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Ein Roundtable-Gespräch über Schlafstörungen im Kindesalter
Was bei Schlafstörungen im konkreten Fall in der Praxis zu tun ist, war das Thema einer Expertenrunde am Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen. Anhand anschaulicher Fallbeispiele diskutierten Dr. med. Oswald Hasselmann, Dr. med. Kilian Imahorn, Dr. med. Florian Bandhauer und PD Dr. med. Alexander Möller über nötige und unnötige Abklärungen und Massnahmen aus der Praxisperspektive.
Fall Nr. 1: Eine Mutter beobachtet bei ihrem 7-jährigen Kind ein lautes Schnarchen, unterbrochen von einer sehr leisen Atmung. K. Imahorn: Zunächst möchte ich anmerken, dass mir die Mutter vom Schnarchen ihres Kindes wahrscheinlich gar nicht von sich aus berichten würde. Davon erfährt man oft erst auf Nachfrage, wenn man beispielsweise abklärt, warum Kinder häufig müde sind oder dauernd Probleme mit den oberen Luftwegen haben. A. Möller: Genau, man muss nach Schlafstörungen und der Atmung im Schlaf fragen. Falls von Atempausen die Rede ist, denke ich natürlich an das Schlafapnoesyndrom. Konkret formuliere ich das Nachfragen beispielsweise so: «Wenn Sie ihr Kind beobachten, machen Sie sich Sorgen wegen der Atmung? Haben Sie das Gefühl, das Kind bekommt nicht genug Luft?» Manchmal mache ich das entsprechende Atemgeräusch auch vor, und oft sagen die Eltern dann: «Genau so tönt es!» Dann folgen weitere Fragen: Wie ist der Verlauf in der Nacht? Ist es morgens leicht zu wecken oder nicht? Wichtig ist auch die Frage, ob das Kind am Tag eher etwas aggressiv ist oder sich nicht konzentrieren kann. Tagesmüdigkeit manifestiert sich nämlich bei Kindern recht häufig als Aggressivität. O. Hasselmann: Nicht selten kommen solche Kinder sogar zur ADHS-Abklärung zu mir in die Sprechstunde. Mich würde noch interessieren, ob die Dauer der Apnoe ein relevanter Parameter ist? A. Möller: Es ist relativ selten, dass die Eltern die Apnoedauer konkret angeben können. Ich glaube, dass das Atemmuster relevanter ist. Definiert ist eine Schlafapnoe als ein Aussetzen der Atmung für mindestens zwei Atemzyklen. Um eine Schlafapnoe gemäss dieser Definition zu erkennen, kommt es darauf an, welche Grundatemfrequenz das Kind hat. Bei einem 7-jährigen Kind dauern 2 Atemzyklen 7 bis 8 Sekunden. Da würde man eine Apnoe von 5 Sekunden gar nicht bemerken. Wahrscheinlich dauert eine Apnoe, die man bei einem Kind dieses Alters bemerkt, darum schon mehr als 10 Sekunden.
K. Imahorn: Das ist auch meine Erfahrung in der Praxis. Die Eltern beschreiben keine Apnoen, es sei denn, sie haben Angst, ihr Kind würde ersticken, oder wenn man ihnen das typische Geräusch vormacht. Übrigens mache ich es eher so, dass ich mir von den Eltern das Geräusch vormachen lasse, damit ihnen nichts suggeriert wird. In letzter Zeit ist das alles sowieso einfacher geworden. Fast jeder hat ein Smartphone, mit dem er Videos aufnehmen kann, selbst im Dämmerlicht des Kinderschlafzimmers. Es ist erstaunlich, welche Apnoen man beobachten kann. Manchmal wird die Indikation für eine Operation nur anhand solcher Videos gestellt. F. Bandhauer: Es ist ausserdem wichtig nachzufragen, wie die Reaktion des Kindes auf diese Atempause aussieht. Falls eine motorische Unruhe folgt oder eine Umlagerung auf die Seite, ist das sicher auch ein Hinweis auf eine qualitätsrelevante Apnoe. Ein weiterer Punkt, den die Eltern, zumindest auf Nachfrage, häufig ebenfalls schildern, ist eine typische Kopfhaltung: Das Kind liegt überstreckt, das heisst mit einer Hyperextension des Kopfes, um die Atemwege frei zu halten. Die Videos finde ich auch sehr wichtig, um die Frage nach Apnoen zu beantworten. Wenn man die Eltern dazu auffordert, beobachten sie das Kind wirklich einmal konsequent während 5 bis 10 Minuten. Man kann aus diesen Aufnahmen diagnostisch vieles heraushören. Mit der Zeit hört man sogar, wo die Obstruktion sitzt: Ist es eher ein Nasenschnarchen, ein Gaumensegelschnarchen oder ein tiefes Schnarchen, welches eher mit Apnoen assoziiert ist. Nicht zuletzt gibt man den Eltern mit dem Auftrag für das Video auch das Gefühl, man nehme sie und die Situation ernst. O. Hasselmann: Nun ist es ja so, dass das Schnarchen bei Kindern per se noch kein Grund zur Sorge sein muss – anders als bei den Erwachsenen, bei denen Schnarchen ein Alarmzeichen für ein obstruktives Schlafapnoesyndrom ist. Oder sehen Sie das anders? A. Möller: Schnarchen ist bei Kindern in der Tat häufig. In Studien fand man einen Anteil von 8 bis 10 Pro-
«Primäres Schnarchen ohne zusätzliche Auffälligkeiten in der Anamnese würde ich nicht abklären.»
«Etwa 80 Prozent der Fälle von kindlichem OSAS werden durch eine Tonsillenhyperplasie verursacht.»
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Dr. med. Florian Bandhauer, Oto-Rhino-Laryngologie FMH, St. Gallen
Dr. med. Oswald Hasselmann, Neuropädiatrie, Ostschweizer Kinderspital St. Gallen
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zent schnarchende Kinder. Die Prävalenz des obstruktiven Schlafapnoesyndroms beträgt bei Kindern aber eher nur 1, allenfalls 2 Prozent. Primäres Schnarchen ohne zusätzliche Auffälligkeiten in der Anamnese würde ich nicht abklären. Wenn ein Kind aber jede Nacht ausgeprägt schnarcht, muss man die Anamnese bezüglich möglicher Apnoen schon sehr genau machen. Sollte bei dem Kind ausserdem noch eine Abklärung auf ADHS anstehen, würde ich eine Polysomnografie durchführen. O. Hasselmann: Was veranlassen wir bei einem relevanten obstruktiven Schlafapnoesyndrom? Eine Tonsillektomie, eine Adenotonsillektomie oder nur eine Tonsillotomie? A. Möller: Etwa 80 Prozent der Fälle von kindlichem obstruktivem Schlafapnoesyndrom werden durch eine Tonsillenhyperplasie verursacht und sind mit einer Tonsillektomie geheilt. Wenn ein Kind also keine zusätzlichen Risikofaktoren aufweist, wie beispielsweise eine neurologische Erkrankung, Trisomie 21, Gesichtsoder Kieferfehlbildungen, dann besteht eine extrem hohe Chance, dass das Problem die Tonsillen sind. Wenn man die herausnimmt, sind auch die meisten Kinder geheilt. Das ist die klinische Erfahrung, und das ist auch, was die Literatur sagt. Insofern wäre es spätestens jetzt, nach der OSAS-Diagnose, Zeit für die Überweisung zu einem ORL-Facharzt. F. Bandhauer: In der Praxis ist es häufiger so, dass man die Polysomnografie erst macht, wenn ein OSAS persistiert. Anamnese und Videodokumentation reichen eigentlich für die Indikationsstellung zur Tonsillektomie bei entsprechendem Befund aus – ausser in den bereits genannten Fällen mit Mikrognathie, Malformationen und so weiter.
Fall Nr. 2: Ein 8-jähriges Mädchen ist trotz diverser Bemühungen weiterhin deutlich übergewichtig, sie schnarcht laut, die Tonsillen/ Adenoide sind nicht wesentlich vergrössert. F. Bandhauer: Dieser Fall ist schwieriger – ein adipöses Kind ohne irgendwelche Missbildungen, mit lautem Schnarchen, aber mit unauffälligem Tonsillen- und Adenoidbefund. Was macht man da? Ich bekomme von den Endokrinologen ab und zu solche Kinder zur Operation zugewiesen. Aber: Tut man ihnen damit wirklich etwas Gutes? Ich denke, hier gibt es Grauzonen, in denen man dann von Fall zu Fall entscheiden muss. A. Möller: Umgekehrt gibt es das auch. Von der ORL bekomme ich als Pneumologe in der Regel nur Kinder zur Beurteilung überwiesen, bei denen es Fragezeichen gibt. Entweder ist die Anamnese nicht typisch oder der Befund nicht typisch für die Anamnese. Ich glaube nicht, dass bei einem Kind mit grossen Tonsillen und anamnestisch hochgradigem Verdacht auf ein OSAS die Operation infrage steht. Diese Kinder brauchen meines Erachtens in der Regel gar keine weitere Abklärung. Wenn aber eine Frage offen ist, zum Beispiel wie bei diesem adipösen Kind, dann stellt für mich die Frage: Ist das jetzt ein primäres Schnarchen oder ein obstruktives Schlafapnoesyndrom? Falls sich ein relevantes obstruktives Schlafapnoesyndrom in der Polysomnografie gezeigt hat, sprich: mindestens ein AHI von 10 oder darüber, denke ich, dass «Platz
schaffen» sich lohnt, auch wenn die Tonsillen nicht besonders gross sind. Eine CPAP-Beatmung ist gerade bei einem 8-jährigen Kind ein Riesenproblem. Seit ich mich mit Schlafmedizin befasse, haben wir erst ein einziges adipöses Kind mit einer CPAP-Beatmung ausgerüstet. O. Hasselmann: Es gibt Situationen, bei denen ich die CPAP zeitlich begrenzt anbieten würde, und zwar bei stark adipösen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, die trotz Adenotonsillektomie weiterhin OSAS haben. Die zeitlich begrenzte Beatmung hat hier das Ziel, einen gewissen Erholungseffekt in der Nacht zu ermöglichen, um auch die Motivation tagsüber für ein Ernährungsprogramm zu steigern und letztlich das grundlegende Problem der Adipositas zu lösen. A. Möller: Völlig einverstanden! Es scheint allerdings erstaunlich selten nötig zu sein in der Schweiz. Für die amerikanischen Kollegen ist es hingegen Routine. Woran das liegt, ist eine offene Frage: Vielleicht sehen wir die Kinder zu wenig, vielleicht müsste man routinemässig bei den adipösen Kindern eine Polysomnografie machen, um danach zu suchen? O. Hasselmann: Ich glaube, das wäre richtig. Wir haben hier in St. Gallen damit begonnen, dass mir die Kinder ab einem bestimmten Mass der Adipositas vorgestellt werden. Wir sind inzwischen grosszügiger geworden mit der Polysomnografie, gerade auch um die Adipositas-assoziierte Hypoventilation, ein etwas anderes Krankheitsbild als die Obstruktion, zu erfassen. Ich hätte noch eine Frage an unseren ORL-Fachmann bezüglich der Tonsillotomie. Man sagt, dass eine Tonsillotomie, also eine Teilentfernung der Tonsillen, dem Bedürfnis der Eltern nach Erhaltung von lymphatischem Gewebe entgegenkomme und wir trotzdem das Ziel einer Erweiterung der Atemwege erreichen könnten. K. Imahorn: Das scheint mir eher eine akademische Diskussion zu sein. Die Eltern haben keine Angst vor dem Verlust von lymphatischem Gewebe, sondern vor der Operation und deren Folgen. F. Bandhauer: Das mag sein, aber es gibt schon immer wieder Eltern, denen der Erhalt von lymphatischem Gewebe wichtig ist. Ich glaube allerdings, dass dieser Erhalt nicht wirklich relevant ist. Die Funktion der Tonsillen ist nach den ersten Lebensjahren beendet und beginnt schon relativ früh zurückzugehen. Aufgrund von Studien weiss man, dass die Immunglobulinspiegel bei Kindern nach Tonsillektomien vorübergehend signifikant tiefer sind, sich danach aber wieder erholen. Bei über 4-jährigen Kindern ist dieser Effekt offensichtlich weniger ausgeprägt. Es gibt aber keine wirklich gute Studie, die zeigt, dass die Kinder mit früher Tonsillektomie deshalb häufiger krank sind. Ich denke, man muss den Eltern die Angst nehmen, dass die Kinder durch die Tonsillektomie einen Nachteil erleiden könnten. Ausserdem bleibt bei einer Tonsillotomie in der Regel so wenig lymphatisches Gewebe übrig, dass das sowieso keine Relevanz mehr hätte im Vergleich zum übrigen Gewebe. Schliesslich gäbe es auch nach Adenotonsillektomie noch die Zungengrundtonsillen und die Seitenstränge. Es geht bei der Frage Tonsillotomie oder Tonsillektomie eher um die Morbidität nach der Operation und um die
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Reduktion der Blutung. Die Tonsillotomie hat sicher einen Vorteil in Bezug auf Morbidität nach der Operation. Die Dauer bis zur Wiederaufnahme des Essens ist kürzer, die Schmerzproblematik geringer. Das ist in den Studien ziemlich eindeutig bewiesen. Auch die Blutungsrate war in den meisten Studien nach der Tonsillotomie geringer als nach einer Tonsillektomie. Vor allem die gefährlicheren sekundären, das heisst Spätblutungen traten nach Tonsillotomien seltener auf. Insgesamt ist die Blutungsrate bei Kindern aber auch nach Tonsillektomien bereits sehr tief. Zur Rezidivrate nach Tonsillotomien ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Es gibt gute Arbeiten darüber, dass die Tonsillektomie/Adenotomie das OSAS beim Kind sehr effzient bekämpft, über die Tonsillotomie gibt es noch keine vergleichbar guten Studien. Auch auf die Langzeiterfahrungen mit der Tonsillotomie müssen wir noch warten. Die Anatomie spielt sicher eine Rolle bei der Auswahl der Operationsart. Es gibt Tonsillen, die tief in den Tonsillenlogen liegen, sodass eine Tonsillotomie schwieriger ist. Sie kann in einem solchen, eher unübersichtlichen Fall ähnlich invasiv sein wie eine Tonsillektomie. Anders sieht es bei exophytischen Tonsillen aus, die man wirklich gut intrakapsulär abtragen kann. Letztlich muss man die Eltern im konkreten Fall in die Diskussion miteinbeziehen. Ein klarer Standpunkt des operierenden Arztes, basierend auf Anatomie und Alter des Patienten, hilft den Eltern natürlich bei der Entscheidung. A. Möller: Tonsillotomie oder Tonsillektomie ist eine sehr relevante Frage. Während in Deutschland die Tonsillotomie offenbar viel häufiger gemacht wird, ist es in der Schweiz standardmässig die Tonsillektomie. Wir planen hierzu gerade eine kontrollierte Studie bei Kindern mit OSAS. O. Hasselmann: Manchmal fragen die Eltern, ob man die Tonsillektomie noch etwas hinauszögern kann. Man diskutiert über den Einsatz von Steroidspray oder Montelukast. Wie sieht es damit aus? A. Möller: Wenn ein Kind Schlafapnoen hat, möchte ich nicht gern warten. Ich glaube nicht, dass die topischen Steroide die Tonsillen so beeinflussen, dass damit das Problem gelöst ist. Praktisch alle Kinder, die zu uns ins Schlaflabor gewiesen werden, haben diesen Steroidtrial schon hinter sich. Montelukast ist hier meines Erachtens komplett unwirksam. Das würde ich gar nicht versuchen. F. Bandhauer: Ich denke, dass die topische Steroidtherapie dann erfolgreich ist, wenn auch eine Allergie besteht. Ohne allergische Probleme lohnt sich ein topischer Steroidversuch vor allem dann, wenn eine chronische Rhinorrhoe besteht und die Nasenschleimhaut mitbeteiligt ist. Bei einem sonst blanden Befund – ausschliesslich grosse Tonsillen, grosses Adenoid – macht man den Steroidversuch manchmal auch nur, um den Eltern entgegenzukommen und noch etwas Konservatives vor der Operation zu versuchen. K. Imahorn: In der Regel versuche ich es zuerst mit topischen Steroiden, falls der Verdacht besteht, dass das Problem oben in den Adenoiden oder in der Nase sitzt. Erst wenn das nicht funktioniert, wird das Kind weitergeschickt – in der Regel zum ORL-Facharzt.
Fall Nr. 3: Ein 3-jähriges Kind wälzt sich im Bett hin und her, knirscht mit den Zähnen, lautiert, ist agitiert und lässt sich nicht beruhigen. A. Möller: Ich denke, hier geht es eher in Richtung Neurologie, respektive Schlafstörung – ein Fall für die interdisziplinäre Abklärung, wie wir es an unserem Schlafzentrum machen. O. Hasselmann: Gibt es vielleicht doch pneumologische Faktoren, die eine Parasomnie unterstützen oder provozieren würden? Es könnte ja theoretisch möglich sein, dass bei allergisch bedingter Beeinträchtigung der Atmung Parasomnien nachts eher auftreten könnten. Oder ist das ganz ausgeschlossen? A. Möller: Wenn ein Kind eine Parasomnie hat, zum Beispiel eine REM-assoziierte, und es gibt Arousals aufgrund einer Atemstörung, dann ist es schon so, dass die Atemstörung der Auslöser sein kann. Aber ich denke, hier ist zunächst die Anamnese wichtig. Ich würde nicht primär eine Polysomnografie durchführen, sondern primär das Kind genauer anschauen: Gibt es irgendwelche Hinweise für das Vorliegen eines Restless-legs-Syndroms oder einer anderen Störung? Und allenfalls dann eine Polysomnografie unter dieser Fragestellung durchführen, und sicher eine EEG-Ableitung. K. Imahorn: Ich würde vor allem die Anamnese nochmals vertiefen. Häufig kommt so etwas nur episodisch vor. Dann ist es meistens bereits eine Beruhigung für die Eltern, wenn man ein bisschen Zeit gewinnt und schaut, wie es weitergeht. Häufig ist das Problem damit schon gelöst, falls sonst gar nichts vorliegt, wie in diesem Beispiel. Ich möchte behaupten, dass 95 Prozent solcher Fälle in meiner Praxis damit erledigt sind. Das löst man im Gespräch mit den Eltern. Nebenbei bemerkt ist ein Bruxismus bei Kindern nicht extrem häufig. A. Möller: Wir sehen in der Schlafsprechstunde manchmal solche Kinder, aber dass man bei ihnen eine Polysomnografie veranlasst, kommt relativ selten vor. K. Imahorn: Ein Kinderneurologe hat mir bei einem besonders schweren Fall einmal geraten, die Eltern sollten das Kind eine Stunde nach dem Einschlafen kurz aufwecken und dann wieder einschlafen lassen. Dabei würde sich die Schlafarchitektur verschieben, und das Problem sei gelöst. Ist das etwas Gesichertes? O. Hasselmann: Diesen Tipp kenne ich auch. Man versucht das manchmal beim Schlafwandeln. Wenn man weiss, dass das Kind immer zu einer bestimmten Zeit schlafwandelt, kann man es kurz vorher wecken, kurz mit ihm sprechen und es dann wieder einschlafen lassen. A. Möller: Ich denke auch, dass es sinnvoll ist, das zu versuchen.
Fall Nr. 4: Bei einem 13-jährigen Kind liegt eine nicht geklärte, langsam progredient verlaufende Muskelerkrankung vor, das Kind klagt über morgendliche Kopfschmerzen und nachlassende Schulleistungen. K. Imahorn: Das ist eine klare Indikation zum Überweisen an einen Spezialisten, das muss abgeklärt werden.
Dr. med. Kilian Imahorn, Kinderarzt FMH, Wil
PD Dr. med. Alexander Möller, Pneumologie, Universitätskinderkliniken Zürich
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A. Möller: Auch hier ist die Interdisziplinarität von zentraler Bedeutung, dass nämlich Neurologe, Pneumologe und Kinderarzt sich gemeinsam um solche Kinder kümmern. Es gibt auch Richtlinien, wann man welche Abklärungen machen soll. Beispielweise kamen wir an einem dreitätigen, internationalen Workshop des European Neuromuscle Centre zu dem Fazit, dass bei Verdacht auf eine neuromuskuläre Krankheit an erster Stelle die Atmung im Schlaf zu untersuchen und grosszügig eine Polysomnografie zu veranlassen ist. Wenn die forcierte Vitalkapazität unter 50 Prozent fällt, macht man unabhängig von der Anamnese eine Polysomnografie, weil das in etwa die Schwelle ist, ab der die Kinder hypoventilieren. Wenn das Kind symptomatisch ist, wie in diesem Fall, gehört das selbstverständlich dazu, weil die Anamnese deutlich für eine schlafassoziierte Atemstörung spricht.
Fall Nr. 5: Ein 10-jähriges Kind zeigt im Unterricht eine vermehrte Müdigkeit, häufig liegt der Kopf auf der Tischplatte. A. Möller: Hier ist das primäre Problem die Müdigkeit und nicht die Atmung. Es ist eine sehr ausgedehnte Schlafanamnese nötig und ein Schlafprotokoll: Hat das Kind eine Hypersomnie oder hat es einen Schlafmangel oder hat es einen gestörten Rhythmus? Und: Könnte das eine Narkolepsie sein? Erst danach folgen gegebenenfalls weitere Abklärungen, bei Verdacht die gesamte Narkolepsiediagnostik inklusive Polysomnografie und Multiple-sleep-latency-Test. O. Hasselmann: Das sehe ich genauso. Ich weiss nicht, ob es mit der Vogelgrippeimpfung zusammenhängt, aber wir haben in letzter Zeit vermehrt Narkolepsie bei Jugendlichen und Kindern gesehen. Vielleicht sind wir auch nur stärker sensibilisiert für die Narkolepsie im Kindesalter. Trotzdem müssen wir vermehrt darauf achten und kommunizieren, dass es Narkolepsie im Kindesalter gibt. A. Möller: Wir hatten in Zürich zwei Fälle, bei denen wir überzeugt sind, dass sie mit der Grippeimpfung zusammenhingen. Es bestand eine zeitliche Assozia-
tion, und bei beiden hat es sich nach Immunglobulintherapie gebessert. K. Imahorn: Oft sind die Gründe für übergrosse Müdikeit aber auch ganz trivial. Das beginnt bei den Junioren, die Eishockey spielen und morgens um 4 Uhr aufs Eis müssen, weil es sonst keinen Platz in der Halle gibt. Wenn man genauer nachfragt, ist es am häufigsten der Lebenswandel oder die Schule – die so langweilig mit Unter- oder Überforderung sein kann, dass die Kinder dann eben den Kopf auf den Tisch legen …
Fall Nr. 6: Ein 11-jähriges Kind hat Mühe, nach 22 Uhr einzuschlafen, und ist tagsüber unkonzentriert. K. Imahorn: Das ist wahrscheinlich die beginnende Pubertät, mit der ein anderer Schlafrhythmus beginnt. A. Möller: Das sehe ich genauso. Diese Phasenverschiebung in der Präadoleszenz ist beeindruckend. Oskar Jenni weist zu Recht ja auch immer wieder darauf hin, dass man den Schulunterricht für Adoleszente eigentlich erst um 11 Uhr beginnen sollte. O. Hasselmann: Ich möchte noch ergänzen, dass der nächtliche Gebrauch von Computern ebenfalls die Wachheit fördert. Die Arbeitsgruppe von Christian Cajochen aus Basel hat mehrfach berichtet, dass das LED-Licht von Computerbildschirmen einen Einfluss auf den Melatoninstoffwechsel hat und dadurch die Wachheit eher fördert als das Schlafen*. Ich glaube, da besteht auch noch ein Aufklärungsbedarf in der Öffentlichkeit.
Die Fallberichte wurden von Dr. Oswald Hasselmann zur Verfügung gestellt. Das Gespräch fand am 12. August 2014 am Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen statt und wurde von Dr. Renate Bonifer aufgezeichnet.
*Cajochen C et al. Evening exposure to a light emitting diodes (LED)-backlit computer screen affects circadian physiology and cognitive performance. J Appl Physiol 2011; 110 (5): 1432–1438.
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