Transkript
Kinetose bei Kindern
Was schützt vor der «Reisekrankheit»?
SCHWERPUNKT
Die Kinetose kann aus vielerlei Gründen auftreten. Prinzipiell entsteht das Krankheitsbild dann, wenn verschiedene afferente Strukturen wie Seh-, Tast-, Lage- oder Gleichgewichtssinn unterschiedliche, sich widersprechende Informationen liefern. Neben evidenzbasierten Massnahmen existieren verschiedenste «Geheimrezepte» zur Vermeidung der Kinetose, deren Wirksamkeit jedoch nicht belegt ist. In diesem Artikel werden die Ursachen der Kinetose sowie sinnvolle Präventionsmassnahmen erläutert.
Von Bernhard Beck
A ls Hauptauslöser der Kinetose (Reisekrankheit) gelten Vertikalbewegungen im tiefen Frequenzbereich (0,2 Hz). Dies entspricht Auf- und Abwärtsbewegungen, wie sie typischerweise bei Schiffen auf hoher See auftreten können. Eine Kinetose kann klassischerweise bei der Seefahrt auftreten sowie bei einer Auto- oder Zugfahrt (Neigezüge!), im Vergnügungspark (Schaukeln, Wippen etc.) oder auch bei Kamel- oder Elefantenritten. Selbst wenn keine Bewegung des Körpers erfolgt, kann eine Kinetose entstehen, wie zum Beispiel bei Cinerama-Besuchen, grossen Bildschirmen oder dem Gebrauch von Videobrillen. Langsame, regelmässige Bewegungen stellen den grössten Auslöser dar. Dies ist zum Beispiel auch der Grund, weshalb das Reiten auf einem Pferd im Trab mit kurzen, häufigen Bewegungen weit seltener eine Kinetose auslöst als bei den langsamen Passgangschritten eines Dromedars oder Trampeltieres. Auch wenige, aber lange Vertikalbewegungen, wie sie auf den diversen Bahnen und anderen Attraktionen in Vergnügungsparks angeboten werden, können eine Kinetose auslösen. Kinder mit Migräne haben eine erhöhte Tendenz zur Kinetose. Blinde können auch an Kinetose erkranken. Hingegen führt ein totaler Verlust des Vestibularapparates (Ausfall des Labyrinths) zur Resistenz gegenüber der Seekrankheit.
Warum gibt es Kinetosen?
Über die Gründe, weshalb überhaupt eine Kinetose auftritt, besteht kein Konsens. Eine Theorie besagt, dass infolge der Evolution die Reaktion auf Intoxikationen zur Kinetose führt: Bei Vergiftungen soll eine Inaktivität und Ruheposition des Körpers zur reduzierten Zirkulation von aufgenommenen Giften führen. Bewegungen werden in diesem Fall mit Übelkeit und Erbrechen bestraft. Ein Argument gegen diese Evolu-
tionstheorie ist die Tatsache, dass eine Kinetose zur grösseren Anfälligkeit gegenüber möglichen Prädatoren wie Raubkatzen führen könnte und damit ein Nachteil wäre. Eine andere Theorie besagt, dass die Kinetose Folge einer Haltungsinstabilität ist. Für den zweibeinigen Gang ist die Balance extrem wichtig. Eine Dysbalance wäre ein Nachteil und führt deshalb zur Übelkeit, was den Gehenden im Sinne eines negativen Feedbackmechanismus’ zur besseren Kontrolle zwingt. Eine weitere Hypothese besagt, dass die Kinetose auf einer Diskrepanz der erwarteten afferenten Signale der verschiedenen Sensoren (visuelle oder vestibuläre Reize sowie Mechano- oder Propriorezeptoren) beruht und bei der Verarbeitung in den verschiedenen Hirnanteilen infolge des unbekannten Signalmusters fehlerhafte Reaktionen ausgelöst werden. Aufgrund dieser Entstehungstheorie wird die Kinetose gelegentlich auch «motion maladaptation syndrome», also «fehlerhaftes Bewegungspassungssyndrom», genannt. Es gibt eine eindeutige Altersabhängigkeit bezüglich der Empfindlichkeit gegenüber Kinetose. Kinder unter zwei Jahren orientieren sich räumlich nicht visuell. Das mag erklären, weshalb die Kinetose in dieser Altersgruppe noch nicht vorkommt (Abbildung).
Symptome der Kinetose
Die Zeichen der Kinetose sind vielfältig und betreffen viele Organe. Es können auftreten, aber nicht unbedingt oder in derselben Reihenfolge: Unwohlsein vor allem in der epigastrischen Region,
Abbildung: Altersabhängigkeit der Kinetose; durchgezogene Linie: Frauen; gestrichelte Linie: gemischte Population; gepunktete Linie: Männer (nach Bos JE et al.: Susceptibility to seasickness. Ergonomics 2007; 50(6): 890–901)
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Übelkeit, Blässe, Schwitzen, vermehrter Speichelfluss, Flatulenz, Tendenz zur Hyperventilation, Gähnen, Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen, Hitzegefühl, Wallungen, zunehmende Apathie, Schläfrigkeit, Benommenheit. Schon bei leichten Symptomen kann die psychomotorische Leistungsfähigkeit eingeschränkt sein. Gewisse Symptome, so die Benommenheit, können lange über die auslösende Situationsperiode hinaus persistieren. Das «sopite syndrome», welches sich durch mitunter tagelang anhaltendes Gähnen und Lethargie nach der akuten Kinetose auszeichnet, ist ein Beispiel dafür.
Prävention der Kinetose
Eine Form der Prävention besteht in der Gewöhnung an die auslösenden Bewegungsmuster. Ein gutes Beispiel für diese Prävention sind die Seeleute, welche sich auf dem Schiff nach einigen Wochen oder Monaten an die Bewegungen des Schiffsrumpfes gewöhnen. Nachteilig ist die lange Gewöhnungszeit. Ausserdem kann auch bei erfahrenen Seeleuten bei intensiverem Wellengang eine Seekrankheit auftreten. Studien bei Marinesoldaten zeigten, dass besonders hoher Wellengang trotz langer Dienstzeit bei einem hohen Prozentsatz der Seeleute zur Übelkeit führte. Die Gewöhnung schützt – falls überhaupt – jeweils nur vor einer bestimmten Art der Kinetose. Seereisende sind nur an Schiffsbewegungen gewöhnt und reagieren bei anderen Auslösern, wie Kamelreiten, wieder mit den typischen Kinetose-Symptomen. Auch ist die Gewöhnung nur von kurzer Dauer, und sie kann bei Fehlen der Auslöser schwinden. Vor allem nach längeren Schiffsreisen ist bekannt, dass durch das Fehlen der Kinetose-auslösenden Bewegungen an Land eine Landkrankheit, auch als «mal de débarquement» bekannt, auftritt. Die Voraussehbarkeit der Bewegungen ist ein wichtiger präventiver Faktor. Der Fahrer eines Fahrzeugs leidet nicht an einer Kinetose, nur die Beifahrer können Symptome entwickeln. Helfen kann auch das visuelle Fixieren einer Struktur, welche sich gegenüber der Erde nicht bewegt, in der Fachliteratur als «earth stable visual reference» bezeichnet. Als typisches Beispiel gilt der Horizont auf See. Die Fixation des Horizontes, während man sich an der Reling festhält, hilft, die visuellen sensorischen Einflüsse zu stabilisieren. Auch Frontsitze im Auto können mit dem Ausblick auf weit entfernte Elemente die Kinetosehäufigkeit min-
dern, im Gegensatz zum Blick aus dem Seitenfenster mit den sich vorbeibewegenden Landschaften. Als weitere Präventionsmöglichkeit gilt die Reduktion der auslösenden Bewegungen. Bei einem Gefährt soll der Aufenthaltsort so ausgewählt werden, dass die Vertikalbewegungen möglichst klein sind. Im Auto sind Sitze über den Radachsen zu meiden. In Schiffen soll ein Aufenthaltsort im Inneren, sozusagen beim Drehpunkt, und nicht an den Aussenseiten an Backoder Steuerbord sowie Bug oder Heck gewählt werden. Bei Neigezügen sind die Sitze am Gang besser geeignet als diejenigen am Fenster. Eine geplante Reise sollte nicht mit vollständig gefülltem Magen angetreten werden. Wiederholte kleine Portionen leichter Nahrung (Biskuits) sind vorzuziehen. Eine allfällig auftretende Kinetose verläuft dann eher leicht und ohne zusätzliches Erbrechen. Schlechte Gerüche gilt es zu vermeiden. Frische Luft vermag ebenfalls das Risiko einer Kinetose zu mindern. Bei Kindern kann sich auch spielerische Ablenkung günstig auswirken. Es soll aber darauf geachtet werden, dass während dieser Ablenkung die Blickfixation nicht allzu sehr auf einen sich im Fahrzeug befindlichen bewegenden Gegenstand gerichtet ist. Lesen in einem Fahrzeug, aber auch Videospiele, können als Kinetose-auslösende Faktoren wirken.
Pharmakologische Methoden
Als klassisches Mittel der Wahl bei Kindern gelten die Wirkstoffe Diphenhydramin und Dimenhydrinat. In der Schweiz sind Präparate als Kaugummi und auch als Tropfen im Handel. Auf Metoclopramid sollte in diesem präventiven Bereich bei Kindern verzichtet werden. Das früher verwendete Scopolamin transdermal wurde aufgrund der Nebenwirkungen (Akkomodationsstörungen) in Europa vom Markt zurückgezogen. Ingwer als natürliches Mittel zur Verhütung der Kinetose gilt als umstritten, Studien zeigten gegenteilige Resultate. Möglicherweise spielen Herkunft, Erntezeitpunkt und -methode sowie die Zubereitungsart dabei eine Rolle. Ingwerpräparate können deshalb nicht als evidenzbasierte Methode empfohlen werden. Wer Ingwer (z.B. als kandierte Süssigkeit) mag und auf entsprechende Zahnhygiene achtet, darf aber durchaus einen Versuch wagen. Keine Wirkung in der Verhütung der Kinetose hatten Hilfsmittel wie Akupressurbänder. Diese verminderten in einer Untersuchung zwar postoperatives Erbrechen, aber es ist bisher trotz grosser Beliebtheit und hohen Verkaufszahlen keine Studie mit signifikanter Wirkung bei der Kinetose publiziert.
Tabelle: Präventionsmöglichkeiten der Kinetose bei Kindern
Nicht pharmakologische Massnahmen Sitz nicht über Radachse visuell entfernte stabile Referenz keine schweren Mahlzeiten vor geplanter Reise genügend Frischluft Ablenkung
Pharmakologische Optionen Diphenhydraminhydrochlorid 1 mg/kg KG (bis 4x täglich)
nach Jahn KK et al.: Vertigo and dizziness in childhood – update on diagnosis and treatment. Neuropediatrics 2011; 42: 129–134.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Bernhard R. Beck Reise- und Tropenmedizin am Bellevue, Rämistrasse 3, 8001 Zürich und Schweiz. Tropen- und Public-Health-Institut (Swiss TPH) Med. Abteilung, Socinstr. 57, 4051 Basel E-Mail: beck@tropdoc.ch
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Weiterführende Literatur: Lacker JR: Motion sickness: more than nausea and vomiting. Exp Brain Res 2014; 232: 2493–2510. Henriques IF et al.: Motion sickness prevalence in school children. Eur J Pediatr 2014; 173: 1473–1482. Stauffer WM et al.: Traveling with Infants and Young Children Part I: Anticipatory Guidance: Travel Preparation and Preventive Health Advice. J Travel Med 2001; 8: 254–259. Sutton M et al.: Treatment of Motion Sickness. Am Fam Phys 2012; 86(2): 192–195.
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