Transkript
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«Wir wollen als Eltern ernst genommen werden!»
Interview mit der Mutter zweier Söhne mit Cochleaimplantaten
Während die älteste Tochter ganz normal hören kann, wurden zwei Söhne praktisch gehörlos geboren. Beide tragen nun ein Cochleaimplantat. Warum sich die Eltern dafür entschieden haben und wie die Mutter den Familienalltag mit vielfältigen zusätzlichen Verpflichtungen wegen der Söhne meistert, erzählte sie uns in ihrem Zuhause in der Nähe von Zürich.
Ärzte sollten das Hörscreening ernster nehmen.
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P ädiatrie: Wann wurde bemerkt, dass Ihre Söhne kaum etwas hören konnten? Frau M: Bei Julian, der jetzt im April 6 Jahre alt wird, fiel das Hörscreening nach der Geburt 2-mal schlecht aus. Dann wurde mir gesagt, ich solle noch einen Hörtest im Kinderspital machen lassen. Das haben wir 2 Monate später gemacht, als er ungefähr 8 Wochen alt gewesen ist. Aber erstaunlicherweise sagte der Arzt, dass mein Sohn gut hören würde! Erst später habe ich erfahren, dass gehörlose Menschen Geräusche über Knochenleitung wahrnehmen können. So muss das damals gewesen sein, denn Julian reagierte, obwohl er eigentlich nichts hören konnte. Ich habe das damals geglaubt, denn da sass ja ein Arzt, und ich selbst hatte ja keine Ahnung.
Und wie ging es nach dieser Fehldiagnose weiter? Frau M: Nach zirka 9 Monaten wurde mir klar, dass mit Julian etwas nicht stimmen kann. Er hat nur noch gelacht oder nur geweint und gar keine anderen Laute mehr von sich gegeben. Gleichzeitig hat er sich auch nicht mehr in der Wohnung zurechtgefunden. Er wusste nie, wo ich bin, und verlor immer wieder die Orientierung. Dann bin ich mit ihm zum Arzt gegangen, der mich zu einer HNO-Spezialistin überwiesen hat. Die hat dann zwei Hörscreenings durchgeführt, immer im Abstand von einem Monat, und nach dem zweiten oder dritten Mal hat sie uns an das Uni-spital in Zürich überwiesen. Dort wurde dann der Hörtest gemacht, der eindeutig zeigte, dass Julian höchstgradig innenohrschwerhörig ist, also sozusagen gehörlos.
Also wussten Sie bei Ihrem zweiten Sohn schon gleich Bescheid … Frau M: Ja, im Grunde schon. Im Nachhinein war mir aufgefallen, dass schon während der Schwangerschaft mit Julian klar gewesen ist, dass er nichts hörte. Er ist nie erschrocken bei lauten Geräuschen, ganz anders als in meiner ersten Schwangerschaft mit meiner Tochter. Und dann beim Tim ist die Schwangerschaft ähnlich gewesen wie bei Julian. Tim war zwar ein zappeliger Bub, aber er hat auch nicht auf
Umweltgeräusche reagiert. Als dann noch das erste Hörscreening negativ ausfiel, war mir sofort klar, dass er nichts hören kann. Aber man hat mir das nicht geglaubt. Das komme schon einmal vor mit dem Hörscreening, und das werde schon noch gut, sagte zum Beispiel die Krankenschwester im Spital. Es hat mich wirklich verrückt gemacht, dass das alle ausser mir auf die leichte Schulter genommen haben. Ich finde einfach, man sollte die Eltern wirklich ernst nehmen, gerade in Familien, in denen es bereits gehörlose Kinder gibt. Am Ende musste ich Tim selbst im Unispital anmelden, weil das sonst nicht geklappt hätte. Und mein Verdacht bestätigte sich am Ende: Auch Tim konnte nichts hören.
Wie rasch haben Sie sich für die Implantate entschieden? Frau M: Das haben wir uns bei Julian sehr lange überlegt. Wir haben uns bei ihm überhaupt schwergetan mit dem Gedanken, dass er taub ist. Er hatte also 14 Monate lang einfach nichts gehört, und ich hatte im Nachhinein Mühe, damit umzugehen. Zu wissen, dass er mich 14 Monate lang nicht verstanden hat und ich wegen Sachen mit ihm geschimpft habe, die er gar nicht verstehen konnte. Es tut mir noch heute weh, wenn ich daran denke. Als Erstes habe ich dann angefangen, die Gebärdensprache zu lernen. So konnten wir uns wenigstens verständigen. Nach 3 Monaten wurde uns klar, dass wir Julian hörend erziehen wollten. Die Gebärdensprache ist ja nicht unsere Muttersprache, und wir hätten sehr viel investieren müssen, um unsere Kinder auf den Stand zu bringen, dass sie mit anderen mithalten könnten. Ausserdem haben wir ja auch schon eine Tochter, die ganz normal hört. Es wäre schwierig gewesen, in zwei verschiedenen Welten zu leben, also in einer hörenden und in einer gehörlosen Welt. Gut, wir leben auch jetzt in zwei Welten, aber unsere Söhne sind doch näher an der hörenden Welt. Zum Beispiel geht Tim jetzt in eine Spielgruppe für hörgeschädigte Kinder, aber er hat auch hörende Freunde. Unsere Söhne können ihre Freundeskreise ausleben, was für uns vieles einfacher macht, auch im Alltag. Die Gebärdensprache wenden wir manchmal aber
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auch noch an, zum Beispiel wenn wir schwimmen gehen und die Geräte abgelegt werden müssen.
Wann wurden die Kinder operiert? Frau M: Zuerst muss man andere Hörgeräte ausprobieren. Es war aber schon nach jeweils 4 Wochen klar, dass Julian und Tim mit dem Hörgerät praktisch nichts hören. Bei Julian wurde die Gehörlosigkeit erst erkannt, als er schon 14 Monate alt war. Er wurde im Alter von 2 Jahren beidseitig operiert. Bei Tim haben wir das schon mit 1 Jahr machen können. Diesen Unterschied merkt man extrem, in der Aussprache, im Verhalten, es sind wirklich zwei Welten. Wir haben bei Tim viel mehr gewonnen als bei Julian.
Was war Ihre grösste Hoffnung vor der Operation? Frau M: Unsere Hoffnung war, dass unsere Kinder sprechen und uns verstehen lernen könnten und so auch an unserem Leben teilnehmen. Alles, was darüber hinausgeht, ist sozusagen eine Zugabe. Sie können fernsehen, auch Musik hören geht zum Teil. Ein Instrument spielen – da hoffen wir noch, dass das irgendwann klappt, dass sie also alle Frequenzen wahrnehmen können, die ein Instrument hergibt. Aber die grösste Priorität war immer, dass sie sprechen können und uns verstehen können und gut in die Familie integriert sind.
Und was war Ihre grösste Sorge? Frau M: Unsere grösste Sorge war immer: Wenn das nicht funktioniert, was machen wir dann? Wir haben beiden Kindern gleich beidseitig implantieren lassen, dabei verliert man auf alle Fälle noch jegliches eventuell vorhandene Restgehör. Wir haben uns auch grosse Sorgen gemacht, dass bei der Operation ein Gesichts- oder Geschmacksnerv zerstört werden könnte.
Nun ist alles gut gegangen, aber inwieweit haben sich Ihre Hoffnungen erfüllt? Frau M: Sie haben sich teilweise erfüllt. Beim Julian hat sich noch nicht alles erfüllt, er hat noch Mühe mit der Aussprache. Er hinkt eben noch zwei Jahre hinterher. Er hört auch nicht gerne Musik, wenn es für ihn so ein Frequenzgemisch ist. Aber: Julian hat bei der ersten Einstellung prompt reagiert. Er hatte kaum das Gerät getragen, als er schon einen ersten Ton gehört und sofort reagiert hat. Er hat die Geräte von Anfang an immer anbehalten wollen und gerne getragen. Bei Tim war das anders. Er war viel jünger und mochte Geräte zu Beginn nicht. Er hat sie immer abgezogen. Tim hat im Gegensatz zu Julian ein paar Monate gebraucht, bis er gemerkt hat, was ihm die Geräte bringen. Tim hat nur einen kleinen Sprachverlust, er spricht und versteht fast alles richtig. Er kann auch besser Musik hören als Julian. Bei Tim haben sich alle unsere Hoffnungen erfüllt.
Wie hat sich das Verhalten der Kinder nach der Implantation verändert? Frau M: Julian hat eine andere Ausstrahlung bekommen. Er ist fröhlicher geworden. Er ist immer ein fröhliches Kind gewesen, aber irgendwie ist er durch die Geräte noch fröhlicher geworden. Er hat dann auch
versucht, sich bemerkbar zu machen, was vorher nicht so gewesen ist. Früher war er immer ganz nah bei mir und traute sich nicht weg. Auch das hat sich sehr geändert, und er ist jetzt unabhängiger von mir. Bei Tim war die Veränderung nicht so extrem.
Wie gross ist der zusätzliche Aufwand, den Sie wegen der Behinderung Ihrer Söhne haben? Frau M: Das ist nicht in Stunden zu beziffern. Der Aufwand ist sehr hoch, so hoch, dass ich nicht regelmässig arbeiten gehen kann. Das ist nicht machbar bei den vielen Terminen: Tim hat einmal wöchentlich eineinhalb Stunden Audiopädagogik daheim, Julian das Gleiche im Kindergarten. Dafür muss ich zwar selbst nichts machen, aber dafür 2-mal in der Woche mit Julian zur Logopädie, das sind zweieinhalb Stunden pro Tag. Im ersten Jahr nach der Implantation mussten wir alle 1, 2 Monate ans Unispital kommen, um die Geräte neu einzustellen und einen Hörtest zu machen. Mit zwei kleinen Kindern kann man das nicht auf einmal machen, sondern es braucht zwei separate Termine. Im zweiten Jahr geht man alle 3 bis 6 Monate und ab dem vierten Jahr 1- bis 2-mal im Jahr. Damit ist immer ein ganzer Vormittag weg. Einmal pro Jahr kommt eine logopädische Abklärung dazu, auch im Unispital. Das sind die Therapietermine. Aber auch daheim ist noch eine ganze Menge zu erledigen. Ich sollte ein Tagebuch führen, aufschreiben, zeichnen und einfach sehr, sehr viel mit den Kindern reden. Man muss einfach viel mehr mit einem schwerhörigen Kind sprechen als mit einem hörenden. Und neben all dem kommt auch noch das normale Familienleben mit drei Kindern. Da darf einfach gar nichts schieflaufen, sonst fällt das ganze Programm ins Wasser.
Wie geht die ältere, hörende Schwester mit ihren Brüdern um? Frau M: Vor allem wenn sie merkt, dass die Brüder wieder viel mehr Aufmerksamkeit bekommen als sie, wird sie auffälliger. Sie will auch mehr Aufmerksamkeit haben. Für sie ist es recht schwierig. Wir versuchen ihr einen Ausgleich zu bieten, indem wir auch einmal nur mit ihr etwas unternehmen, sodass sie auch zu ihrem Recht kommt. Im Alltag daheim gibt es eigentlich keine Probleme. Sie spielt gern mit ihren Brüdern und hilft ihnen auch, wenn sie die Wörter nicht wissen, und erklärt sie ihnen. Früher wollte sie immer mit ans Spital. Dann durfte sie einmal mitkommen und hat gemerkt, dass es gar nicht lustig ist, zwei Stunden stillzusitzen und Hörtests zu machen.
Haben Ihre zwei Söhne Probleme wegen der Schwerhörigkeit? Frau M: Bei Tim kann man gar nicht sagen, ob er das als Problem empfindet oder nicht. Für Julian ist es jedenfalls kein wirkliches Problem. Nur manchmal stört es ihn, dass er im Kindergarten der Einzige ist mit einem Hörgerät. Er würde sich gerne mehr mit Freunden treffen, die das Gleiche haben, also ein Implantat oder ein Hörgerät. Es gibt allerdings ein Problem, das nichts mit dem Hören an sich zu tun hat. Die Geräte sind gross und gut zu sehen, darum trägt Julian jetzt
Bei verdächtigem Befund sollte man das Hören gleich weiter abklären und nicht hoffen, dass alles von selbst gut wird.
Eltern werden von Ärzten viel zu oft auf später vertröstet.
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längere Haare, um sie zu verbergen. Beim Hören an sich gibt es allenfalls Probleme, wenn viele Leute zu Besuch sind und durcheinanderreden. Das wird den beiden schnell zu viel, und sie gehen in ihr Zimmer, um ihre Ruhe zu haben. Auch zu viel Störlärm, zum Beispiel in einem Einkaufszentrum, macht ihnen Stress, und sie werden dann sehr zappelig und unruhig. Wir versuchen solche Situationen zu vermeiden.
Werden die beiden später in eine normale Schule gehen? Frau M: Ja, das hoffen wir. Julian ist jetzt im zweiten Regelkindergarten bei uns im Dorf, und das funktioniert sehr gut. Er wird nach den Sommerferien in die Regelklasse hier im Dorf gehen, mit Zusatzunterstützung. Ob die Schule dann über alle neun Jahre funktioniert, scheint mir fraglich. Es sind doch sehr grosse Klassen mit ungefähr 25 Kindern und viel Störlärm. Vor allem wenn noch Fremdsprachen dazukommen, wird es für Julian wahrscheinlich sehr schwer in einer grossen Klasse. Wir nehmen es dann, wie es kommt. Tim wird sicher viel weniger Probleme haben.
Wie sehen Ihre Erwartungen für die Zukunft aus? Frau M: Wichtig ist uns natürlich, dass unsere Kinder einmal einen Beruf erlernen können, an dem sie Freude haben. Und wir wünschen uns, dass unsere Gesellschaft offener wird gegenüber hörbehinderten Menschen. Mir kommt es oft so vor, dass schwerhörig mit dumm gleichgesetzt wird. Meine Kinder sind sehr intelligent, und ich will, dass sie akzeptiert werden. Das wären meine Erwartungen an die Gesellschaft. Von der Medizin erhoffe ich mir, dass es eines Tages vielleicht noch leistungsfähigere und kleinere Hörgeräte geben wird.
Im Rückblick: Was hätten die Ärzte besser machen können? Frau M: Die Ärzte hätten uns als Eltern früher ernst nehmen können, als wir sagten, dass etwas mit den Kindern nicht stimmt. Sie sollen die Eltern nicht vertrösten, sondern gleich sagen: Kommen Sie, wir machen einen Hörtest. Das ist meine wichtigste Botschaft an die Ärztinnen und Ärzte. Ich habe auch schon oft von anderen Betroffenen gehört, dass die Ärzte Eltern viel zu oft vertrösten. Die Ärzte sollen die Eltern ernst nehmen! Und sie sollen das Hörscreening gezielter einsetzen und ernster nehmen. Wenn es negativ ausfällt, sollen sie nicht sagen, dass das alles schon noch von selbst gut wird. Sie sollen vielmehr sagen: Lassen Sie das Hörscreening nochmal in 6 Wochen machen, es kann sein, dass es dann gut ist, aber es kann auch sein, dass es dann negativ ist. Es hätte unseren Kindern sehr geholfen, wenn die Ärzte sie von Anfang an genauer untersucht hätten. Das gilt übrigens auch für andere Therapeuten. Auch sie sollten die Eltern und deren Beobachtungen ernster nehmen.
Wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Dr. Renate Bonifer; die Namen der Betroffenen wurden geändert, um die Privatsphäre der Familie zu schützen.
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