Transkript
Ein doppeltes Tabu
Chronische Krankheiten, Behinderung und Sexualität
SCHWERPUNKT
Obwohl Kinder und Jugendliche mit chronischen Krankheiten oder einer Behinderung meist regelmässig beim Arzt sind, wird der mitunter verzögerte Eintritt der Pubertät bei ihnen häufig übersehen. Auch die Sexualberatung ist bei ihnen oft mangelhaft. Dr. med. Ruth Draths informierte am SGP-Kongress in Interlaken über wichtige Aspekte der «vergessenen Pubertät» bei Mädchen mit Behinderungen und/oder chronischen Krankheiten.
Chronische Krankheiten können zu einer verzögerten pubertären Entwicklung oder einem Entwicklungsstillstand führen. Aufmerksam sein muss man insbesondere bei Kindern nach einer Krebserkrankung, bei chronischen Krankheiten (z.B. Herzfehler, zystische Fibrose) sowie bei Adoleszenten mit Behinderungen oder speziellen seltenen Erkrankungen. Eine gestörte Pubertätsentwicklung zeigt sich bei Mädchen unter anderem in einer fehlenden Brustentwicklung, mit primärer oder sekundärer Amnorrhö oder in einer erniedrigten Knochendichte. Besonders wichtig seien jedoch die Einflüsse auf die psychosoziale und sexuelle Entwicklung, betonte Dr. med. Ruth Draths, Leitende Ärztin an der Neuen Frauenklinik Luzern, mit eigener Praxis in Sursee. «Jeden Tag, wenn ich in den Spiegel schaue, werde ich an meine Krankheit erinnert», so beschrieb es ihr einmal eine junge Frau, die sich ihre Brüste nach erfolgloser Hormontherapie schliesslich chirurgisch aufbauen liess. Die Referentin warnte davor, bei Mädchen mit chronischen Krankheiten oder Mädchen mit einer Behinderung die Pubertät zu «vergessen». Schliesslich sei die Pubertät nur eine sehr begrenzte Zeit, in der sich der Körper weiterentwickeln kann. Falls diese Entwicklung nicht normal verläuft, müsse man etwas unternehmen. Dabei ginge es um viel mehr als nur um die Menstruation oder die Brustentwicklung, so Draths: «Es geht auch um die psychische Gesundheit. Es ist nicht gerechtfertigt, einem jungen Menschen die pubertäre Entwicklung vorzuenthalten.»
zum Frauenarzt gehen», denn die normale gynäkologische Untersuchung war für diese 17-Jährige äusserst schmerzhaft gewesen. Vulva und Scheideneingang entsprachen noch der eines vorpubertären Mädchens. Erst unter dem Einfluss des Östrogens wird das Hymen weich und elastisch. Um den Entwicklungsstand festzustellen und den Einfluss der Hormonbehandlung zu überprüfen, braucht es jedoch keine übliche gynäkologische Untersuchung, sondern nur die Inspektion des äusseren Genitales sowie die transabdominale Sonografie – beides völlig schmerzfrei. Unter dem Einfluss eines transdermalen Östrogens wurde die junge Frau «Schritt für Schritt in die Pubertät begleitet» und die Entwicklung der inneren Geschlechtsorgane sonografisch verfolgt. Eine sequenzielle Gestagengabe komme hinzu, sobald das Endometrium über 8 bis 10 mm dick ist, die Menarche einsetzt oder spätestens nach zwei Jahren Östrogen, so
Hormontherapie zur Einleitung der Pubertät
Am Beispiel einer 17-Jährigen mit zystischer Fibrose, die noch keinerlei Anzeichen für das Einsetzen der Pubertät aufwies, erläuterte Draths wie eine Hormontherapie durchgeführt werden kann und wie deren Wirkung ist. Bevor die junge Frau in ihre Praxis kam, hatte sie leider bereits eine schlechte Erfahrung bei einem Gynäkologen hinter sich und «wollte gar nicht mehr
Abbildung 1: Tannerstadien Brust und Pubesbehaarung
4/15
25
SCHWERPUNKT
Abbildung 2: Schema der Uterusgrösse und -reife
Draths. Die Kombinationspille zur Verhütung sollte frühestens ab dem Tanner-Stadium B4 eingesetzt werden.
Verhütung nicht vergessen
Die Probleme bei Mädchen mit chronischen Erkrankungen und/oder Behinderung betreffen aber nicht nur eine möglicherweise verzögert eintretende Pubertät. Die Verhütung ist ein Thema, das leider auch allzu oft «vergessen» wird. «Die chronisch kranken Mädchen und Jungen fallen häufig durchs Netz», sagte Draths. Sie fühlten sich von den üblichen Kampagnen und Ratgeberbroschüren nicht angesprochen, und nicht wenige Mädchen glaubten gar, dass sie wegen einer Krankheit wie beispielsweise zystischer Fibrose gar nicht schwanger werden könnten. Das hat Folgen. Studien zeigen, dass Jugendliche mit zystischer Fibrose im Vergleich mit gesunden Jugendlichen seltener Kondome oder eine andere Form der Verhütung anwenden und es zu mehr ungeplanten oder unerwünschten Schwangerschaften kommt. Auch sexuell übertragbare Krankheiten (Chlamydien, Gonorrhö) sind bei ihnen häufiger. Zyklusstörungen und Zwischenblutungen könnten Anzeichen einer Chlamydieninfektion sein, die man nicht verpassen dürfe, vor allem bei Mädchen mit chronischen Erkrankungen oder eingeschränkter Immunabwehr, betonte Draths. Auch gelte es, gerade diese Jugendlichen dringend rechtzeitig auf die HPVImpfung hinzuweisen.
Lebensbedrohliche Schwangerschaft
Kinder mit angeborenen Herzkrankheiten erleben heute eher das Erwachsenenalter. Bezüglich sexueller Aktivität, sexuellem Risikoverhalten und ungeschütztem Geschlechtsverkehr unterscheiden sich Jugendli-
BUCHTIPP
Für Jugendliche und Eltern Vergessene Pubertät: Sexualität und Verhütung bei Jugendlichen mit einer chronischen Krankheit oder Behinderung. Von Ruth Draths. 160 Seiten, kartoniert. ISBN 978-3-456-85123-5. Verlag Hans Huber, Bern, 2012. Anliegen des Buches ist es, Jugendliche und auch ihre Eltern und Betreuungspersonen früh und ausführlich zu informieren; medizinische Hintergrundinformationen sind besonders hervorgehoben – sodass auch Fachleute in der Beratung von Jugendlichen mit speziellen Bedürfnissen profitieren können. Mit dem Kauf dieses Buches wird ein Präventionsprojekt für Jugendliche unterstützt (www.firstlove.ch).
che mit angeborenen Herzkrankheiten nicht von anderen Jugendlichen, sie beginnen mit der sexuellen Aktivität eher noch früher. Je nach Herzvitium kann eine ungeplante Schwangerschaft jedoch lebensgefährlich sein und sollte unbedingt verhindert werden, dies fordere auch die WHO, so Draths. Für Frauen mit pulmonal-arterieller Hypertonie oder schwerer Linksherzinsuffizienz sind Schwangerschaften extrem gefährlich: Die Müttersterblichkeit liegt hier bei 25 bis 40 Prozent. Das Risiko beginnt schon in der frühen Schwangerschaft, sodass die Mortalität trotz Schwangerschaftsabbruch mit 7 Prozent «extrem hoch» sei, sagte Draths. Die mit einer Schwangerschaft verbundenen Risiken seien jedenfalls immer höher als das Risiko jeglicher kontrazeptiven Methode: «Wir haben immer Angst, etwas falsch zu machen, aber nichts zu machen ist der grössere Fehler.» Die Frauen benötigen eine sorgfältige und individuelle Kontrazeptionsberatung. Häufig seien implantierte Depotpräparate geeignet.
Beraten, beraten und nochmals beraten
Umfragen unter Adoleszenten mit zystischer Fibrose ergaben, dass diese Jugendlichen bereits ab einem Alter von 12 bis 13 Jahren ein Gespräch mit ihrem Arzt über Pubertät, Sexualität, Fertilität und Verhütung führen möchten. Die Eltern von Kindern mit zystischer Fibrose wünschen ärztliche Informationen zu diesem Thema noch früher, nämlich bereits für ihre 9bis 10-jährigen Kinder. Fertilität sei für diese Mädchen ein sehr wichtiges Thema, sagte Draths. Der Kinderwunsch beschäftige sie oft viel früher als die gesunden Mädchen oder Frauen; vermutlich auch, weil sie aufgrund ihrer Erkankung schon früher mit zentralen Fragen des Lebens konfrontiert werden. Doch neben Fragen zu Fertilität und Verhütung sollten auch andere, «peinliche» Dinge zur Sprache kommen. So leiden viele Mädchen mit zystischer Fibrose aufgrund der häufigen Hustenanfälle schon früh unter Inkontinenz. Auch die Menstruationshygiene und die Anwendung von Tampons sind durchaus beratungsbedürftige Themen. Die Sexualberatung braucht viel Zeit, und sie ist nicht immer einfach. So kann die Kommunikation besondere Anforderungen stellen (z.B. bei kognitiver Behinderung), oder die klinische Untersuchung gestaltet sich aufgrund körperlicher Voraussetzungen schwierig (z.B. Spastik, Paraplegie, genitale Fehlbildungen). Es gilt mit Scham und Schmerz umzugehen und nicht zuletzt mit einem Tabu: Sexualität und Behinderung sind ein doppeltes Tabu, aber «auch diese Mädchen verlieben sich und wir dürfen sie nicht alleine lassen», sagte Draths. «Scheuen Sie sich nicht, Kollegen beizuziehen», fügte sie hinzu und empfahl die GYNEA (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendgynäkologie) als Ansprechpartner: www.gynea.ch
Renate Bonifer
Quelle: Hauptvortrag SGP von Ruth Draths, Neue Frauenklinik Luzern und Frauenpraxis Buchenhof, Sursee: «Vergessene Pubertät»; anlässlich der gemeinsamen Jahresversammlung der Schweizerischen Gesellschaften für Pädiatrie (SGP) sowie Schlafforschung, Schlafmedizin und Chronobiologie (SSSSC), 11. und 12. Juni 2015 in Interlaken.
26 4/15