Transkript
SCHWERPUNKT
Chronisch kranke Eltern
Welche Auswirkungen hat das auf die Kinder?
Wenn in einer Familie ein Kind behindert ist oder schwer erkrankt, denkt man mittlerweile meist auch an die nicht behinderten, gesunden Geschwister: Wie geht es ihnen? Kommen sie nicht zu kurz? Weniger selbstverständlich ist bis heute die Sorge um die Kinder chronisch kranker Eltern. Dr. med. Jürg Unger, Chefarzt Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Psychiatrische Dienste Aargau (PDAG), motivierte an der Jahrestagung der SGP in Interlaken, künftig stärker darauf zu achten.
Kinder chronisch kranker Eltern müssen altersgerecht und umfassend informiert werden.
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W as ich weiss, macht mich weniger heiss», dies sei einer seiner Lieblingssätze, sagte Unger, denn Kinder chronisch kranker Eltern müssten vor allem «verstehen, was Sache ist». Als Beispiel, wie es nicht laufen sollte, schilderte er den Fall einer Familie, in der sich die Mutter einige Zeit nach dem schweren Schlaganfall ihres Ehemannes scheiden liess und das vor ihren Kindern damit begründete, der Vater habe sie «nicht mehr lieb». Hier wäre es sicher besser gewesen, den Kindern zu erklären, dass ein Schlaganfall die Persönlichkeit eines Menschen völlig verändern kann. Die altersgemässe Information sollte im Wesentlichen folgende Fragen der Kinder und Jugendlichen beantworten: • Krankheitsverständnis: Was ist das für eine Krank-
heit? • Prognose: Wie geht es weiter? Was weiss man, und
was weiss man nicht? • Familie: Welche Sorgen haben die Eltern? • Schuld: Bin ich schuld? Nein! Die Klärung der Schuldfrage sei dabei ein ganz zentraler Punkt, betonte Unger. Kinder und Jugendliche fühlten sich immer schuldig, wenn in der Familie etwas Schlimmes geschehe. Allerdings stösst der Versuch, über die Krankheit der Eltern zu sprechen, bei den Kindern nicht unbedingt auf Gegenliebe. In vielen Familien ist die schwere Krankheit/Abhängigkeit/psychiatrische Störung eines Elternteils ein familiäres Tabu, über das nicht gesprochen wird – schon gar nicht mit Aussenstehenden. Um dieses Schweigen zu brechen, müsse man mitunter sehr geduldig und hartnäckig sein und verschiedene Wege versuchen, um die notwendige Information zu vermitteln: «Das kann ein Gespräch sein oder auch ein Film oder ein Bilderbuch», so Unger. Wichtig sei in diesem Zusammenhang auch, das Verhalten der Eltern zu kennen und darum zumindest das erste Gespräch möglichst immer gemeinsam mit dem Kind und dem gesunden Elternteil zu führen.
Zwischen Parentifizierung und Verzweiflung
Kinder und Jugendliche, die mit der Situation eines schwer kranken Elternteils überfordert sind, «einfach einmal aus der Familie zu nehmen», sei keine Lösung, sagte Unger. Die Kinder würden dadurch nicht entlastet, denn sie fühlten sich trotzdem verantwortlich. Viele lehnen die Trennung rundheraus ab: «Wenn Sie mich vom Vater wegnehmen, bringt der sich um!», so drastisch habe es einmal ein Mädchen im Gespräch mit ihm ausgedrückt. In diesem Zitat zeigt sich auch ein typisches Verhalten von Kindern chronisch kranker Eltern, die Parentifizierung: Die Kinder übernehmen die Verantwortung für ihre Eltern. Häufig sind das Kinder und Jugendliche, die nach aussen anscheinend gut funktionieren, bis sie die Situation nicht mehr aushalten und damit beginnen, sich selbst zu verletzen (ritzen), oder gar einen Suizidversuch unternehmen. Als Beispiel schilderte Unger den Fall einer 14-Jährigen, die gemeinsam mit der Mutter den wegen Multipler Sklerose schwer behinderten Vater pflegte. «Wir Frauen schaffen das!», lautete der Familiencredo, aus dem das Mädchen irgendwann keinen anderen Ausweg als den Suizid sah. Andere Kinder und Jugendliche wiederum reagieren auf ähnliche Belastungen schon bald «mit dem ganzen Lehrbuchinhalt der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dann landen sie oft bei uns, und man kann ihnen helfen – zumindest besteht die Chance», erläuterte Unger.
Anpassung überfordert nicht immer
In allen Familien passen sich Eltern und Kinder im Lauf der Zeit immer wieder neuen Gegebenheiten an. Behinderungen und langfristige Krankheiten erfordern zwar zusätzliche Anpassungsleistungen, aber wie belastend sich diese tatsächlich auswirken, hängt von einer ganzen Reihe zusätzlicher Faktoren ab. So macht es beispielsweise einen grossen Unterschied, ob ein Kind seinen Vater «schon immer» als Rollstuhl-
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fahrer erlebt hat oder ob der zuvor gesunde Vater eines 8-Jährigen nach einem Unfall plötzlich im Rollstuhl sitzt. Die beiden wichtigsten protektiven Faktoren für Kinder und Jugendliche mit einem chronisch kranken Elternteil sind altbekannt: Intelligenz und ein gut informierter, gesunder Elternteil.
Sucht und/oder psychiatrische Erkrankungen
Besonders schwierig wird es, wenn ein Elternteil an einer schweren psychischen Erkrankung und/oder Sucht leidet. Einen Tumor oder einen Unfall kann man selbst einem Kleinkind noch irgendwie erklären, doch wie stellt man das beispielsweise bei einer Schizophrenie an? Die Mutter habe «ein Durcheinander im Kopf», so habe er es einmal dem 4-jährigen Sohn einer an Schizophrenie erkrankten Mutter erklärt, berichtete Unger. Ein spezielles Problem für Kinder psychisch kranker Eltern sei die Neigung der Erwachsenenpsychiater im Spital, einen Patienten möglichst rasch wieder in die Familie zurückzuschikken: «Ich nehme den schizophrenen Vater aus der Familie, bin froh, dass es gelingt, und die Psychiatrie versucht ihn gleich wieder in die Familie zurückzubringen, weil ihn das stabilisieren würde», beschrieb ein Kongressteilnehmer ein offenbar nicht allzu seltenes Dilemma. Das sei in der Tat ein weites Feld, auf dem noch viel geschehen müsse, pflichtete ihm Unger bei. Man versuche im Aargau eine generationenübergreifende Psychiatrie aufzubauen, aber es werde sicher noch Jahre dauern, bis diese etabliert sein werde. Unger forderte, bei einer «Risiko-Elternschaft» von Anfang an aufmerksam zu sein. So seien psychisch kranke Eltern vermehrt geschieden, was das Risiko der Parentifizierung für die Kinder erhöhe. Während Krankheitsschüben (z.B. bei Schizophrenie) könne für die Kinder sogar Gefahr für Leib und Leben bestehen. Insofern sei ein «vorausschauender Elternschutz» genauso wichtig wie der Schutz der Kinder.
Hilfsangebote
Spezielle Angebote für Kinder chronisch kranker Eltern sind noch rar. In der Onkologie scheint man am weitesten damit zu sein. So habe man an den Kantonsspitälern in Aarau und Baden eine Betreuung für Kinder krebskranker Eltern aufgebaut, berichtete Unger. Das Angebot ist offenbar bitter nötig. Oft stünden einem «die Haare zu Berge», wenn man erfahre, was diese Kinder im Rahmen der familiären Geschehnisse wegen der Krebserkrakung eines Elternteils aushalten müssten, so Unger. Zur Unterstützung der Kinder chronisch kranker Eltern seien – nicht nur in der Onkologie – folgende Ressourcen besonders wichtig: • das Ermöglichen von Gesprächen in der Familie über das
Problem • das Einbeziehen von Vertrauenspersonen • das Ermöglichen von Selbstständigkeit und altersgemässen
Aktivitäten sowie • die gezielte Unterstützung an Wendepunkten (Schulab-
schluss etc.). Renate Bonifer
Quelle: Hauptvortrag SGP von Jürg Unger-Köppel: «Chronische Krankheiten in der Familie», anlässlich der gemeinsamen Jahresversammlung der Schweizerischen Gesellschaften für Pädiatrie (SGP) sowie Schlafforschung, Schlafmedizin und Chronobiologie (SSSSC), 11. und 12. Juni 2015 in Interlaken.
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