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SCHWERPUNKT
Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen
Obwohl die aktuellen Kenntnisse über auditive Verarbeitungsstörungen noch lückenhaft sind, ist es sinnvoll, bei betroffenen Personen auf Basis des derzeitigen Wissenstands eine Diagnostik durchzuführen und gegebenenfalls eine Therapie einzuleiten, da das Kind sonst Gefahr läuft, seine intellektuelle Leistungsfähigkeit nicht angemessen verwirklichen zu können.
Von Steffi Johanna Brockmeier
Das Hören ist neben dem Riechen der phylogenetisch älteste Sinn des Menschens, der Tag und Nacht aktiv ist und der eine zentrale Rolle bei Gefahrenwahrnehmung und Flucht einnimmt. Das Hören von Geräuschen führt zum Erwachen der Aufmerksamkeit sowie der Lokalisation von Gefahren. Diese Funktion ist so optimiert, dass sie auch erhalten ist, wenn die akustische Umgebung ungünstig ist, wie bei gleichzeitig vorhandenen Störgeräuschen. In unserem heutigen Alltag steht das Hören als Basis der Kommunikation im Mittelpunkt. So ist der Bereich des Hörens, in dem die Frequenzen für Sprache liegen, am empfindlichsten für die Unterscheidungsfähigkeit bezüglich unterschiedlicher Frequenzen und Lautstärken. Dies ist Grundlage für das Erlernen der gesprochenen Sprache und ermöglicht unabhängig vom Erlernen des Lesens und Schreibens den Erwerb von Wissen. Schon im Alter von 4 Monaten ist die Wahrnehmung von Sprachlauten bei normal hörenden Kindern so differenziert, dass unterschiedliche Reaktionen auf muttersprachliche und fremdsprachliche Laute beobachtet werden können (1). Diese Abgrenzungsfähigkeit setzt eine differenzierte Hörverarbeitung voraus.
Symptome und Testverfahren
Da die Kenntnisse über die normale Entwicklung der verschiedenen Leistungen der Hörwahrnehmung noch sehr begrenzt sind und auch die Abgrenzung von anderen Komorbiditäten schwierig ist, werden Kinder mit Verdacht auf Störungen der Hörverarbeitung am häufigsten im späten Kindergarten- und frühen Schulalter in der pädaudiologischen Sprechstunde vorgestellt. Dabei können sie sehr unterschiedliche Symptome präsentieren. So werden in der Regel leise Geräusche gut gehört, jedoch ist die Verarbeitung des Gehörten
eingeschränkt. Häufig wird unter ungünstigen akustischen Bedingungen wie Störlärm oder halligen Räumen Sprache schlecht verstanden, oder mehrteiligen Aufforderungen kann nicht Folge geleistet werden. Wie Defizite im Einzelfall symptomatisch werden, hängt aber ganz wesentlich von der Kompensationsfähigkeit der betroffenen Person ab. In der Literatur wird die Störung der Hörverarbeitung mit verschiedenen Begriffen bezeichnet wie zum Beispiel akustische Agnosie oder zentrale Fehlhörigkeit. Die Pädaudiologen der deutschsprachigen Schweiz haben sich entschlossen, den Begriff «Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung» (AVWS) zu gebrauchen, wie er von der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) benutzt wird. Der Terminus umfasst einerseits die neuronale Weiterleitung von dem ersten Hörnervenneuron in der Cochlea bis zur primären Hörrinde mit den entsprechenden Verschaltungen (auditive Verarbeitung) als auch die weitere Analyse in der Grosshirnrinde (auditive Wahrnehmung). In der Literatur wird diskutiert, ob sprachbasierte Untersuchungsmethoden in die Testbatterie für eine AVWS mit einbezogen werden sollen, da Sprache anders als andere akustische Stimuli verarbeitet wird (2). Erfahrungen mit AVWS-Diagnostik besteht in englischsprachigen Ländern schon deutlich länger, und die Thematik wird auf breiterer Ebene diskutiert als im deutschsprachigen Raum. Dennoch besteht auch hier kein Konsens bezüglich dieser Problematik. Während die britische audiologische Fachgesellschaft (3) die AVWS-Untersuchung auf nicht sprachliche Stimuli reduziert, werden sprachgebundene Tests von der USamerikanischen Arbeitsgruppe (4) miteinbezogen. Die Schweizer Pädaudiologen schliessen sich der Haltung der DGPP an und führen sowohl sprachgebundene als auch sprachfreie Tests durch.
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Die Störung fällt meist im späten Kindergartenoder frühen Schulalter auf.
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Eine Abklärung des peripheren Hörvermögens muss zuerst erfolgen.
Physiologie
Die Struktur und Funktion des peripheren auditorischen Systems aus äusserem Ohr, Mittelohr und Innenohr ist allgemein bekannt. Das Wissen über die Prozesse der zentral auditiven Verarbeitung ist dagegen weniger verbreitet. Der Begriff «zentralauditives System» bezieht sich auf diejenigen Strukturen, die jenseits der Cochlea an der Weiterleitung auditiver Stimuli beteiligt sind, bis zu dem primären und nicht primären auditiven Cortex. Sie beinhalten 3 Unterregionen: Hirnstamm, Thalamus und Cortex. Das auditive System insgesamt ist tonotopisch organisiert. In der Cochlea ist jedem Ort der Basiliarmembran eine ganz bestimmte Frequenz zugeordnet. Diese Spezialisierung der neuronalen Strukturen ist bis zur primären auditiven Rinde in der Heschlschen Querwindung des Gyrus temporalis superior und der Gyri temporales transversi erhalten. Zwischen der Cochlea und dem primären auditiven Cortex kommt es zu mulitiplen Verschaltungen mit Kreuzungen zur Gegenseite und Rückkreuzungen, sodass die auditorischen Impulse beider Ohren beidseits in der Hörrinde ankommen. Über die reine Kreuzung der Bahnen hinaus kommt es zu Konvergenz- und Divergenzverschaltungen. Diese komplexen Verbindungsmuster führen dazu, dass es schwierig ist, einzelnen Strukturen ganz klar definierte Aufgaben in der auditiven Analyse zuzuweisen. Zur Reifung dieses komplexen Systems liegen nur unvollständige Erkenntnisse vor. Hier sollen nur einige Beispiele aufgezählt werden. So wurde gezeigt, dass für unterschiedliche nicht sprachliche, akustische Sti-
Tabelle: Untersuchungsverfahren zur zentral auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung
Verfahren auditive Diskrimination
Was wird getestet? Fähigkeit, unterschiedliche, ähnlich klingende sprachliche oder nicht sprachliche Stimuli zu unterscheiden
auditive zeitliche Verarbeitung
Fähigkeit, akustische Stimuli über die Zeit zu analysieren
dichotisches Hören
Fähigkeit, konkurrierende auditive Stimuli zu separieren oder zu integrieren
auditorische zeitliche Mustererkennung Fähigkeit, sequenzielle Muster auditiver Stimuli zu erkennen
Spracherkennung
Spracherkennung bei verminderter Redundanz, beeinträchtigter Sprachqualität
binaurale Interaktion
Fähigkeit der Verarbeitung binaural präsentierter Signale mit Intensitäts- oder Zeitvariationen
elektrophysiologische und ähnliche Verfahren
Erfassen der neurophysiologischen Repräsentation des akustischen Signals
Phonemdifferenzierung
Fähigkeit, Sprachlaute zu unterscheiden
Phonemidentifikation
Fähigkeit, Sprachlaute korrekt zu erkennen
auditives Kurzzeitgedächtnis
Merkfähigkeit im auditiven Bereich
phonologische Bewusstheit
Fähigkeit, bei der Verarbeitung von sprachlicher Information Wissen über die lautliche Struktur der Sprache heranzuziehen
Sprachverständnis
Fähigkeit, Sprache zu verstehen (zur Differenzialdiagnose Sprachverständnisstörung/AVWS erforderlich)
Es werden nicht alle Verfahren bei jedem Kind benötigt, sondern es soll für jedes Kind eine Testbatterie zusammengestellt werden.
muli die Leistungsfähigkeit erst mit 10 bis 11 Jahren ausgereift ist (5). Für dichotische Höraufgaben (unterschiedliche akustische Stimuli von beiden Seiten) ist bekannt, dass die Mehrzahl der Rechtshänder eine bessere Leistung mit dem rechten Ohr erreicht. Dieses Rechtsüberwiegen nimmt zwischen dem 2. und 6. Schuljahr zu (6).
Anamnese
Die ausführliche Anamnese umfasst neben den Problemen, die zur Vorstellung geführt haben, die Erhebung von Informationen über Schwangerschaft und Geburt, die frühkindliche Entwicklung, durchgemachte Therapien sowie die Familienanamnese. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Sprachentwicklung gelegt. Die Frage nach gehäuften Otitiden und etwaigen Eingriffen im Hals-Nasen-OhrenBereich darf nicht fehlen. Die spezielle Anamnese zu den Symptomen der AVWS sollte zusätzlich durch einen standardisierten Fragebogen ergänzt werden, zum Beispiel den «Anamnesebogen zur Erfassung auditiver Verarbeitungsund Wahrnehmungsstörungen» der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (7). Es ist sinnvoll, einen solchen Fragebogen nicht nur von den Eltern, sondern auch von eventuell behandelnden Therapeuten und Lehrpersonen ausfüllen zu lassen, da die Beobachtungen in unterschiedlichen Situationen deutlich voneinander abweichen können.
Körperliche Untersuchungen
Ein kompletter HNO-Status wird erhoben. Neben dem Ohrbefund sind auch die anatomisch-funktionellen Gegebenheiten im orofazialen Bereich detailliert zu erheben, da hier Ursachen für Sprachentwicklungseinschränkungen gefunden werden können.
Abklärung des peripheren Hörvermögens
Der Untersuchung der auditiven Wahrnehmung und Verarbeitung muss immer eine Abklärung des peripheren Hörvermögens vorausgehen. Dies erfolgt mittels Reintonaudiometrie mit Messung der Luftleitung und Knochenleitung, einer Impedanzaudiometrie mit Tympanometrie und Stapediusreflexmessung, Ableitung von otoakustischen Emissionen (TOAES oder DPOAES) sowie einer seitengetrennten Sprachaudiometrie in Ruhe. Schallleitungsschwerhörigkeiten aufgrund von Mittelohrpathologien sollen vor der Durchführung der Tests zur auditiven Wahrnehmung behoben werden. Patienten mit einer sensorineuralen Schwerhörigkeit müssen mit Hörgeräten versorgt werden.
Untersuchungsverfahren zur Diagnose einer AVWS
Zur ausführlichen Darstellung werden die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) zur Diagnostik der zentral auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (8) empfohlen. Aus den in der Tabelle angeführten Untersuchungsverfahren soll für jedes Kind eine Testbatterie zusammengestellt werden, die die berichteten
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SCHWERPUNKT
Symptome erfasst und darüber hinaus die verschiedenen Ebenen der Hörverarbeitung abbildet. Für die Validität der Untersuchungsergebnisse ist es von zentraler Bedeutung, die Tests unter Berücksichtigung von Alter, Sprachentwicklungsstand und dem Fortschritt der allgemeinen Entwicklung individuell zusammenzustellen. Es sollen möglichst nur solche Untersuchungsverfahren zur Anwendung kommen, für die eine Normierung für das Alter des zu testenden Kindes vorliegt. Leider fehlen diese Normierungen noch für viele Bereiche (4). Zur abschliessenden Einordnung des Störungsprofils und gegebenenfalls zu der Zuweisung der Diagnose «auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung» ist es erforderlich, dass die Befunde aus den Bereichen Sprache, Sprechen, Kognition und Aufmerksamkeit vorliegen. Diese sollten gegebenenfalls von den Stellen zur Verfügung gestellt werden, die die entsprechenden Abklärungen durchgeführt haben. Wenn diese Untersuchungen noch nicht durchgeführt wurden, empfiehlt es sich, diese bei Kindern mit auffälligen Befunden nachzuholen. Da viele Faktoren das Abschneiden im Test beeinflussen, ist es sinnvoll, die Testsituation möglichst optimal zu gestalten. Dazu gehört, dass die Untersuchungen möglichst vormittags stattfinden, damit zum Beispiel zuvor erlebte frustrierende Begebenheiten oder Erschöpfungen durch den Schulunterricht und daraus resultierende eingeschränkte Kooperation oder Konzentration nicht zu verfälschten Testergebnissen und damit einer Pathologisierung des Kindes führen (9–11). Die Aufmerksamkeitsspanne eines Kindes muss bei der Planung der Testdurchführung berücksichtigt werden. Gegebenenfalls können die Untersuchungen auf mehrere Termine verteilt werden und Bewegungspausen eingebaut werden. Bei divergierenden oder in der Zusammenschau unplausiblen Ergebnissen kann es auch erforderlich sein, Evaluationen zu wiederholen. Die Zuweisung der Diagnose «auditive Verarbeitungsund Wahrnehmungsstörung» sollte nur erfolgen, wenn mindestens zwei der getesteten Bereiche auffällig sind, das heisst ausserhalb der 2-fachen Standardabweichung der entsprechenden Altersnorm liegen und keine der weiter unten beschriebenen Differenzialdiagnosen zugrunde liegt. Ist nur ein Teilbereich auffällig, muss dieser ausserhalb der 3-fachen Standardabweichung liegen, damit die Diagnose AVWS gestellt werden kann (4).
Screeningverfahren
Die Auflistung der Untersuchungsverfahren zeigt, dass die Diagnostik im Bereich der zentral auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung sehr aufwändig ist. Dies stösst schnell an die Grenzen ökonomischer und zeitlicher Ressourcen. Daher wäre ein zuverlässiges Screeninginstrument in diesem Bereich wünschenswert. Für den deutschen Sprachraum gibt es zu diesem Zeitpunkt kein allgemein anerkanntes Screening. Nickisch und Kiese-Himmel haben mit dem MAUSTest (Münchner auditive Screeningtest zur auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung) eine Testkombination erarbeitet, die für 8- bis 10-jährige Kinder eine
hohe diagnostische Validität besitzt (12). Der Test ist in einer Softwareversion erhältlich und deckt folgende Bereiche ab: auditives Kurzzeitgedächtnis für Sinnlossilben, Sprachaudiometrie im Störgeräusch, Phonemdifferenzierung und -identifikation. Bei allen Screeninguntersuchungen ist es sinnvoll, dass die Ergebnisse mit der Anamnese abgeglichen werden und dass bei unauffälligem Screening, aber anamnestischem Verdacht auf eine Einschränkung der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung ergänzende Untersuchungen durchgeführt werden. Die Entscheidung darüber setzt eine eingehende Erfahrung auf Seiten des Untersuchers voraus.
Differenzialdiagnosen
Fremdsprachigkeit In der Sprechstunde der Autorin haben 45 Prozent der Kinder, die zur Abklärung einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung vorgestellt werden, einen fremdsprachigen Hintergrund. Häufig wird mehr als eine Sprache zu Hause gesprochen, und der Spracherwerb in der Verkehrssprache Deutsch/ Schweizerdeutsch hat erst mit dem Eintritt in den Kindergarten eingesetzt. Zentral ist hier die Frage, wie die Sprachkompetenz der Kinder in den von ihnen gesprochenen Sprachen ist. Wenn eine AVWS als Ursache der Sprachentwicklungsstörung vermutet wird, sollten Auffälligkeiten in allen Sprachen zu beobachten sein (9). Der Sprachentwicklungsstand in der Testsprache ist ein weiterer Aspekt, der bei der Auswahl des Untersuchungsmaterials sowie der Beurteilung der Ergebnisse Berücksichtigung finden muss. Für die audiologische Testung sollten in diesen Fällen Untersuchungsverfahren zur Anwendung kommen, die weniger abhängig von der Sprachkompetenz in der Testsprache Deutsch sind. Wo möglich sollten muttersprachliche Tests eingesetzt werden. Es gibt Hinweise, dass bilinguale Personen in der Zweitsprache in schwierigen akustischen Situationen, wie zum Beispiel Hören im Störgeräusch, Defizite aufweisen. Dieser Befund besteht auch dann, wenn eine hohe Sprachkompentenz in der Zweitsprache besteht, und ist um so ausgeprägter, je später diese erlernt wird (13).
Kognitive Störungen Die Interpretation der Befunde aus der Testung für eine AVWS setzt eine ausführliche Intelligenzdiagnostik voraus, da das kognitive Niveau im sprachlichen und nicht sprachlichen Bereich einen Einfluss auf die audiologischen Ergebnisse hat. Bei Einschränkungen des auditiven Kurzzeitgedächtnisses benötigt die korrekte Interpretation Informationen über Gedächtnisleistungen in den anderen Sinnesmodalitäten (z.B. visuell, visuell-motorisch). Eine AVWS-Diagnose sollte nur zugewiesen werden, wenn es sich um eine modalitätsspezifische Auffälligkeit handelt.
Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS) Unaufmerksamkeit und leichte Ablenkbarkeit sind Symptome, die sowohl bei Kindern mit AVWS als auch mit ADHS beobachtet werden. Ricco (14) hat gezeigt, dass 50 Prozent der Kinder mit einer AVWS
Es sollte auf standardisierte, altersvalidierte Tests zurückgegriffen werden.
Die Tests sollten vormittags durchgeführt werden.
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SCHWERPUNKT
Es gibt viele Differenzialdiagnosen.
Ursache und Wirkung sind mitunter nur schwer zu unterscheiden.
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ebenfalls für die Diagnose ADHS qualifizieren würden. Es stellt sich also die Frage, ob die auditive Leistungsfähigkeit durch eine zugrunde liegende Aufmerksamkeitsstörung bedingt ist oder die eingeschränkte Hörverarbeitung zu Verhaltensauffälligkeiten führt. Chermak (11) postuliert in einer Studie, dass aufgrund des Musters der Verhaltensauffälligkeiten beide Krankheitsbilder zu differenzieren seien. Dies liess sich aber in einer Neuanalyse von Chermaks Daten nicht halten (15). Wenn bei einem Kind, das zu AVWS-Diagnostik vorgestellt wird, eine medikamentöse Therapie der Aufmerksamkeitsstörung verordnet wurde, sollte diese auf jeden Fall vor der audiologischen Abklärung eingenommen werden. Dies führt zu einer Besserung der Aufmerksamkeitssymptomatik, ohne dass dies einen Einfluss auf die auditive Leistungsfähigkeit hat (16). Wenn eine Vielzahl von Tests der zentralauditiven Verarbeitung pathologisch ist, legt dies eine Aufmerksamkeitsstörung oder Überforderung als Ursache der auffälligen Ergebnisse nahe. Kinder mit AVWS weisen eher ein spezifisches Befundmuster mit Defiziten in spezifischen Teilbereichen auf. Bei Kindern mit ADHS werden zudem die Testergebnisse häufig mit Dauer der Untersuchung schlechter. Daher ist es sinnvoll, die Diagnostik bei diesen Patienten aufzuteilen und gegebenenfalls auch Bewegungspausen einzuplanen. Positive Verstärkung sowie Aufmerksamkeitslenkung tragen zur Steigerung der Compliance und Validität der ausgedehnten Diagnostik bei. Unsichere Untersuchungsergebnisse sollten in einem neuen Termin auf die Reproduzierbarkeit überprüft werden. Bei diesen Kindern ist es besonders wichtig, die Testungen vormittags durchzuführen, wenn die Aufmerksamkeit in der Regel noch besser ist (9–10).
Spracherwerbsstörungen Spracherwerbsstörungen können auf Einschränkungen der auditiven Wahrnehmung und Verarbeitung beruhen. Anderseits können auch die Testergebnisse in sprachbasierten Untersuchungen aufgrund einer Sprachentwicklungsstörung pathologisch sein, ohne dass eine AVWS vorliegt. Die Unterscheidung gestaltet sich sehr schwierig. In der Bewertung sollten die nicht sprachbasierten Untersuchungsmethoden eine grössere Gewichtung haben. Aber auch bei diesen Aufgaben sind die Antworten meist sprachgebunden, und Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen oder Lese-Rechtschreib-Störungen können im Einzelfall Begriffe wie zum Beispiel «hoch» und «tief» nur schwer einer akustischen Dimension zuordnen (17). Es wurde auch gezeigt, dass die Leistungen in Tests mit Nicht-Wörtern durch die Sprachkenntnisse beeinflusst werden (18).
Autistischer Formenkreis Die Aussagekraft der Testung von Kindern mit Erkrankungen aus dem Formenkreis des Autismus ist stark abhängig von der Kooperation, der Sprachentwicklung sowie der Kognition. So kann die Untersuchung von Patienten mit einem Aspergersyndrom sinnvoll sein und Bereiche für einen Therapieansatz aufzeigen. Bei Kindern mit stark ausgeprägten Defiziten in der
Reaktion auf akustische Stimuli, insbesondere der Sprache, ist die Testung kaum möglich. Daher sollte das Stellen der Diagnose AWVS bei Kindern mit diesen Erkrankungen äussert vorsichtig gehandhabt werden. Das am häufigsten berichtete Symptom bei diesen Kindern ist die Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen; dies wird im Sinne einer sensorischen Integrationsstörung bewertet und nicht als Zeichen einer AVWS gewertet (9).
Lese-Rechtschreib-Störung Der Schriftspracherwerb setzt multiple, ineinandergreifende Prozesse voraus. Dabei spielt der regelhafte Erwerb der gesprochenen Sprache eine wichtige Rolle. Die häufigste Ursache für eine Legasthenie liegt in der Beeinträchtigung der Graphem-Morphem-Korrespondenz oder in Graphemverwechslungen trotz ausreichender Anleitung. Bei Kindern, die Schwierigkeiten haben, die Zeilen zu verfolgen, kann auch eine Störung der koordinierten Augenmotilität vorliegen (19). Nur bei einem kleinen Teil der Kinder mit einer Lese-Rechtschreib-Störung ist die Ursache eine AVWS. Sie unterscheiden sich durch die Art ihrer Fehler. Daher muss am Anfang der Diagnostik eine genaue Anamnese der Symptome der Lese-Rechtschreib-Störung stehen. Zum Beispiel sind Regelfehler nicht auf eine AWVS zurückzuführen, während Lautunterscheidungsfehler in einer auditiven Problematik begründet sein können. Dann ist auch ein entsprechendes Training erfolgversprechend.
Therapie
Massgeblich für die Therapie ist die Behebung und/oder Kompensation eines Funktionsdefizits, das vorher im Rahmen einer spezifischen Abklärung zur zentral auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung ermittelt wurde. Darüberhinaus sollte eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit im Alltag im Sinne von schulischen, beruflichen oder sozialen Problemen vorliegen. Die Intervention soll auf eventuell gleichzeitig vorhandene andere Störungen abgestimmt werden. Häufige Komorbiditäten, welche die Behandlungsplanung beeinflussen, sind Aufmerksamkeitsstörungen, Einschränkungen des Spracherwerbs, modalitätsübergreifende Gedächtniseinschränkungen oder Intelligenzminderungen. Von zentraler Bedeutung sind auch die Motivation und das Verständnis des Patienten und seines Umfeldes für die Problematik, die Therapienotwendigkeit und die Behandlungsverfahren. Gegebenenfalls kann es sinnvoll sein, zunächst oder auch intermittierend an diesen Behandlungsvoraussetzungen im Sinne von Beratungsgesprächen zu arbeiten. Die Intervention solle nach Bellis (20) 3 Komponenten beinhalten: • Modifizierung der Umwelt zur Optimierung von
Kommunikation, Lernen, der Hörsituation und dem Zugang zu akustischer Information (z.B. Einsatz von FM-Systemen, Sitzordnung in der Klasse verändern). • Kompensatorische Strategien, die höhere kognitive, sprachliche und verwandte Ressourcen stärken, sodass diese zur Kompensation und dem Erlangen
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auditiv angebotener Information eingesetzt werden können (z.B. Einfordern von vermehrter schriftlicher Information, Stärken der Sprachkompetenz). • Direkte Arbeit am Defizit in der Regel in Form von Trainingsprogrammen, die auf die spezifischen Schwächen des Kindes abgestimmt sind. Frequenzmodulationssysteme (FM-Systeme) kommen dann zum Einsatz, wenn das Hören im Störgeräusch eingeschränkt ist, und stellen dafür eine gute Therapieoption dar. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass diese Anlagen nicht im Heilmittelkatalog der IV aufgeführt sind und somit die Kosten (ca. 4200 Franken) in der Regel nicht übernommen werden. Im Einzelfall wurde eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse erreicht. Sollten Computerprogramme in der Therapie zum Einsatz kommen, ist es wichtig, dass die Übungen auf die Defizite des Kindes abgestimmt sind und dass ein Feedback über die Ergebnisse gegeben wird. Die Therapie nach Tomatis führt nachweislich nicht zu einer Symptombesserung und stellt somit keinen geeigneten Ansatz zur Behandlung der AVWS dar (21). Die Befunde sollten in Abständen von 1 bis 2 Jahren kontrolliert werden, damit die Therapie an die noch vorhandenen Defizite angepasst werden kann. Je nach Schwerpunkt der Störung und vorhandenen anderen Einschränkungen, wie zum Beispiel einer Spracherwerbsstörung, kann die Therapie von Audiopädagogen oder Logopäden durchgeführt werden. Es kann auch sinnvoll sein, dass beide Berufsgruppen mit einem Kind arbeiten.
Abschliessende Worte
Aufgrund der unsicheren Datenlage sollte für die Bewertung der Leistungen und Defizite nur auf standardisierte, altersvalidierte Tests zurückgegriffen werden. Die Überschneidungen der Symptome mit dem klinischen Bild bei anderen Einschränkungen im Bereich des Spracherwerbs, der intellektuellen Leistungsfähigkeit und der Aufmerksamkeit machen die eindeutige Zuweisung der Diagnose «auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung» schwierig und erfordern eine interdisziplinäre Zusammenarbeit. Ein zentraler Aspekt für die Zuweisung der Diagnose «auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung» ist das Zusammenpassen der Symptomatik mit den Testergebnissen. Durchgehend auffällige Untersuchungsergebnisse sind eher hinweisend auf andere zugrunde liegende Pathologien.
Danksagung Ich möchte mich herzlich bei Frau Dr. Rebecca Steiger für die Durchsicht der Arbeit und die konstruktiven Änderungsvorschläge bedanken.
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Korrespondenzadresse: PD Dr. Steffi Johanna Brockmeier Oberärztin, Universitätsspital Basel HNO-Klinik Audiologie/Pädaudiologie Hebelstrasse 10, 4056 Basel E-Mail: hanna.brockmeier@usb.ch
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