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Klassifikation der epileptischen Anfälle und der Epilepsien
In der klinischen Praxis dient die Klassifikation der Epilepsien als wichtige Entscheidungshilfe für das optimale therapeutische Management, zum Beispiel für die Medikamentenwahl oder die frühzeitige Abklärung einer epilepsiechirurgischen Behandlungsoption, und insbesondere auch zur Beurteilung der Prognose bei der Diagnosestellung.
Von Judith Kröll, Karoline Otten und Martin Kurthen
V or drei Jahren hat eine Expertenkommission der Internationalen Liga gegen Epilepsie (ILAE) die bis dahin gebräuchlichen Klassifikationen der Anfälle (1981) (1) und der Epilepsien (1989) (2) revidiert. Die revidierte Klassifikation (3, 4) soll Fortschritte in den Grundlagenund klinischen Neurowissenschaften widerspiegeln und in die klinische Praxis tragen. Ein epileptischer Anfall ist gekennzeichnet durch vorübergehende Zeichen und/oder Symptome, die auf eine abnormale und exzessive oder synchrone neuronale Aktivität des Gehirns zurückzuführen sind (5). Anfälle werden dabei mithilfe einer Standardterminologie beschrieben und klassifiziert. Unter Epilepsie versteht man eine chronische Erkrankung des Gehirns, gekennzeichnet durch die Prädisposition für ein Auftreten unprovozierter Anfälle (5). In der klinischen Praxis galt eine Epilepsie als gesichert, wenn es in einem zeitlichen Abstand von mehr als 24 Stunden zu mindestens zwei unprovozierten Anfällen gekommen ist. Eine Task-Force der ILAE hat 2013 eine neue operationale Epilepsiedefinition vorgeschlagen beziehungsweise empfohlen, die die bisherige Definition präzisieren soll, insbesondere die Beurteilung des Wiederholungsrisikos für weitere Anfälle. Eine Epilepsiediagnose soll bereits nach einem einzigen Anfall gestellt werden können, wenn ein Wiederholungsrisiko für weitere Anfälle ähnlich hoch ist wie das nach zwei unprovozierten Anfällen (ca. 75% oder höher) oder nach zwei Anfällen im Rahmen einer Reflexepilepsie (6). Gerade im Kindesalter sind Ursachen und klinisches Erscheinungsbild der Epilepsien sehr heterogen. Ziel dieses Beitrages ist es, die revidierte Klassifikation vorzustellen, sodass von Kinderepileptologen und Neuropädiatern gestellte Anfalls- und Epilepsiediagnosen in der Praxis verständlich und nachvollziehbar bleiben.
Neue Klassifikation der epileptischen Anfälle
Wie bis anhin unterscheidet man in der Klassifikation der epileptischen Anfälle generalisierte und fokale Anfälle: • «Generalisiert» wird für Anfälle verwendet, die in ei-
nem bilateral verteilten Netzwerk auftreten und sich dort rasch ausbreiten (Tabelle 1). Besonders anzumerken ist, dass die Klassifikation der Absencen insgesamt vereinfacht wurde, neu werden Absencen mit Lidmyoklonien als Unterform der Absencen aufgeführt. Myoklonisch-atonische Anfälle (früher
Tabelle 1: Klassifikation epileptischer Anfälle* (3, 4)
Generalisierte Anfälle • tonisch-klonisch (in jeder Kombination)
Absence typisch atypisch mit speziellen Merkmalen – myoklonische Absence – Lidmyoklonien mit Absence • myoklonisch myoklonisch-atonisch myoklonisch-tonisch • klonisch • tonisch • atonisch
Fokale Anfälle • ohne Einschränkung des Bewusstseins oder
der Aufmerksamkeit – mit motorischen oder autonomen Zeichen – nur subjektiven sensiblen/sensorischen
oder psychischen Phänomenen (entspricht dem Konzept der Aura – mit Einschränkung des Bewusstseins oder der Aufmerksamkeit – mit Entwicklung zu einem bilateralen, konvulsiven Anfall (mit tonischen, klonischen oder tonischen und klonischen Komponenten, ersetzt den Begriff «sekundär generalisierter Anfall»)
Unbekannt • epileptische Spasmen
*Ein Anfall, der nicht ohne Weiteres in eine der vorgestellten Kategorien eingeordnet werden kann, sollte als «nicht klassifiziert» betrachtet werden, bis weitere Informationen seine genaue Diagnose erlauben. Das wird jedoch nicht als eine Klassifikationskategorie aufgefasst (3, 4).
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myoklonisch-astatische Anfälle) werden jetzt als Anfallsform anerkannt. • «Fokal» bezieht sich auf Anfälle, die in einem auf eine Grosshirnhemisphäre beschränkten Netzwerk auftreten. Sie können dabei eng umschrieben oder weiter ausgebreitet sein. Fokale Anfälle werden entsprechend ihrer klinisch führenden Merkmale beschrieben, zum Beispiel fokal-motorisch oder dyskognitiv (Tabelle 1). Für die Anfallsbeschreibung existiert darüber hinaus nochmals eine eigene Nomenklatur (7, 8). Die Unterscheidung zwischen
einem einfach-fokalen Anfall (d.h. Anfall ohne Bewusstseinsstörung) gegenüber einem komplexfokalen Anfall (d.h. mit Bewusstseinsstörung) wurde aufgegeben. Eine weitere Änderung im Vergleich zur Klassifikation von 1981 ist, dass epileptische Spasmen als eigene Untergruppe geführt werden, da bis heute unklar ist, ob sie als generalisierte oder fokale Anfälle einzuordnen sind. Neugeborenenanfälle werden nicht mehr als eigene Anfallsform klassifiziert, da sie mithilfe der oben aufgeführten, neu definierten Kriterien ausreichend beschrieben werden können (nach 3, 4).
Tabelle 2: Elektroklinische Syndrome nach Manifestationsalter (3, 4)
Neugeborenenzeit • benigne familiäre neonatale Epilepsie (BFNE) • frühe myoklonische Enzephalopathie (FME) • Ohtahara-Syndrom (OS)
Kleinkindalter • Epilepsie der frühen Kindheit mit migratorischen fokalen Anfällen • West-Syndrom (WS) • myoklonische Epilepsie der frühen Kindheit (MEI) • benigne frühkindliche Epilepsie (BFE) • benigne familiäre frühkindliche Epilepsie (BFFE) • Dravet-Syndrom (DS) • myoklonische Enzephalopathie bei nicht progredienten Störungen
Kindheit • fiebergebundene Anfälle plus (FA+; «Fieberkrämpfe» plus; können in der frühen Kindheit bzw. im
Kleinkindalter beginnen) • Panayiotopoulos-Syndrom • Epilepsie mit myoklonisch-atonischen (früher: astatischen) Anfällen • benigne Epilepsie mit zentrotemporalen Spikes (BEZTS; Rolando-Epilepsie) • autosomal-dominante nächtliche Frontallappenepilepsie (ADNFLE) • spät beginnende kindliche Okzipitallappenepilepsie (Gastaut-Typ) • Epilepsie mit myoklonischen Absencen • Lennox-Gastaut-Syndrom (LGS) • epileptische Enzephalopathie mit kontinuierlichen Spike-and-Wave-Entladungen im Schlaf (CSWS) • Landau-Kleffner-Syndrom (LKS) • kindliche Absencenepilepsie (KAE)
Adoleszenz und Erwachsenenalter: • juvenile Absencenepilepsie (JAE) • juvenile myoklonische Epilepsie (JME) • Epilepsie mit nur generalisierten tonisch-klonischen Anfällen • progressive Myoklonusepilepsien (PME) • autosomal-dominante fokale Epilepsie mit akustischen Merkmalen (ADFEAM) • andere familiäre Temporallappenepilepsien
Weniger spezifische Altersbeziehung • familiäre fokale Epilepsie mit variablen Herden (Kindheit bis Erwachsenenalter) • Reflexepilepsien
Tabelle 3: Unverwechselbare Konstellationen (3, 4)
• mesiale Temporallappenepilepsie mit Hippocampussklerose (MTLE mit HS) • Rasmussen-Syndrom • gelastische Anfälle bei hypothalamischen Hamartomen • Hemikonvulsions-Hemiplegie-Epilepsie(-Syndrom)
Neue Klassifikation der Epilepsien
Epilepsien können nach verschiedenen Kriterien und klinischen Merkmalen eingeteilt beziehungsweise klassifiziert werden. Unverändert steht eine ätiologische Einteilung zur Verfügung. Gleichzeitig ist eine Zuordnung zu vier verschiedenen Kategorien möglich. Innerhalb dieser Kategorien besteht eine Hierarchie bezüglich der Spezifität der Merkmale, die die Diagnose bedingen. Weiter ist die Möglichkeit gegeben, den natürlichen Verlauf einer Epilepsie einzubeziehen. Die neue Klassifikation führt ausserdem das Konzept der epileptischen Enzephalopathie wieder ein. Ätiologische Einteilung der Epilepsien: Die Begriffe idiopathisch, symptomatisch und kryptogen werden aufgegeben und durch die folgenden Konzepte ersetzt: 1. Genetisch: Die Epilepsie ist nach aktuellem Wis-
sen das direkte Ergebnis eines bekannten oder vermuteten genetischen Defekts (z.B. Dravet-Syndrom und SCN1A-Mutation). 2. Strukturell-metabolisch: Die Epilepsie ist beispielsweise Folge einer Infektion, eines Traumas oder umschriebener Aufbaustörungen der Hirnrinde. 3. Die Ätiologie ist unbekannt.
Einteilung der Epilepsien in vier Kategorien: Diese Kategorisierung soll insbesondere den Gebrauch des Begriffs Syndrom einschränken und seine Bedeutung präzisieren. 1. Elektroklinische Syndrome: Hierbei handelt es
sich um klinische Entitäten, die durch genetische oder entwicklungsbedingte Merkmale, das heisst Erkrankungsalter, Anfallsformen, EEG-Befund, klinischen Verlauf und Prognose verlässlich identifiziert werden können (z.B. sog. Rolando-Epilepsie oder die Absencen-Epilepsie des Kindesalters; Tabelle 2). 2. Unverwechselbare Konstellationen: Hierbei handelt es sich um Krankheitsentitäten, die nicht als elektroklinisches Syndrom eingeordnet werden können. Durch Nachweis zum Beispiel struktureller Läsionen ergeben sich diagnostisch bedeutsame Auswirkungen auf die Behandlung, speziell epilepsiechirurgische Eingriffe. Hierzu gehören zum Beispiel die mesiale Temporallappenepilepsie mit Hippocampussklerose oder hypothalamische Hamartome mit gelastischen Anfällen (Tabelle 3).
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3. Strukturelle/metabolische Epilepsien: Diese Gruppe beinhaltet Epilepsien aufgrund spezifischer struktureller oder metabolischer Läsionen oder Zustände, die jedoch nach derzeitigem Verständnis kein spezifisches elektroklinisches Muster darstellen, obwohl sich das in Zukunft ändern kann. Deswegen stellen diese Entitäten eine niedrigere Spezifitätsstufe als die beiden vorangegangenen Gruppen dar, zum Beispiel Epilepsie bei TuberöseSklerose-Komplex, nach Schlaganfall oder perinatalem Insult und so weiter (Tabelle 4).
4. Epilepsien unbekannter Ursache: Diese Epilepsien wurden in der Vergangenheit als kryptogen bezeichnet. Es werden alle Epilepsien subsumiert, die nicht in die diagnostischen Kategorien 1 bis 3 passen. Sie können zunächst auf der Basis des Vorhandenseins oder Fehlens einer bekannten strukturellen oder metabolischen Störung (vermutliche Ursache) und dann auf der Basis des primären Anfallsbeginns (generalisiert versus fokal) unterschieden werden.
Epileptische Enzephalopathie
Das Konzept der epileptischen Enzephalopathie beinhaltet die Vorstellung, dass bestimmte Formen epileptischer Aktivität zu schweren kognitiven Störungen und Verhaltensstörungen führen können. Das geschieht unabhängig davon beziehungsweise zusätzlich zu dem, was man aufgrund der zugrunde liegenden Pathologie (z.B. kortikale Malformation) erwarten würde. Diese entweder globalen oder umschriebenen Störungen können sich ausserdem mit der Zeit verschlechtern. Gleichzeitig beinhaltet dieses Konzept der epileptischen Enzephalopathie, dass eine Unterbindung der epileptischen Aktivität im Gegenschluss zu einer Verbesserung von Kognition und Verhalten führen kann. Dieser Aspekt spielt gerade in der Therapie kindlicher Epilepsien eine grundlegende Bedeutung, da die Definition epileptische Enzephalopathie auf zirka 40 Prozent aller Epilepsien zutrifft, die sich innerhalb der ersten drei Lebensjahre manifestieren (3, 4).
Zusammenfassung
In der klinischen Epileptologie sind die exakte Beschreibung und die Diagnose von Anfällen, die Abklärung ihrer Ätiologie sowie die korrekte Einordnung der Epilepsie Grundvoraussetzung für jede Therapieentscheidung. Die revidierte Klassifikation der epileptischen Anfälle und Epilepsien soll diese klinischen Gesichtspunkte erfüllen und Diagnosen «vereinheitlichen». Für die Zukunft soll so eine Plattform für die Organisation von Informationen über unterschiedliche Epilepsieformen (oder Anfallsformen) geschaffen werden, die sowohl bezüglich Therapie (z.B. Anwendung und Entwicklung von Antiepileptika) als auch in der klinischen sowie in der Grundlagenforschung von Nutzen ist. Trotz einer verbindlichen Verabschiedung wird die neue Klassifikation zum Teil sehr kontrovers diskutiert und konnte die «alte» Klassifikation noch nicht vollständig verdrängen.
Tabelle 4: Epilepsien aufgrund von und eingeteilt nach strukturell-metabolischen Ursachen (3, 4)
• Malformationen der kortikalen Entwicklung (Hemimegalenzephalie, Heterotopien etc.) • neurokutane Syndrome (Tuberöse-Sklerose-Komplex, Sturge-Weber-Syndrom etc.) • Tumoren • Infektionen • Traumen • Angiome • perinatale Insulte • Schlaganfälle • etc.
Zustände mit epileptischen Anfällen, die traditionell nicht als eine Epilepsieform per se betrachtet werden, sind benigne neonatale Anfälle (BNA) und fiebergebundene Anfälle (FA, «Fieberkrämpfe»).
Korrespondenzadresse: Dr. med. Judith Kröll Leitende Ärztin Klinik für Kinder und Jugendliche Schweizerisches Epilepsie-Zentrum, Klinik Lengg AG Bleulerstrasse 60, 8008 Zürich E-Mail: judith.kroell@swissepi.ch
Literatur: 1. Commission on Classification and Terminology of the International League Against Epilepsy. Proposal for revised clinical and electrographic classification of epileptic seizures. Epilepsia 1981; 22: 489–501. 2. Commission on Classification and Terminology of the International League Against Epilepsy. Proposal for revised classification of epilepsies and epileptic syndromes. Epilepsia 1989; 30: 389–399. 3. Berg AT, Berkovic SF, Brodie et al. Revised terminology and concepts for organization of seizures and epilepsies: Report of the ILAE Commission on Classification and Terminology, 2005–2009. Epilepsia 2010; 51 (4): 676–685. 4. Krämer G. Revidierte Terminologie und Konzepte zur Einteilung von epileptischen Anfällen und Epilepsien: Bericht der Klassifikations- und Terminologiekommission der Internationalen Liga gegen Epilepsie, 2005–2009. Akt Neurol 2010; 37: 120–130. Autorisierte Übersetzung des Artikels von Berg AT, Berkovic SF, Brodie M et al.: Revised Terminology and Concepts for Organization of Seizures and Epilepsies: Report of the ILAE Commission on Classification and Terminology, 2005–2009. Original erschienen in Epilepsia 2010. 5. Fisher RS, Emde Boas W von, Blume W et al. Epileptic seizures and epilepsy: definitions proposal by the International League Against Epilepsisy (ILAE) and the International Bureau for Epilepsy (IBE). Epilepsia 2005; 46: 470–472. 6. Fisher RS, Acevedo C, Arzimanoglou A et al. An Operational Clinical Defnition of Epilepsy. 2013; www.ILAE.org 7. Blume WT, Lüders HO, Mizrahi E et al. Glossary of descriptive terminology for ictal semiology: Report of the ILAE Task Force on Classification and Terminology. Epilepsia 2001; 42: 1212–1218. 8. Blume WT, Lüders HO, Mizrahi E et al. Glossar einer deskriptiven Terminologie für die iktale Semiologie. Bericht der Task Force der Internationalen Liga gegen Epilepsie (ILAE) zur Klassifikation und Terminologie; autorisierte deutsche Übersetzung (G. Krämer): Akt Neurol 2001; 28: 448–454.
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