Transkript
SCHWERPUNKT
Akute Appendizitis im Kindesalter
Es wird seit Langem versucht, einen definitiven Algorithmus mit objektiven Kriterien für die Diagnose der Appendizitis zu entwickeln. Bisher hat sich ein solcher allgemeingültiger Algorithmus noch nicht herauskristallisiert. Darum sind wir weiterhin auf die Erfahrung und sorgfältige Abklärung angewiesen.
Von Stefan Holland-Cunz
Eine moderate Analgesie während der Untersuchung führt nicht zu falschen Ergebnissen.
22
K önnen wir die Appendizitis heute noch übersehen? Mit Sicherheit kommen initiale Fehlinterpretationen im Sinne einer übersehenen akuten Appendizitis vor, die im Verlauf perforiert und eine Peritonitis verursacht. Die Rate dieser übersehenen Appendizitiden ist kaum zu erheben, da die Wege der Patienten bei einem solch komplizierten Verlauf retrospektiv selten nachzuvollziehen sind. Sie bekommen in der Praxis ein Kind vorgestellt mit Bauchschmerzen und müssen die Entscheidung fällen, ob Sie den Patienten an das Spital weiterverweisen oder die Verantwortung übernehmen können, davon abzusehen. Neben Ihrer anamnestischen Befragung und den erhobenen Entzündungsparametern sind es vor allem die körperliche Untersuchung und die Einschätzung des Allgemeinbefindens Ihres Patienten, die Ihnen aus diesen teilweise subjektiven Parametern die Entscheidungsgrundlage liefern. Mittels zahlreicher wissenschaftlicher Ansätze wird seit Langem versucht, durch objektive Kriterien einen definitiven Algorithmus in der Diagnostik der Appendizitis zu etablieren. Bisher hat sich ein solcher allgemeingültiger Algorithmus noch nicht herauskristallisiert, und wir sind weiterhin auf die Erfahrung und sorgfältige Abklärung angewiesen.
Was bringen definierte «clinical pathways»?
Die Anamnese und die klinische Untersuchung sind die essenziellen Standbeine der Diagnostik. In der Literatur wird die klinische Untersuchung durch den erfahrenen Chirurgen hervorgehoben. Aufgrund der Ablaufänderungen in beinahe allen Schweizer Kinderspitälern weisen sie die Patienten aber nicht mehr direkt dem Kinderchirurgen zu, sondern dem interdisziplinären Notfall. Dies bringt mit sich, dass die Pa-
tienten mit akuter Appendizitis in der Regel zumindest einen Arztkontakt mehr haben, bevor sie dem Chirurgen vorgestellt werden. In der Konsequenz ist sicherzustellen, dass die international hohe Qualität in der Versorgung rund um diese sehr häufige operationspflichtige Erkrankung nicht beeinträchtigt ist. An den Spitälern gibt es darum an die lokalen Gegebenheiten angepasste SOP (standard operation protocols) zum standardisierten Vorgehen für die präoperative Abklärung, die intraoperativen und postoperativen Abläufe und die Nachsorge. Eine aktuelle prospektive Studie aus Oregon untersucht den Effekt der Einführung eines «klinischen Behandlungspfades» auf der interdisziplinären Notfallstation für das Management bei akuter Appendizitis. Es wurden zwei evaluierte Scores, die klinische und labortechnische Kriterien einschlossen, verwendet, mit dem Ziel, die Patienten in zwei Risikogruppen einzuteilen. Die Entscheidung, einen Patienten nicht dem niedrigen Risiko zuzuordnen, hatte eine Sensitivität von 96,9 Prozent und eine Spezifität von 40,7 Prozent (1). Dies ist eine exemplarische Untersuchung, die die Effektivität und Sicherheit klinischer Behandlungspfade untersucht. Es gibt eine Vielzahl professioneller Dienstleistungsunternehmen, die solche «pathways» implementiert in die elektronische Patientenakte anbieten. Inwieweit sich eine solche papierfreie, schablonenartige Medizin durchsetzen wird, wird sich in recht absehbarer Zukunft zeigen.
Untersuchung und Bildgebung
An der Technik und Aussagekraft der körperlichen Untersuchung hat sich in den letzten Jahren nichts Bedeutendes geändert, bis auf den erbrachten Nachweis, dass eine moderate Analgesie während der Untersuchung nicht zu falschen Ergebnissen führt (2).
6/14
SCHWERPUNKT
Auf eine digitale rektale Untersuchung kann in der Regel verzichtet werden. Der rektal und axillär gemessene Temperaturunterschied ist ebenfalls aufgrund der Ungenauigkeit und geringen Aussagekraft nicht mehr in der Routine zu erheben. Hinzu gekommen ist die allseitige Verfügbarkeit der Sonografie. Dieses diagnostische Verfahren, das in der Anwendung auf dem Notfall dem Stethoskop gleichkommen sollte, bietet eine unmittelbare Aussagemöglichkeit. Selbstverständlich ist auch hier die Aussagekraft abhängig von der Erfahrung des Anwenders, wie bei der körperlichen Untersuchung auch. Vor allem in der nordamerikanischen Literatur wird immer wieder die Schnittbildgebung in Form von CT oder MRI in klinischen Studien diskutiert. Aufgrund der Strahlenbelastung ist die CT für das Kindesalter kritisch zu sehen. Sie ist nur in Ausnahmefällen indiziert, auch wenn die Aussagekraft sehr hoch ist. In einer Metaanalyse des Jahres 2006 anhand von 57 eingeschlossenen Studien wird ein signifikanter Unterschied in der Sensitivität und Spezifität der Diagnose Appendizitis zugunsten der CT (94 bzw. 95%) gegenüber der Sonografie (88 bzw. 94%) erhoben. Dennoch schränken die Autoren ein, dass die Risikoabwägung zwischen der karzinogenen Strahlenbelastung des kindlichen Gewebes und der übersehenen Appendizitis sorgsam abgewogen werden muss (3). Die MRI kommt dahingehend sehr wohl zum Einsatz, vor allem bei unklaren abdominellen Beschwerden und adipösen Jugendlichen, die keine Narkose oder Sedierung für die Untersuchung benötigen. Aufgrund des Aufwands und der Kosten bleibt auch die MRI jedoch individuellen Fragestellungen vorbehalten.
Morgenvisite und erneuten körperlichen Untersuchung einhergehen. Wenn die Entscheidung zur stationären Aufnahme gefällt wird, sollten auch niederschwellig abführende Massnahmen angeordnet werden, da der Patient mit Bauchschmerzen hiervon in der Regel profitiert.
So rasch wie möglich operieren?
So rasch als möglich operieren ist eine Definition, die stark von den Ressourcen des Spitals abhängig ist. In einer retrospektiven Studie aus dem Jahre 2004 konnte kein Nachteil bezüglich der Perforationsrate, Operationsdauer oder des postoperativen Resultats nachgewiesen werden, wenn die Patienten am Morgen nach der Aufnahme und nicht in derselben Nacht operiert wurden (4). Sind die Abläufe im Spital entsprechend organisiert, ist die rasche Versorgung mit dem früheren Erreichen der Schmerzfreiheit ein gewichtiges Argument für die nächtliche Operation. Die Appendektomie im Intervall nach initialer antibiotischer Therapie ist seit je umstritten. Es ist möglich, eine solch zweizeitige Strategie zu erwägen, in der Literatur ist das mehrfach bestätigt, ohne jedoch einen Vorteil gegenüber der initialen Operation nachzuweisen. Selbstredend kann die initiale laparoskopische Abszessentlastung und Mobilisierung des Zökums mit Entfernung der Appendix und sicherem Verschluss des Stumpfes bei lokaler oder generalisierter putrider Peritonitis anspruchsvoll sein. Das erhöhte Risiko auf Perforation des terminalen Ileums oder Belassen eines Appendixanteils ist relativ und eher chirurgenabhängig. Bei mehrzeitiger Strategie sollten auf alle Fälle wiederholte anästhesiepflichtige Invasionen vermieden werden.
Routine und Expertise
Im Rahmen der Anamneseerhebung sind die Routine und Expertise der Kinderärzte und Kinderchirurgen hervorzuhebende Qualitätskriterien der Kindermedizin. Hier hebt sich der Kinderarzt deutlich vom Erwachsenenmediziner ab. Vor allem aus der Fremdanamnese durch die betreuenden Personen müssen bei den sehr raschen Verläufen kleinerer Kinder die entscheidenden Schlüsse gezogen werden. In solchen Situationen ist es wichtig, rasch zu erkennen, dass sich nach einer Perforation innerhalb kürzester Zeit aus uneingeschränktem Wohlbefinden heraus ein akutes Abdomen entwickeln kann. Das Beharren auf wiederholt abgefragte klassische Appendizitiszeichen ist in einer solchen Situation kontraproduktiv. Wird ein Kind mit Verdacht auf Appendizitis dem Kinderchirurgen vorgestellt, so ergeben sich ihm aus den bis dahin erhobenen Befunden und der Interpretation des Allgemeinzustandes des Kindes folgende Alternativen: 1. So rasch als möglich operieren, oder 2. Ausschluss der Diagnose einer Appendizitis und 3. bei Verdacht auf Perforation und Peritonitis die antibiotische Therapie starten und eine Appendektomie im Intervall planen. Eine pragmatische Alternative bei Unsicherheit ist jederzeit die stationäre Aufnahme zur Beobachtung. Allerdings sollte damit auch konsequent eine Nahrungskarenz und Infusionsbehandlung bis zur folgenden
Operationstechnik
Die Appendektomie wird heutzutage beinahe ausschliesslich laparoskopisch oder laparoskopisch assistiert durchgeführt. Die chirurgischen Techniken unterscheiden sich marginal, je nach Philosophie des Hauses. Das Grundprinzip der Resektion an der Basis der Appendix und dem sicheren Verschluss des verbleibenden Appendixstumpfes ist elementar und vom Zugangsweg unabhängig. Ob eine vom Aspekt her unverdächtig imponierende Appendix während der zunächst diagnostischen Laparoskopie entfernt werden soll, ist der Literatur nicht eindeutig zu entnehmen. In den Anfängen der Laparoskopie konnte die subjektive Erfahrung gemacht werden, dass ein beträchtlicher Anteil der Patienten, bei denen die Appendix belassen wurde, innerhalb eines Jahre wiederholt mit rechtsseitigen Bauchschmerzen aufgenommen wurde und eine erneute Laparoskopie, nun mit Appendektomie, erfolgte. Diese Empirie hat dazu geführt, die Appendix im Kindesalter bei der initialen diagnostischen Laparoskopie eher zu entfernen als zu belassen. Eine im Ergebnis hierzu konträre prospektive niederländische Arbeit aus dem Jahr 2001 zeigt auf, dass bei den nicht entfernten Appendizes auch über vier Jahre nach der diagnostischen Laparoskopie in 99 Prozent der Fälle keine Appendizitis auftrat (5). Die Quote von «NegativAppendektomien», also nicht entzündlich veränder-
Die Sonografie ist ein wichtiges diagnostisches Hilfsmittel.
Das Beharren auf klassische Appendizitiszeichen ist kontraproduktiv.
6/14
23
SCHWERPUNKT
ten, aber entfernten Appendizes, beträgt zwischen 5 und 10 Prozent. Retrospektiv konnte eine signifikant erhöhte Rate (24,6% bei adipösen vs. 9,9% bei nicht adipösen Patienten) von Appendektomien normaler Appendizes bei adipösen Jugendlichen festgestellt werden. Da die Fettleibigkeit unter Jugendlichen zunimmt, steigt somit auch die Inzidenz der negativen Appendektomie an (6). Grundsätzlich ist es möglich, eine Appendektomie ambulant durchzuführen. Im klinischen Alltag ergibt sich jedoch zunehmend der Eindruck, dass die Patienten und Eltern hiermit leicht überfordert werden. Die Schmerzbehandlung, Mobilisierung und der Kostaufbau können sich nicht vorhersehbar interindividuell schwierig gestalten. Eine postoperative stationäre Betreuung des Patienten nach laparoskopischer Appendektomie mit Entlassung frühestens am zweiten Morgen nach der OP erscheint in der Abwägung aus Sicherheit, Komfort und dem Wunsch, das Spital frühzeitig zu verlassen, empfehlenswert. Bei ausgedehnter, diffuser, eitriger Peritonitis wird eine längere postoperative Antibiotikatherapie notwendig werden und sich der stationäre Aufenthalt im Rahmen des zu erwartenden verzögerten Erholungsintervalls entsprechend ausdehnen.
Das Prozedere im Rahmen der ambulanten Nachsorge ist in dem Artikel von Martina Frech zusammengefasst (s. Seite 18 ff).
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Stefan Holland-Cunz Chefarzt Kinderchirurgie Universitätskinderspital beider Basel UKBB Spitalstrasse 33 4056 Basel E-Mail: stefan.holland-cunz@ukbb.ch
Literatur: 1. Fleischmann RJ et al. Evaluation of a novel pediatric appendicitis pathway using highand low-risk scoring systems. Pediatr Emer Care 2013; 29: 1060–1065. 2. Yardeni D et al. Delayed versus immediate surgery in acute appendicitis: Do we need to operate during the night? J Pediatr Surg 2004; 39: 464–469. 3. Green R et al. Early analgesia for children with acute abdominal pain. Pediatrics 2005; 116 (4): 978–983. 4. Doria AS et al. US or CT for Diagnosis of appendicitis in children and adults? A meta Analysis. Radiology 2006; 241 (1): 83–94. 5. Van den Broek WT et al. A normal appendix found during diagnostic laparoscopy should not be removed. British Journal of Surgery 2001; 88: 251–254. 6. Kutasy B et al. Increased incidence of negative appendectomy in childhood obesity. Pediatric Surgical International 2010; 26 (10): 959–962.
24 6/14