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Swiss Mongolian Pediatric Project
Präventivprogramm zur Frühdiagnose und Therapie der Hüftgelenksdysplasie (DDH) in der Mongolei
Der Zufall stand Pate für das humanitäre Hilfsprojekt, in welchem man sich seit 2007 dafür einsetzt, dass in Zukunft möglichst keine mongolischen Kinder mehr wegen einer invalidisierenden Hüftdysplasie ihrer Chancen beraubt werden. Mittlerweile werden rund zwei Drittel der Neugeborenen in der Mongolei im Screening erfasst, und es konnten so in den vergangenen Jahren über 1400 Kinder geheilt werden. Seit 2015 gehört die Hüftsonografie bei Neugeborenen zum staatlichen Präventionsprogramm.
Von Thomas Baumann und Raoul Schmid
Eine Ferienreise in dieses von Russland und China umschlossene Land mit dem erbarmungslosen kontinentalen Klima hatte uns gezeigt, dass ein sehr grosser Leidensdruck bestehen muss. Praktisch alle Mongolen konnten uns von Betroffenen in der Familie oder im Freundeskreis berichten. Die Motivation für Unterstützung war gegeben. Das Glück stand uns insofern zur Seite, als wir eine Gruppe motivierter mongolischer Ärztinnen finden konnten, welche den riesigen Aufwand nicht scheuten, gemeinsam mit uns ein Projekt zum Management der DDH (developmental dysplasia of the hip) zu lancieren und es bis heute energisch voranzutreiben. Der folgende Artikel beschreibt, was bisher erreicht wurde und welche Lehren Einfluss haben auf unseren Umgang in der Schweiz mit dieser häufigsten «angeborenen» Störung des Bewegungsapparates. Der Dank gehört in besonderem Masse den mongolischen Ärztinnen, die sich weiterhin bemühen, der DDH in ihrem Land ein Ende zu bereiten.
formjahre haben den Anteil der Privatwirtschaft zwar auf 80 Prozent gesteigert, aber die sozialen Unterschiede und das Stadt-Land-Gefälle vergrössert. Die Schere zwischen arm und reich ist massiv aufgegangen.
Lebenserwartung und Gesundheitssystem
In der Mongolei gibt es Zeiten extremer Kälte, die Einwirkungen auf die Lebenserwartung der Bevölkerung hat. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 68 Jahre (Stand 2010). 2006 betrugen die Gesundheitsausgaben der Regierung 124 US-Dollar (Kaufkraftparität) pro Kopf. Das Gesundheitswesen ist einerseits staatlich (Kinder und Mütter bis zwei Jahre nach der Geburt ihres Kindes zahlen nichts), anderseits macht sich zunehmend eine privatisierte Medizin breit, die wie überall die Rosinen herauspickt und wenig Gemeinnütziges (Ausbildung usw.) hervorbringt.
Die Mongolei – ein Schwellenland
Die Mongolei ist ein riesiges Land und war jahrzehntelang ein russischer Vasallenstaat. Unter dem Eindruck der Veränderungen in Osteuropa entstand 1990 auch in der Mongolei eine Demokratiebewegung, die ersten freien Wahlen wurden am 28. Juni 1992 abgehalten. Die Mongolei hat nach langer Stagnation nun ein Wirtschaftswachstum von 5,3 bis 10 Prozent, während es sich zwischen 1990 und 2002 zwischen +3 und -3 Prozent bewegte. Das Wirtschaftswachstum beruht grösstenteils auf dem Dienstleistungssektor, der auf fast 40 Prozent des Bruttoinlandprodukts stieg, sowie auf höheren Weltmarktpreisen für Kupfer und Gold. Der arme Teil der Bevölkerung profitiert jedoch kaum davon: Etwa 40 Prozent leben unterhalb der extremen Armutsgrenze. Die schwierigen Re-
Abbildung 1: Traditionelles «Swaddling»
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Abbildung 2: Traditionelle «Behandlungsmethode» bei DDH in der Mongolei
Die Geburtenrate in der Mongolei ist deutlich höher als in der Schweiz, mit steigender Tendenz. 2012 betrug sie 20,7/1000 Einwohner (in der Schweiz im gleichen Zeitraum 9,51/1000 Einwohner), oder anders ausgedrückt: Bei einer Bevölkerung von 3,18 Millionen Einwohnern in der Mongolei kamen 2012 64 000 Kinder zur Welt, während es in der Schweiz mit 7 Millionen Einwohnern nur 75 000 waren. Praktisch alle Geburten in der Mongolei erfolgen in Geburtskliniken. Das National Center for Maternal and Child Health (NCMCH) in Ulan-Bator ist eine von vier Geburtskliniken in der Hauptstadt der Mongolei. Das medizinische Denken ist noch stark von der sowjetischen Mentalität geprägt, da die Ärztinnen dort mehrheitlich ausgebildet wurden. Oft fehlt das Verständnis für pathophysiologische Zusammenhänge, oder es mangelt an der Möglichkeit, moderne Diagnostik zu betreiben. Die Kindersterblichkeit ist zehnmal höher als in der Schweiz, was ein Abbild der mangelnden Qualität medizinischer Versorgung in der Mongolei ist.
Das Wichtigste in Kürze
• Hüftdysplasien sind die häufigste «angeborene» Erkrankung des Bewegungsapparats mit gravierenden, oft lebenslangen Folgen. 1,2 Prozent der Kinder in der Mongolei sind betroffen.
• Die Entwicklungsstörung der Hüftgelenke ist, wenn sie früh erkannt wird, mit einfachen Mitteln (Abspreizbehandlung) nachgewiesenermassen heilbar.
• Die einzig zuverlässige Methode zur Früherkennung ist die Sonografie nach Graf. • Durch eine grosse wissenschaftliche Studie zur Früherkennung und -therapie der
Hüftdysplasie in der Mongolei konnte gezeigt werden, dass ein allgemeines Hüftscreening in Geburtskliniken durchführbar ist. • Die Behandlung der betroffenen Hüften war im Schnitt nach 6 Wochen abgeschlossen, das Kind geheilt! • Viele mongolische Ärztinnen haben einen vollständigen Ausbildungszyklus durchlaufen und sind bereit, das Screenig im ganzen Land zu etablieren. • Die Unterstützung sowohl der Geburtskliniken als auch vom mongolischen Gesundheitsamt ist gegeben. • Der finanzielle Aufwand für die Durchführung des Projektes ist verhältnismässig klein. • Die Nachhaltigkeit ist gegeben, da in erster Linie ein gegenseitiger Transfer von Know-how erfolgt. • Nach Abschluss der Unterstützungsphase sind die Ärztinnen und Ärzte in der Mongolei befähigt, das Ultraschallsrceenig der DDH und die Qualitätskontrolle selbstständig durchzuführen! • Mittels einer internetbasierten Plattform (HipScreen) werden sämtliche Hüftsonografien lokal und Problemfälle in der Schweiz kontrolliert. Damit wird der Standard der Untersuchungsqualität auf schweizerischem Niveau gehalten. • Durch die Arbeit in der Mongolei konnte ein vereinfachtes und erfolgreiches Diagnose- und Therapieschema entwickelt und überprüft werden, das auch die Behandlung der DDH in unserer Breiten zu optimieren verspricht.
Die Anfänge des Projekts
Im erstmals 2007 besuchten NCMCH zeigte sich eine für ein Schwellenland typische Pädiatrie. Aufgrund der uns nur beschränkt vorhandenen Ressourcen konzentrierten wir uns auf ein Gesundheitsthema, die Hüftdysplasie. Bestärkt wurden wir dazu, weil im öffentlichen Raum viele hinkende Personen zu sehen sind und uns mehr oder weniger alle Familien berichteten, dass in ihren näheren oder weiteren Umgebung eine Person von einer Hüftluxation betroffen ist. Traditionellerweise werden die Neugeborenen in Tüchern eng gewickelt (swaddling) (Abbildung 1). Dies führt durch die Adduktion der gestreckten Beine dazu, dass instabile Hüftgelenke förmlich «ausgehebelt» werden, was das Problem noch verschärft. Die Erkennung und Behandlung der Hüftdyplasie in der Mongolei wird nach Leitlinien russischer Provenienz durchgeführt, die zeitgemässen Strahlenschutzbestimmungen und Behandlungsmethoden keineswegs entsprechen (Abbildung 2). Die Diagnose kommt damit zu spät, die Behandlungserfolge sind rudimentär. Zudem erhalten sehr viele Kinder unnötige Behandlungen, die aus den Interpretationsfehlern der Klinik (z.B. assymmerische Hüftfalten u.a.) und/oder qualitativ ungenügender Röntgenbilder entstehen. Die DDH repräsentiert also ein für das mongolische Gesundheitswesen hoch relevantes und bis anhin ungelöstes Problem. Glücklicherweise gelang es, eine Gruppe Ärztinnen und Ärzte (Pädiater, Kinderradiologen und Neonatologen) am NCMCH zu motivieren, sich des Problems anzunehmen. Zunächst wurden die Ärztinnen unseren eigenen Standards konform in der Hüftsonografie nach Prof. R. Graf ausgebildet (Grund-, Aufbau-, Abschlusskurs und praktische Anwendung unter Supervision). Das Geburtspital wurde mit modernen Ultraschallgeräten ausgerüstet. Um das optimale Qualitätsmanagement zu garantieren, wurde ein internetbasierter Datenaustausch mittels Telemedizin etabliert, und alle Geräte wurden mit einem PC vernetzt. So können die Bilder mittels einer spezialisierten Software (Hipscreen) zentral gespeichert und auf einer Internetplattform autorisierten Usern zugänglich gemacht werden. Darüber hinaus ermöglicht diese Plattform den Austausch von Kommentaren und somit eine direkte Einflussnahme. In der Umsetzung bedeutet dies, dass jede einzelne Hüftsonografie, die am NCMCH durchgeführt wurde, durch die Projektleiter in der Schweiz kontrolliert werden kann. Damit wurde ein sehr hoher Qualitätsstandard erreicht.
Ursachen der DDH
Die Hüftdysplasie ist die häufigste «angeborene» Störung des Bewegungsapparats. In der Schweiz liegt die Inzidenz bei 1 bis 2 Prozent aller Neugeborenen. Es handelt sich um eine Entwicklungsstörung der Reifung eines oder beider Hüftgelenke: Das Pfannendach verknöchert unvollständig und bietet somit dem Kopf des Femurs keine ausreichende Abstützung. In der Literatur findet denn auch der korrektere Begriff «developmental dysplasia of the hip» (DDH) Verwendung. Das Endstadium der Erkrankung kann eine Luxation, eine Instabilität und eine Arthrose sein. Es handelt
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Abbildung 4: Das Studienteam DDH in der Mongolei
Abbildung 3: Tübinger Schiene
sich somit um eine schwere Behinderung! Weil sie oft zu spät diagnostiziert wird, zieht sie langwierige Therapien und Operationen ohne Aussicht auf vollständige Heilung nach sich. Die normale Hüftreifung ist mit der Geburt nicht abgeschlossen. In den ersten Lebenswochen besteht eine besonders grosse Nachreifungspotenz, die sich allerdings jenseits des dritten Lebensmonats stark abschwächt. Die in der Neugeborenenzeit sehr laxen Bänder und Kapseln des Hüftgelenkes erlauben es, auch dezentrierte dysplastische Hüften einfach wieder zu reponieren und in Position zu halten. Essenzielle Voraussetzung für den Behandlungserfolg ist die Diagnose zum frühestmöglichen Zeitpunkt!
Diagnose der DDH
Die Abklärung durch alleinige körperliche Untersuchung des Neugeborenen ist auch bei erfahrenen Kinderärzten unzuverlässig. Die meisten Fälle können nicht erkannt werden. Die deshalb zur Unterstützung der Diagnostik angewandte Röntgentechnik ist strahlenbelastend und in den ersten drei Lebensmonaten nicht aussagekräftig. Andere bildgebende Verfahren lassen sich nicht standardisieren oder sind für ein generelles Screening nicht anwendbar. Die einzige zuverlässige, reproduzierbare, quantifizierende und unschädliche Untersuchungsmethode ist die von Prof. R. Graf vor über 30 Jahren entwickelte Sonografie der Hüftgelenke, die sich im deutschsprachigen Raum als Goldstandard etabliert hat. Die Möglichkeit, die DDH zu quantifizieren, ist für die Überwachung des Behandlungsverlaufs entscheidend.
Therapeutische Aspekte
Mit der Diagnose der DDH ist den betroffenen Kindern nicht geholfen. Leider konnte vor dem Hintergrund der in der Mongolei vorherrschenden Lehrmei-
nung, dass in den ersten sechs Lebensmonaten eine Therapie nicht möglich sei, mit den Kinderorthopäden der Mongolei keine Kooperation etabliert werden. Es erschien unethisch, mit der Behandlung einer in den ersten Lebenstagen diagnostizierten Hüftdysplasie so lange zuzuwarten. Darum entschlossen wir uns für die Anwendung eines von einigen Exponenten in der Schweiz schon zuvor erfolgreich umgesetzten Konzepts. In den ersten Lebenstagen erkannt, lassen sich selbst schwere Hüftgelenksdysplasien (Typen 2c, vermutlich aber auch dezentrierte Hüftgelenke) mit einer einfachen Abspreizbehandlung therapieren. Dabei wird das Kind mit abgespreizten Beinchen in sitzender Stellung fixiert (Abbildung 3). Der Gelenkkopf wird so in die Tiefe der Pfanne platziert und dort gehalten. Dies verändert die Kräfte auf das Dach der Gelenkpfanne, sodass eine schnelle Nachreifung ermöglicht wird. Die Abspreizbehandlung mit einer Spreizschiene ist einfach durch die Eltern zu Hause durchzuführen.
Prospektive Studie in der Mongolei
Seit einigen Jahren nimmt die Geburtenzahl in der Mongolei zu. Damit steigt die Anzahl der Kinder mit einer behandlungsbedürftigen Hüftdysplasie. Bei einer vermuteten Häufigkeit von 1,5 Prozent aller Abbildung 5: Informationsblatt zu den Risiken des traditionellen Neugeborenen ist landesweit von Swaddlings zirka 1000 betroffenen Kindern auszugehen. Um die Umsetzung unserer Ideen wissenschaftlich zu untermauern, planten wir in Ulan-Bator eine prospektive Studie, bei der sämtliche Neugeborenen in der Geburtsklinik mit Ultraschall auf Hüftdysplasie gescreent wurden. Durch die Studie konnte in erster Linie die konsequente Umsetzung und Anwendung von gelerntem Fachwissen und praktischer Fähigkeit überprüft werden. Aus der Interpretation der quantitativen sowie qualitativen Daten konnten der neue Behandlungsmodus validiert und die Inzidenz der Störung in der Mongolei erstmals evaluiert und dokumentiert werden. Die Neonatologinnen des NCMCH konnten für diese grosse Arbeit gewonnen werden, sodass während eines Jahres (September 2010 bis August 2011) die
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Abbildung 6: Hüftfreundliches Swaddling: Die Hüften werden in Abduktion und Beugung gebracht und in dieser Stellung eingewickelt.
Hüften aller 8356 Neugeborenen im Durchschnittsalter von einem Tag untersucht werden konnten (Abbildung 4). Die Studie ergab, dass nach der Einteilung von Graf 1,3 Prozent der Kinder von ein- oder beidseitiger DDH betroffen waren. Konkret fanden sich 14 873 Typ-1-Hüften (89%), 1715 Typ-2a- (10,3%), 36 Typ-2c- (0,2%), 70 Typ-D- (0,4%), 14 Typ-3- (0,08%), und 4 Typ-4-Hüften (0,02%). Kinder mit Typ-1-Hüften wurden aus der Kontrolle entlassen. Kinder mit Typ-2a-Hüften (physiologisch unreif) wurden in monatlichen Abständen untersucht, und die Mütter wurden instruiert, das Kind nicht zu «swaddeln» beziehungsweise eine hüftfreundliche Methode anzuwenden (siehe Abbildung 5 und 6). Von ihnen verschlechterten sich einige, wahrscheinlich wegen des Swaddlings, beziehungsweise die Hüften reiften nicht genügend nach, sodass diese anlässlich der Nachkontrolle auch behandelt werden mussten. Kinder mit DDH von Typ 2c, Typ D und Typ 3 wurden mit einer Tübinger Hüftbeugeschiene behandelt. Somit wurden 1,3 Prozent der Kinder bei Geburt und 0,9 Prozent im Verlauf, also insgesamt 2,2 Prozent der Kinder, behandelt (Abbildung 7).
Die DDH konnte bei allen Kindern bei einer mittleren Behandlungsdauer von nur sechs Wochen vollständig behoben werden. Es traten keine Komplikationen bei der Behandlung auf. Bei 2 Kindern mit Typ-4-Hüften verweigerten die Eltern leider die Behandlung, da die beigezogenen Orthopäden eine Behandlung im ersten Lebensmonat als unmöglich bezeichneten. Mit der Studie konnte die Inzidenz der DDH in der Mongolei erstmals berechnet werden. Sie ist leicht höher als in der Schweiz. Aber auch andere Fragestellungen konnten beantwortet werden. So sind die Risikofaktoren für die DDH die gleichen wie bei uns (Mädchen, Steisslage und andere Missbildungen des Bewegungsapparats).
Hüftsonografie künftig Teil des nationalen Präventionsprogramms in der Mongolei
Die gewählte Strategie bedeutet nicht nur ein grosses individuelles Glück für das Kind und seine Familie, sie hat sich auch als umsetzbar, sehr effizient und kostensparend erwiesen. Durch die Unterstützung des Gesundheitsministeriums und von Leitungen der Geburtskliniken konnte das Programm schon in diversen Aimags («Kantone» der Mongolei) eingeführt werden. Durch Auftritte an medizinischen Tagungen und im mongolischen TV wurde Öffentlichkeitsarbeit geleistet. Es besteht keine Veranlassung, daran zu zweifeln, dass dieses Konzept auch an jeder anderen Geburtsklinik in der Mongolei angewandet werden kann. Eine entsprechende Gesetzgebung des mongolischen Staates ist mittlerweile erfolgt, und die Hüftsonografie wird ab 2015 Teil eines nationalen Präventionsprogramms.
Abbildung 7: Die prospektive Studie zu DDH in der Mongolei im Längsverlauf. Man beachte die «schlechter» werdenden Typ-2a-Hüften und die unbehandelten Typ-4-Hüften (s. auch Text) (nach Munkhuu B et al., Plos One 2013; 8 (10): e79427).
Nachhaltigkeit und Ausblick
Zurzeit läuft eine Follow-up-Studie, um die Langzeiterfolge der Behandlung zu überprüfen. Bei der Evaluation der Hälfte der Kinder aus der primären Studie zeigte sich im Röntgenbild des Beckens, dass alle im Alter von zwei bis drei Jahren ausgereifte Hüften auf-
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wiesen. Damit ist die Nachhaltigkeit der Behandlung naheliegend. Es ist ein erklärtes Ziel des Projektes, die mongolischen Ärztinnen und Ärzte zu befähigen, das Projekt in wenigen Jahren völlig selbstständig weiterzuführen (Ausbildung, Diagnostik, Therapie, Qualitätskontrolle sowie Hard- und Softwaresupport), sodass sich die Initiatoren mittelfristig zurückziehen können.
Stand des Projekts im Herbst 2014
Nach sieben Jahren Arbeit in der Mongolei sind 19 Geburtskliniken/Ambulatorien in 10 von 21 Aimags (Kantonen) mit Geräten ausgerüstet, das heisst 32 Ultraschallgeräte, und dies im ganzen Land verteilt. Mittlerweile werden zirka zwei Drittel der Neugeborenen in der Mongolei im Screening erfasst. Es konnten so in den vergangenen Jahren über 1400 Kinder geheilt werden! Eine doch sehr erfreuliche Zahl. Die eigens entwickelte Software (Hipscreen) ist als internationales Expertensystem in täglichem Gebrauch. Der Aufbau einer interventionellen Kinderorthopädie im NCMCH wird im nächsten Jahr beginnen, um auch Kinder mit therapierefraktären Typ-4-Hüften behandeln zu können.
Schlussfolgerung
DDH war bisher in der Mongolei ein grosses, ungelöstes Problem. Die Einführung der Hüftsonografie nach Graf und die Frühtherapie mittels Abspreizschiene bedingten ein erhebliches Umdenken, den Bruch mit Paradigmen und Traditionen. Nicht die Lieferung von Apparaten verbesserte die Qualität der medizinischen Versorgung der mongolischen Kinder, sondern die Ausbildung der lokalen Ärztinnen und Ärzte und die Verbesserung ihrer Kompetenzen. Sie kennen die dortigen Gegebenheiten und Ressourcen am besten. Die Ausbildungskurse in Hüftsonografie sind in der Mongolei nun etabliert. Ausbildungsmaterial wurde in mongolische Sprache übersetzt. Die Kurse werden, analog zu den Vorgaben in der Schweiz, regelmässig wiederholt (Refresher-Kurse), um den Ausbildungsstand und damit die Qualität der Durchführung zu optimieren. Die internetbasierte Qualitätskontrolle wird weitergeführt, und sie ist ein regelrechtes internationales Supervisionstool. Eine prospektive Studie dieser Art und dieser Grösse wurde nach unserem Wissen noch nie in einem Schwellenland durchgeführt und ausgewertet. «Entwicklungshilfe» erfährt dadurch eine wissenschaftliche Evaluation und grosse Nachhaltigkeit. Es hat sich als sehr sinnvoll herausgestellt, sich «nur» eines gesundheitliches Problems anzunehmen und dieses weitestgehend zu eliminieren, statt sich allen Problemen (ein bisschen) zu widmen, um dann an der Fülle der Probleme zu scheitern. In Anbetracht der überzeugenden Resultate darf davon ausgegangen werden, dass die Erfahrungen es erlauben, die Strategie auch auf andere Geburtskliniken und folgend auch auf das ganze Land auszuweiten. Es versteht sich von selbst, dass die Erkenntnisse aus der Anwendung der Telemedizin und der DDH-Studie künftig auch in der Ausbildung und Verbreitung der
Projektpartner
• Schweizerische Vereinigung für Ultraschall in der Pädiatrie (SVUPP) • Prof. Reinhard Graf, Stolzalpe, der uns anlässlich des Aufenthaltes im März 2011 begleitet, mit uns
zusammen Kurse durchgeführt und Überzeugungsarbeit geleistet hat. Er unterstützt das Projekt weiterhin. • Co-Tutoren: Dr. med. Corinna Wilhelm, Dr. med. Bettina Essers, Dr. med. Corinne Wyder, Dr. med. Reto Gambon, Dr. med. Petrign Töndury • National Center for Maternal and Child Health, Ulan-Bator, Mongolei • Prof. Enkhtur Shonkhuuz, General Director, Ministry of Health, Mongolia • Medizinische Projektleitung lokal: Dr. Erdenesuvd Renchinnyam • Wissenschaftliche Begleitung: Dr. Stefan Essig, ISPM Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern • Wissenschaftliche Projektleitung lokal: Dr. Bayalag Munkhuu • Experten-Fachgremium: Dr. Bayalag, Dr. Erdenesuvd, Dr. Battulga, Dr. Tsogzolmaa • Projektkoordination international: Dr. med. Thomas Baumann, Dr. med. Raoul Schmid
Methode in der Schweiz Berücksichtigung finden werden. Somit erfolgt ein gegenseitiger Wissensaustausch. Die präventive Versorgung der Hüftdysplasie im Kindesalter ist zweifelsfrei besser und ökonomischer als die Therapie symptomatischer Hüftleiden – Vorsorge ist besser und viel günstiger als Behandlung! Dieses Ziel zu erreichen, bedingt einen verhältnismässig geringen Finanzaufwand mit hohem langfristigem Ertrag, vor allem bezüglich lebenslanger «burden of disease». Die Reduktion und Sanierung eines medizinischen Problems scheint sich als nachhaltig zu erweisen. Es ist durchaus im Sinne der Erfinder, auch andere Gebiete, Krankheiten und Störungen innerhalb der Pädiatrie ähnlich systematisch in der Mongolei anzugehen. So ist ein Projekt im Rahmen der Neonatologie in Planung. Deshalb auch der Titel unseres Projektes: Swiss-Mongolian Pediatric Project. Die Modellhaftigkeit des Projekt erlaubt es aber auch, Ähnliches in anderen Ländern zu etablieren.
Korrespondenzadressen: Dr. med. Thomas Baumann Vorstandsmitglied SVUPP St. Niklausstr. 12 4500 Solothurn E-Mail: tombaum@gawnet.ch
Dr. med. Raoul Schmid Co-Präsident SVUPP Mitglied Hüftkommission SGUM Rigistrasse 15 6340 Baar E-Mail: raoul.schmid@bluewin.ch
Das humanitäre Projekt wird durch Spenden und Sponsoring finanziert, entsprechende Unterstützung ist hoch geschätzt und kommt direkt dem Projektzweck zugute. Alle beteiligten Personen verzichten auf ein Honorar.
Weitere Informationen
Projektwebsite: www.smopp.net
Studie: Munkhuu B, Essig S, Renchinnaym E et al. Incidence and treatment of developmental hip dysplasia in mongolia: a prospective cohort study. Plos One 2013; 8 (10): e79427.
Weitere Informationen auf Anfrage bei den Autoren.
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