Transkript
PSYCHIATRIE
Tics und Tourette
Verhaltenstherapie ist erste Wahl
Tics sind im Kindesalter keine Seltenheit. Sie können mit der Zeit wieder von selbst verschwinden oder ein Leben lang bestehen bleiben. Für die Umwelt besonders dramatisch stellt sich das Tourette-Syndrom dar, eine Kombination motorischer und vokaler Tics. Über mögliche Ursachen von Tics und Tourette sowie die Behandlungsoptionen berichtete Prof. Pieter J. Hoekstra am Pädiatrie-Jahreskongress in Basel.
Das TouretteSyndrom ist nicht so selten, wie viele glauben.
Tics kommen und gehen.
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D as Tourette-Syndrom ist nicht so selten, wie viele glauben», sagte Prof. Pieter J. Hoekstra, Universität Groningen, Niederlande. Allerdings ist es meist nicht so spektakulär ausgeprägt wie in den Fällen, über die von Zeit zu Zeit in den Medien berichtet wird. Man schätzt die Prävalenz des Tourette-Syndroms im Kindesalter auf etwa 1 Prozent. Weitaus häufiger sind einzelne motorische oder vokale Tics, die bei 10 bis 20 Prozent aller Kinder vorkommen, zumindest vorübergehend. Knaben sind hierbei 3- bis 10-mal häufiger betroffen. Betrachtet man die Entwicklung im Lauf des Lebens, so steht am Beginn zumeist eine gewisse Hyperaktivität. Motorische Tics im Kopf- und Nackenbereich setzen ab einem Alter von 6 bis 7 Jahren ein, vokale Tics etwas später, mit 8 bis 9 Jahren. Obsessionen und Zwangshandlungen treten in der Regel erst ab einem Alter von 11 bis 12 Jahren auf. Zwar verschwinden viele Tics in der Adoleszenz wieder von selbst, aber in etwa jedem zweiten Fall sei damit zu rechnen, dass der Tic auch im Erwachsenenalter weiterhin bestehe, so Hoekstra. Glücklicherweise seien Tics jedoch meist nicht sehr stark ausgeprägt und weisen mitunter grosse Schwankungen bezüglich ihrer Häufigkeit auf: «Tics kommen und gehen.»
Was ist ein Tic?
Tics sind gemäss DSM-IV als plötzliche, rasche, wiederkehrende, nicht rhythmische Bewegungen oder Lautäusserungen definiert. Die meisten motorischen Tics sind einfach, das heisst, sie betreffen nur einen Muskel oder eine einzige funktionelle Muskelgruppe und dauern weniger als 1 Sekunde (z.B. Zwinkern, Zucken der Mundwinkel etc.), während komplexe motorische Tics komplette Bewegungsmuster aufweisen können (z.B. eine bestimmte Art zu laufen). Bei Tic-Lauten verhält es sich ähnlich: Einfache vokale Tics sind einzelne Laute ohne Bedeutung (z.B. Grunzen, Husten, Tierlaute), während komplexe vokale Tics sich in Sätzen und Begriffen äussern, die für die Umwelt mitunter sehr verstörend oder beleidigend sein können.
Doch gleichgültig, ob einfach oder komplex, zum Wesen eines Tics gehört, dass der Betroffene den Drang gar nicht oder nicht auf Dauer wirksam unterdrücken kann. Man könne es sich wie einen Niesreiz vorstellen, sagte Hoekstra. Diesen kann man zwar eine Zeitlang unterdrücken, die «Befreiung» setzt jedoch erst ein, nachdem man niesen hat können.
Ursachen noch unklar
«Die Ätiologie ist ein komplexes Zusammenspiel genetischer und umweltbedingter Faktoren», beschrieb Hoekstra den aktuellen Stand des (Un-)Wissens zu den Ursachen von Tics und Tourette-Syndrom. Eineiige Zwillinge sind im Fall eines Tourette-Syndroms in etwa der Hälfte der Fälle beide betroffen; werden sämtliche Tics gezählt, so trifft dies in 77 bis 94 Prozent der Fälle zu: «Sicher spielt die Genetik eine Rolle, aber man kennt die Gene nicht.» Als Umweltfaktoren stehen bei Tourette-Syndrom hormonelle, psychosoziale und infektiöse Faktoren unter Verdacht sowie prä- oder perinatale Komplikationen, wofür es einige Anhaltspunkte gebe, so Hoekstra. PANDAS sind für den niederländischen Psychiater aber noch immer putzige Bären und keine valide Diagnose, die therapeutische Konsequenzen rechtfertigen würde. Die vor einigen Jahren in Mode gekommene Bezeichnung PANDAS (pediatric autoimmune neuropsychiatric disorders associated with streptococcal infections) beruht auf dem Konzept, dass bakterielle Infektionen ein Risikofaktor für Tics und/oder Tourette-Syndrom seien und eine Wesensänderung sozusagen über Nacht bewirken könnten. Zwar sind Fälle beschrieben, bei denen eine Antibiotikatherapie neuropsychiatrische Symptome linderte, ob hier aber tatsächlich eine Ursache-Wirkungs-Beziehung bestehe, sei noch unklar, meinte der Referent.
Nicht jeder Tic erfordert therapeutische Massnahmen
Zunächst gilt es abzuklären, ob ein Tic an sich überhaupt eine Behinderung darstellt. Das Ausmass eines Tics zu protokollieren (Tagebuch), sei ein guter Aus-
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gangspunkt für jegliche Therapie, so Hoekstra. Häufig gehen Tics mit anderen neuropsychiatrischen Störungen einher, die allenfalls einer Therapie bedürfen, wie ADHS, Obsessionen, Zwänge, Verhaltensstörungen, Ängste oder soziale Probleme. Mit dem Patienten und seinen Eltern zu sprechen und sich viel Zeit zu nehmen, um über die Eigenheiten von Tics und Tourette zu informieren, dies steht am Anfang jeder Therapie. Es sei dabei unter anderem sehr wichtig, dass den Patienten klar wird, wie variabel die Erscheinungsformen sind, sowohl individuell als auch im Lauf der Zeit. Doch auch die behandelnden Ärzte müssen an diese Variabilität denken: «Was immer Sie tun, der Erfolg kann etwas mit diesem Verlauf zu tun haben – oder auch nicht», so Hoekstra. Die Therapie der Wahl ist das Verhaltenstraining. Es verläuft in zwei Schritten: Zuerst lernt der Patient, seinen Tic überhaupt als solchen wahrzunehmen. Da die meisten Betroffenen durchaus spüren, wenn sich ein Tic ankündigt, bietet sich als zweiter Schritt eine alltagsverträgliche Lösung des Problems: Man trainiert anstelle des Tics eine andere Bewegung oder Handlung, die relativ unauffällig ist, aber den Drang für das Ausführen des Tics auflösen kann.
Medikamente sind nur zweite Wahl. Zum einen sei die Langzeitprognose bei Tics ohnehin recht gut, auch ohne Behandlung. Zum anderen haben Medikamente unerwünschte Nebenwirkungen, und sie heilen nicht, sondern unterdrücken nur die Symptome. Zudem reagierten viele Patienten nicht gut auf Medikamente, sagte Hoekstra. Die Anwendung der verfügbaren Medikamente sei so gut wie immer off label, und es gebe nur wenige, meist recht kleine Studien. Die meiste Evidenz bezüglich Tics und Tourette-Syndrom gebe es für Risperidon, Pimozid, Haloperidol und Clonidin, eingeschränkte Erkenntnisse zu Olanzapin, Quetiapin, Tiaprid und Aripiprazol, sagte Hoekstra. Im Zusammenhang mit den Medikamenten erwähnte Hoekstra, dass der zuweilen geäusserte Verdacht, Methylphenidat könnte Tics induzieren, in Studien nicht bestätigt werden konnte.
Renate Bonifer
Quelle: Vortrag von P.J. Hoekstra: «Aktuelle Ergebnisse zur Ätiologie und Behandlung von Tic-Störungen im Kindes- und Jugendalter». fPmh-Symposium: Keynote Lectures fPmh. 3. Gemeinsamer Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaften für Pädiatrie (SGP), Kinderchirurgie (SGKC) sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (SGKJPP). Basel, 12. und 13. Juni 2014.
Die Erscheinungsformen sind sehr variabel, sowohl individuell als auch im Lauf der Zeit.
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