Transkript
ALLERGIE
Mythen und klinische Realität
Hyposensibilisierung bei allergischer Rhinitis
Vor gut 100 Jahren publizierten Leonard Noon und John Freeman die Grundzüge der Hyposensibilisierungstherapie gegen Heuschnupfen. Diese ist mittlerweile «State of the Art», doch nach wie vor ranken sich darum einige Mythen. Widerspruch kommt nun von einem Allergologenteam aus England und Frankreich, das die ihrer Ansicht nach ebenso weit verbreiteten wie falschen Annahmen zur Hyposensibilisierung Punkt für Punkt widerlegt.
A ls Noon und Freeman 1911 in «The Lancet» ihre wegweisenden Arbeiten publizierten (1, 2), waren sie ihrer Zeit voraus. Mit der exakten Beschreibung des Verfahrens ermunterten sie Nachahmer, das neue Verfahren mehr oder minder wahllos an allen möglichen Patienten auszuprobieren – auch an vielen, für die es gar nicht geeignet war. Das Resultat seien nicht nur sehr unterschiedliche Erfolgsraten gewesen, sondern auch die Entstehung einer Reihe irreführender Mythen, die sich bis heute hartnäckig hielten, so Moisés A. Caldéron vom Imperial College London und seine Koautoren A. William Frankland und Pascal Demoly (3). In ihrem Artikel schildern sie sieben gängige Mythen zur Hyposensibilisierung und die dagegen sprechenden Fakten, um die ihrer Ansicht nach falschen Annahmen endgültig zu begraben und insbesondere auch den Nutzen der sublingualen Immuntherapie (SLIT) zu belegen.
Mythos 1: Allergische Rhinitis ist nicht so schlimm
Die Symptome einer allergischen Rhinitis sind schwerer und beeinträchtigender als viele glauben. So zeigte sich beispielsweise in einer grossen Umfrage in Europa, dass zwei Drittel der Patienten unter mindestens einem schweren Symptom leiden, das ihren Schlaf, ihre Arbeitsfähigkeit und/oder das Wohlbefinden erheblich beeinträchtigt. Hinzu komme, so die Autoren, dass allergische Rhinitis noch immer unterdiagnostiziert und nicht in ausreichendem Masse behandelt würde. Sie zitieren als Beispiel eine dänische Studie, wonach 83 Prozent der Patienten mit mittelschweren bis schweren Symptomen nicht optimal behandelt wurden, das heisst, sie erhielten nur Antihistaminika oder überhaupt keine Therapie.
Mythos 2: Hyposensibilisierung für alle!
Die Hyposensibilisierung ist nicht gleichermassen für alle Patienten mit allergischer Rhinitis geeignet. Auf-
grund doppelblind, plazebokontrolliert und randomisiert durchgeführter Studien weiss man mittlerweile, dass der potenzielle Erfolg umso höher ist, je schwerer die Symptome sind, unter denen der Patient zu leiden hat. Das heisst nicht, dass Patienten mit leichter allergischer Rhinitis gar nicht von einer Hyposensibilisierung profitieren könnten, aber das zu erwartende Ausmass des Erfolgs ist geringer. So ergab eine plazebokontrollierte Studie mit sublingualer Allergentherapie (SLIT), dass der Unterschied in der Wirksamkeit zugunsten der SLIT im Vergleich mit Plazebo umso höher ausfiel, je schwerer die Symptomatik zu Beginn der Studie war: plus 15 Prozent bei leichten, plus 26 Prozent bei mittelschweren und plus 37 Prozent bei schweren Symptomen. Auch in weiteren Studien kam man zu dem Résumé: Je schwerer die Symptome, umso grösser der klinische Nutzen einer SLIT.
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Mythos 3: SLIT hilft nicht bei allergischer Rhinitis
Es ist nicht selten zu hören, dass die Hyposensibilisierung im Vergleich mit einer symptomatischen, medikamentösen Therapie nicht viel bringe. Dabei gebe es mittlerweile viele Metaanalysen, systematische Übersichtsarbeiten und sehr gute klinische Studien, welche eine gute Wirksamkeit der Hyposensibilierung bei Pollenallergie und auch anderen Allergenen belegten, einschliesslich der sublingualen Methode (SLIT). Die Zweifel beruhten auf kleinen, mangelhaften Studien vor 1980, deren widersprüchliche Ergebnisse heutzutage jedoch als widerlegt gelten dürften, schreiben Caldéron, Frankland und Demoly.
Mythos 4: Hyposensibilisierung hilft nicht kurzfristig
Die Tatsache, dass eine Hyposensibilisierung über mehrere Jahre hinweg empfohlen wird, hat zu dem Missverständnis geführt, dass man auch erst nach Jahren mit Erfolg rechnen dürfe. Expositionsstudien, sei es im natürlichen Umfeld oder in Expositionskammern, belegten jedoch, dass eine Symptomlinderung bereits nach wenigen Monaten oder gar nur Wochen nach Beginn der Therapie einsetze, so die Autoren. Übrigens berichteten bereits die Pioniere der Hyposensibililisierung, dass die klinischen Effekte «nach wenigen Wochen bis zu 8 Monaten» eintreten (1, 2). In den meisten aktuellen, grossen Studien wurde die Behandlung 2 bis 4 Monate vor der Pollensaison begonnen und eine Wirksamkeit bereits in der ersten Saison beobachtet; das gilt auch für die SLIT.
Mythos 5: Ohne fortlaufende Therapie verschwindet die Wirkung
Richtig ist, dass die Hyposensibilisierung mehr als ein Jahr lang durchgeführt werden muss, um eine nachhaltige Wirkung zu erzeugen. Hält man die Therapie jedoch 3 Jahre lang durch, so besteht – zumindest für Pollen-induzierte allergische Rhinitis – eine gute Chance auf Erfolg. Für die Pollen-induzierte allergische Rhinitis ist nachgewiesen, dass eine mehrjährige subkutane (SCIT) oder sublinguale (SLIT) Hyposensibilisierung zu einer anhaltenden klinischen Besserung der Symptome führt – auch nach Ende der Behandlung. Die Hyposensibilisierung führt zu einer Verschiebung des T-Lymphozyten-Spektrums, das heisst weg von einer allergenen Reaktion hin zur Toleranz gegenüber den Pollen. SCIT oder SLIT beseitigt somit letztlich die Ursache der allergischen Reaktion – eine Wirkung, die eine rein symptomatische, medikamentöse Therapie niemals erreichen kann.
ker in Studien ausmachten. Auch habe man zeigen können, dass der Sensitivierungsgrad vor der Behandlung nichts darüber aussagt, ob die Hyposensibilisierung erfolgreich sein wird oder nicht.
Mythos 7: SLIT zuhause ist nicht sicher
Die erste Gabe einer SLIT sollte wegen des Anaphylaxierisikos auf alle Fälle unter ärztlicher Beobachtung erfolgen. Treten jedoch keine bedenklichen Reaktionen auf, so dürfen die weiteren Einnahmen zuhause erfolgen. Man schätzt, dass zwischen 2000 und 2010 weltweit etwa 1 Milliarde SLIT-Dosen eingenommen wurden; bekannt geworden seien nur 11 Fälle anaphylaktischer Reaktionen, die allesamt nicht tödlich verliefen und auf eine fehlerhafte Anwendung der SLIT zurückzuführen seien, so die Autoren. Trotzdem müsse man selbstverständlich Ärzte wie Patienten immer wieder an das potenzielle Anaphylaxierisiko bei jeglicher Immuntherapie erinnern, damit sie die Symptome rasch und sicher erkennen.
Mehr Forschung bei Kindern gefordert
Zu guter Letzt gehen Caldéron, Frankland und Demoly noch darauf ein, dass sich die Ausprägung einer allergischen Rhinitis im Lauf des Lebens verändern kann – beispielsweise in Richtung «Etagenwechsel» und der Entwicklung von Asthma oder auch in Richtung eines spontanen Verschwindens der Symptome. Ob und wie man den Verlauf in früher Kindheit beeinflussen könnte, ist nicht bekannt. Bis jetzt wird die Immuntherapie aus Sicherheits- und Compliancegründen erst ab einem Alter von 5 Jahren empfohlen. Die Autoren fordern, dass man künftig eine Hyposensibilisierung bei Pollenallergie bereits bei Kindern unter 5 Jahren erwägen beziehungsweise in Studien prüfen sollte, auch mit neuen Darreichungsformen wie Pflastern.
Renate Bonifer
1. Noon L. Prophylactic inoculation against hay fever. Lancet 1911; 1: 1572–1573. 2. Freeman J. Further observation on the treatment of hay-fever by hypodermic inoculation of pollen vaccine. Lancet 1911; 2: 814–817. 3. Calderon MA, Frankland AW, Demoly P. Allergen immuntherapy and allergic rhinitis: false beliefs. BMC Medicine 2013; 11: 255. www.biomedcentral.com/1741–7015/ 11/155.
Mythos 6: Hyposensibilisierung hilft nicht bei Patienten mit mehr als einer Allergie
Für diesen Mythos haben Caldéron, Frankland und Demoly nur milden Spott übrig: «Das ist, als würde man sagen, dass Antihistaminika nicht für polysensitive Patienten geeignet sind.» Die Immuntherapie habe vielmehr in vielen guten Studien ihre Wirksamkeit bewiesen, auch bei Patienten mit mehreren Allergien, die überdies den grössten Teil der Pollenallergi-
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