV-Therapie erhielten, berichteten 78 Prozent der Eltern über Schwierigkeiten bei der Medikamenteneinnahme, wobei der Geschmack (bitter) mit 44 Prozent einen der häufigsten Gründe hierfür darstellte. Ein zusätzlicher Faktor, der die Adhärenz beeinflussen kann, ist die Tageszeit der Verabreichung, wobei in einer Studie eine Einnahme morgens mit einer Adhärenz von weniger als 80 Prozent den schlechtesten Zeitpunkt darstellte (11). Gewiss ist eine Einnahmefrequenz, die wiederholte Dosen im Verlauf des Tages notwendig macht, für die Eingliederung der Medikamentengabe in den Alltag und somit für eine optimale Adhärenz problematisch.
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Mögliche Auswirkungen einer reduzierten Adhärenz
Auch bei einer korrekten Diagnosestellung und Therapie kann mangelnde Adhärenz in gewissen Einzelfällen zu einem fehlenden Therapieerfolg führen. Daher ist die Adhärenz ein äusserst wichtiger Faktor im therapeutischen Prozess. In der Pädiatrie gibt es einige Beispiele chronischer Erkrankungen, bei denen fehlende Adhärenz mit ungünstigen Krankheitsverläufen einhergeht (12). Beispielsweise verringert die präventive Behandlung mit inhalativen Steroiden bei Asthma bronchiale die Frequenz von Exazerbationen und Krankenhauseinweisungen. Verständliche, aber zum Teil unbegründete Bedenken der Eltern gegenüber den steroidalen Nebenwirkungen führen hingegen häufig zum Stopp der regelmässigen Anwendung (13). Ein verringertes Auftreten an diabetischer Ketoazidose durch eine adäquate Insulintherapie bei Diabetes mellitus (14) oder ein Wiederkehren der Leukämie durch nicht adhärente Einnahme oraler Chemotherapeutika (15), Organabstossungen bei Nichteinhalten einer immunsuppressiven Therapie im Bereich von Organtransplantationen (16) oder steigende Viruslast bei fehlender antiretroviraler Therapie bei HIV (12, 17) sind weitere Beispiele ungünstiger Auswirkungen fehlender Adhärenz. Die Messung der Adhärenz eines Patienten ist insbesondere bei Kindern eine Herausforderung. Die drei erfolgreichsten indirekten Methoden in der Bewertung der Adhärenz sind «pill count», standardisierte Fragebögen (Berichterstattung des Patienten selbst und/oder direktes Interview) und das elektronische Überwachen der Entnahme von Tabletten aus dem Behälter (Medication Event Monitoring System [MEMS], Aprex Corp., Union City, CA, USA). Mikroelektronische Geräte stellen die exakteste Möglichkeit zur Messung der Adhärenz dar, sind jedoch auch die kostenintensivste und komplizierteste Methode und daher in der Regel nicht alltagstauglich. Im Rahmen von Studien besteht ihr Vorteil darin, dass Zeit und Datum jeder Medikamentenentnahme über Jahre aufgezeichnet werden können (17). Beim «pill count» werden die Tabletten in der Verpackung gezählt, die beim nächsten Arztbesuch zurückgebracht wurden. Die Adhärenz wird dann mittels einer Formel (genommene Tabletten/verschriebene Anzahl x 100) prozentual bestimmt (18). Diese Methode erlaubt keine Rückschlüsse auf Zeit und Datum der Einnahme und ist möglicherweise fehleranfälliger als mikroelektronische Erfassungen. Daneben gibt es auch noch direkte Methoden zur Messung der Adhärenz, wie zum Beispiel Bestimmung von Medikamenten- oder Biomarkerspiegel im Blut oder anderen Körperflüssigkeiten (17).
Selbstmedikation und Adhärenz bei der Off-label-Anwendung
Selbstmedikation oder fehlende Adhärenz kann die Variabilität des Medikamentenspiegels erhöhen und dadurch das Erreichen der optimalen Wirkung im therapeutischen Fenster erschweren. Dieses Problem wird in der Kinderheilkunde häufig dadurch verstärkt, dass viele Arzneimittel eingesetzt werden, welche in dieser Patientengruppe nicht oder unzureichend kli-
nisch getestet wurden. Dies wird als Off-label-Einsatz von Medikamenten bezeichnet. Sie ist definiert als die therapeutische Anwendung von Medikamenten in einem anderen Indikationsgebiet, einer anderen Dosierung oder Personengruppe als von der Arzneimittelbehörde zugelassen (19, 20). Auf pädiatrischen Intensivstationen sind bis zu 90 Prozent der verordneten Medikamente nicht auf die Zielgruppe zugelassen, auf anderen Stationen 30 bis 70 Prozent und im ambulanten Bereich 10 bis 20 Prozent (21, 22). In der Pädiatrie werden im Vergleich von On-label-Behandlungen bei Off-label-Anwendungen deutlich häufiger unerwünschte Wirkungen beobachtet (3,4% versus 1,4%) (23, 24). Bei Neugeborenen und Kindern ist in vielen Fällen weder bekannt, welche Dosis zu welcher Plasmakonzentration noch welche Konzentration zu welchem Effekt (therapeutisch oder toxisch) führt (Abbildung 2). Der grosse Prozentsatz an Off-label-Einsatz von Arzneimitteln macht deutlich, wie wichtig ein besseres Verständnis der pädiatrischen Pharmakologie im Zusammenhang mit dem erhöhten Risiko für unerwünschte, toxische Wirkungen ist (25–28).
Die Rolle der klinischen Pharmakologie und Pharmakometrie
Die klinische Pharmakologie zielt auf eine sichere und effektive Anwendung von Medikamenten in der Humanmedizin ab. Möglichkeiten neuer Arzneitherapien werden zunächst experimentell im Labor erforscht. Hat man ein neues therapeutisches Prinzip oder Molekül entdeckt, wird dieses stufenweise untersucht. Zunächst wird durch die vorsichtige Anwendung des potenziellen Arzneimittels an einer kleinen Gruppe freiwilliger gesunder Probanden die Sicherheit und Verträglichkeit gezeigt. Wirksamkeit und Sicherheit von verschiedenen Dosierungen werden anschliessend in klinischen Patientenstudien überprüft und optimiert. Erst bei bestätigter Wirksamkeit und Sicherheit wird die Zulassung des neuen Arzneimittels bei den Arzneimittelbehörden beantragt. Auch nach dieser Zulassung bleibt die Untersuchung und Optimierung klinischer Anwendungen eine Hauptaufgabe des klinischen Pharmakologen (29).
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Abbildung 2: Zusammenhang zwischen Dosierung und Konzentration (oben) sowie zwischen Konzentration und Wirkung eines Arzneimittels (unten). Die gleiche Dosis führt zu unterschiedlichen Medikamentenspiegeln im einzelnen Individuum und trägt damit auch zu Variabilität in der Wirkung bei.
Die Therapieadhärenz ist erstaunlich niedrig.
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Abbildung 3: Beziehung zwischen Medikamentendosis, Adhärenzverhalten, Medikamentenspiegel und klinischem Verlauf (16).
Pharmakometrie ist eine
wissenschaftliche Fachrich-
tung, die den Zusammen-
hang zwischen Dosierungen,
gemessenen Medikamenten-
spiegeln im Körper und thera-
peutischen oder toxischen
Wirkungen von Medikamen-
ten mit mathematisch-stati-
stischen Computermodellen
beschreibt. Die Pharmako-
kinetik beschreibt die Auf-
nahme, Verteilung und Elimi-
nation eines Arzneimittels im
Körper, während die Pharma-
kodynamik Wirkungen des
Abbildung 4: Schritte zur Prävention fehlerhafter Selbstmedikation und reduzierter Adhärenz in der Pädiatrie
Arzneimittels auf den Menschen beschreibt.
Die Analyse wiederholter
Blutproben zur Darstellung
der Pharmakokinetik eines Medikaments ist bei Kin-
dern aufgrund der Problematik häufiger Blutentnah-
men eine Herausforderung. Die Anwendung pharma-
kometrischer Computermodelle, die es erlauben, mit
spärlichen Daten populationskinetische und -dynami-
sche Studien durchzuführen, hat sich daher speziell in
der Pädiatrie bewährt. In pharmakologischen Popula-
tionsanalysen werden Kinetik und Dynamik aller
Individuen gemeinsam als Population mit mathema-
tisch-statistischen Modellen beschrieben (30). Ein
wichtiger Teil solcher Populationsanalysen ist es, Un-
terschiede zwischen Kindern (sogenannte interindivi-
duelle Variabilität) durch den Einfluss von Kovariaten
zu erklären (30). Typische Kovariaten in der Pädiatrie
sind Gewicht, Alter, genetische Faktoren, Krankheits-
zustand und -verlauf sowie Reifungsgrad von Leber
und Nieren.
Suboptimale Medikamentenadhärenz stellt ebenfalls
eine Hauptursache der klinischen Variabilität der
Wirksamkeit von Medikamenten dar (17). Die Bezie-
hung zwischen Medikamentendosis, Adhärenzverhal-
ten, Medikamentenspiegel und klinischem Verlauf
kann ebenfalls mittels pharmakometrischer Analysen
beschrieben werden (Abbildung 3). Als Beispiel erga-
ben Computersimulationen, basierend auf Daten von
Patienten nach Nierentransplantation, bei denen die
Cyclosporin-Adhärenz mittels der MEMS-Methode
gemessen wurde, vier unterschiedliche Adhärenzka-
tegorien (16):
Patienten, die Cyclosporin zur richtigen Zeit einnah-
men, diejenigen, die es zu spät einnahmen und einige
Dosen ausliessen, diejenigen, die es selten zeitge-
recht nahmen und diejenigen, die die Einnahme oft
vermieden (31).
Des Weiteren besteht ein Zusammenhang zwischen
dem Adhärenzverhalten, dem Erreichen von Zielcyclosporinspiegel im therapeutisches Fenster und dem Risiko der Abstossung der transplantierten Niere (16). Je nach Grund für die fehlende Adhärenz können unterschiedliche Interventionen notwendig sein. Ein wichtiger Faktor im Umgang mit Selbstmedikation und Adhärenz ist die Kommunikation zwischen Fachpersonen und Familien. Vertrauensvolle Beziehungen zwischen Fachpersonen und Patienten, verständliche Erklärungen von Dosierung und Begründungen für die Wahl der Behandlung sowie Hinweise auf mögliche Auswirkungen von Unter- und Überdosierungen können im Idealfall den Therapieerfolg maximieren und unerwünschte Wirkungen verhindern. Der unzureichenden Charakterisierung des therapeutischen Fensters bei Kindern (im On- oder Off-labelBereich) zu begegnen, ist Aufgabe der klinischen Pharmakologie. Gezielte Evaluationen können Informationen liefern, die Variationen in der Anwendung und Dosierung von Arzneimitteln durch medizinische Fachpersonen reduzieren und somit grössere Klarheit für betreuende Personen schaffen und das Risiko für Unter- oder Überdosierungen reduzieren. Sicher und wirksam zu therapieren, Verschreibungen zu standardisieren und Dosierungsstrategien für Kinder zu optimieren, ist eine grosse Herausforderung für pädiatrisches und pharmakologisches Fachpersonal. Dabei ist es entscheidend, dass Ärzte, Apotheker, Spitäler, Universitäten und Familien zusammenarbeiten, mit dem Ziel, gemeinsam • Wissenslücken bezüglich Kinderdosierungen zu
identifizieren, • diese mit gezielten, sicheren pädiatrischen Studien
zu schliessen, • das therapeutische Fenster mittels quantitativen
pharmakologischen und pharmakometrischen Methoden zu charakterisieren, • altersgerechte, individualisierte Dosierungen mit Hilfe von Computersimulationen zu ermitteln, • Dosierungsstrategien auf nationaler und internationaler Ebene zu standardisieren und Label für Neugeborene und Kinder zu optimieren sowie • Fachpersonal, Kinder und ihre Eltern regelmässig über klinische Auswirkungen von Über- und Unterdosierungen im Zusammenhang mit Selbstmedikation und suboptimaler Medikamentenadhärenz zu informieren (Abbildung 4).
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Marc Pfister, MD FCP Professor of Systems Pharmacology and Pharmacometrics Vice Chair Paediatric Pharmacology Universitätskinderspital beider Basel (UKBB) Spitalstrasse 33 4031 Basel E-Mail: marc.pfister@ukbb.ch
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