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SCHWERPUNKT
Vernachlässigung und psychische Misshandlung
Ursachen, Symptomatik und geeignete Massnahmen
Während körperliche und sexuelle Kindesmisshandlung zunehmend im Fokus der Öffentlichkeit steht, stellen die Vernachlässigung und die psychische Misshandlung von Kindern Problemfelder dar, denen auch in Fachkreisen leider noch zu wenig Beachtung geschenkt wird. Die meisten Fälle von Vernachlässigung können verhindert werden, wenn Eltern bereits im Stadium der beginnenden oder latenten Vernachlässigung durch geeignete Beratungs- und Unterstützungsangebote gezielt gestärkt werden.
Von Kathrin Gerlach
Die optimale Unterstützung von Kindern und ihren Familien sowie die Gewährleistung eines effektiven Kinderschutzes können nur in der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung gelingen. Hierfür sind alle Professionen und Fachkräfte, die unmittelbar mit Kindern und Familien zu tun haben, gefragt, um Signale familiärer Überforderungssituationen beziehungsweise Anzeichen von Kindswohlgefährdung frühzeitig zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Ziel dieses Beitrags ist darum eine Sensibilisierung in Bezug auf die Vernachlässigung und die psychische Misshandlung von Kindern.
Was ist Vernachlässigung?
Unter Vernachlässigung versteht man die durch sorgeverantwortliche Personen wiederholte oder andauernde Unterlassung fürsorglichen Handelns, das zur Sicherung der seelischen und körperlichen Bedürfnisse eines Kindes notwendig wäre. Das Unterlassen dieses Tuns führt zur emotionalen oder körperlichen Vernachlässigung des Kindes. Vernachlässigung wird im Gegensatz zu den «acts of comission», das heisst dem aktiven schädigenden Tun und Übergriff, als überwiegend passive Misshandlungsform, als «act of omission» und damit als Unterlassung beschrieben. Die autorisierten Bezugspersonen unterlassen aus Unaufmerksamkeit, Vorsatz, mangelnder Einsichtsfähigkeit und unzureichendem Wissen über Notwendigkeiten und Gefahrensituationen die Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse der Kinder. Neben den rein passiven Formen der Vernachlässigung treten auch Formen mit aktiven Aspekten auf. Hierzu zählt beispielsweise die wissentliche Verweigerung von Nahrung, Ausbildung oder Schutz. Die emotionale und körperliche Vernachlässigung kann auch aufgrund der ihr zugrunde liegenden ver-
schiedenen kindlichen Bedürfnisse unterschieden werden. Man spricht dann von Vernachlässigung körperlicher Bedürfnisse, Vernachlässigung des Bedürfnisses nach Schutz und Sicherheit, Vernachlässigung des Bedürfnisses nach Verständnis und Bindung, Vernachlässigung des Bedürfnisses nach Wertschätzung, Vernachlässigung des Bedürfnisses nach Anregung, Spiel und Leistung sowie Vernachlässigung des Bedürfnisses nach Selbstverwirklichung. Von der emotionalen Vernachlässigung nur schwer abzugrenzen ist die psychische (seelische/emotionale) Misshandlung. Die psychische Misshandlung wird zu den aktiven Misshandlungsformen gezählt, ist inhaltlich und von der Schwere her jedoch eher der Vernachlässigung zuzuordnen (1–3), weshalb die Begriffe oft auch synonym verwendet werden. Emotionale Misshandlungen sind im Rahmen der Erziehung durch ein wiederkehrendes Muster feindseliger, ablehnender, einschüchternder und verbal herabsetzender, letztlich schädigender Interaktionen gekennzeichnet, die eine negative Grundeinstellung gegenüber dem Kind widerspiegeln. Den Kindern und Jugendlichen wird durch Schmähungen, Herabsetzung, Lächerlichmachen, Einschüchterung oder Ignorieren vermittelt, dass sie wertlos, fehlerhaft, ungeliebt und ungewollt sind. Treten diese Verhaltensmuster regelmässig als Grundhaltung der Eltern gegenüber ihrem Kind auf, besteht die emotionale Misshandlung in erster Linie aus einer gänzlich gestörten Beziehung, die sich schädigend auf das Kind auswirkt (1). Glaser (1) entwickelte eine Betrachtung der emotionalen Misshandlung und Vernachlässigung in gemeinsamen Kategorien, die sich an den Grundbedürfnissen des Kindes orientieren: emotionale Nichtverfügbarkeit, Nichtansprechbarkeit, Unsensibilität, negative Attributionen und falsche Zuschreibungen, Feindseligkeit, dem Entwicklungsstand unange-
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Emotionale Gewalt und Vernachlässigung in der Kindheit können die körperliche, seelische oder geistige Entwicklung schwer beeinträchtigen.
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Nur wem die mögliche Vernachlässigung von Kindern bewusst ist, wird diese auch erkennen.
messene Interaktion oder Anforderungen, Überforderung, Unterforderung, Überbehütung, Exposition durch traumatische Ereignisse (Partnergewalt, aber auch Darstellungen mit gewaltsamem und pornografischem Inhalt in TV und Internet), mangelndes Erkennen der Persönlichkeit, der Individualität und der Grenzen, Missbrauch des Kindes für eigene Bedürfnisse, mangelnde Förderung der sozialen Integration und der Adaption, mangelnde kognitive Stimulation und negative dissoziale Sozialisation. Es ist bekannt, dass zwischen den verschiedenen Formen der Kindesmisshandlung fliessende Übergänge bestehen und unterschiedliche Misshandlungsformen koexistieren können. Dennoch kann die Vernachlässigung unabhängig von anderer Gewalt auch als eigene Misshandlungsform auftreten. Vernachlässigte Kinder weisen zudem ein deutlich höheres Risiko auf, Opfer anderer Formen von Kindesmisshandlung zu werden (4).
Wie häufig kommt Vernachlässigung vor?
Gesicherte Zahlen, wie viele Kinder in der Schweiz Opfer von Vernachlässigung werden, liegen nicht vor. Das amerikanische Pflichtmeldesystem (mandatory reporting) weist in 70 Prozent der gemeldeten Kindesmisshandlungsfälle Vernachlässigung als Ursache aus (2, 4). Für Deutschland wird geschätzt, dass etwa 5 Prozent aller Kinder in Lebensverhältnissen aufwachsen, in denen ein Risiko für Vernachlässigung
Tabelle 1: Formen der körperlichen Vernachlässigung
Mangel an psychischer beziehungsweise gesundheitlicher Fürsorge und Schutz vor Gefahren: Vernachlässigung einer adäquaten, qualitativen, quantitativen Ernährung • «zu wenig» mit der Folge von Dystrophien, Gedeihstörungen, «non organic failure to thrive», Tod • «zu viel» mit der Folge extremer Adipositas • «falsch» mit der Folge von z.B. Vitaminmangel, Eiweissmangel, Tod • psychosozialer Minderwuchs
Vernachlässigung einer medizinischen/gesundheitlichen Vorsorge • Unterlassen von Vorsorgeuntersuchungen • unzureichende Zahnvorsorge • Unterlassen von Impfungen
Prä- und perinatale Vernachlässigung • Drogen, Alkohol, Nikotin in der Schwangerschaft • fehlende medizinische Vorsorge/Betreuung • Leugnen der Schwangerschaft
Vernachlässigung einer medizinischen Behandlung bei Erkrankungen • fehlendes oder verzögertes Aufsuchen von medizinischen Fachpersonen
Vernachlässigung von Hygiene und anderen Körperbedürfnissen • Unterlassen von Hygienemassnahmen, Körper- und Zahnpflege mit der Folge von z.B. verzögertem
Sauberwerden oder ruinösem Gebissstatus
Anderes • inadäquate Wohnsituation • Fehlen von an die Jahreszeit/Witterung angepasster Kleidung • fehlende Sicherheit vor alltäglichen Gefahren, mangelnde Supervision und Aufmerksamkeit
adaptiert nach Cantwell 2002 (7)
besteht. Diese Schätzung kann wahrscheinlich näherungsweise auf die Schweiz übertragen werden. Amerikanische Statistiken zeigen zudem, dass dort mehr Kinder an den Folgen von Vernachlässigung als an den Folgen von körperlicher Misshandlung sterben, wobei grundsätzlich von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist.
Formen der körperlichen und emotionalen Vernachlässigung
Die Vernachlässigung kann gemäss den AWMF-Leitlinien (5, 6) in folgende Formen unterteilt werden: Körperliche und medizinische Vernachlässigung: Mangel an physischer beziehungsweise gesundheitlicher Fürsorge und Schutz vor Gefahren, zum Beispiel aufgrund des Mangels an adäquater qualitativer und quantitativer Ernährung, adäquater Unterbringung, Bekleidung, Hygiene, Körper- und Zahnpflege, Sicherheit vor alltäglichen Gefahren, Supervision und Aufsicht; Verweigerung oder Verzögerung medizinischer Hilfe, fehlendes kooperatives Verhalten im Rahmen medizinischer Therapie (Non-Compliance), keine oder unzureichende gesundheitliche Vorsorge (z.B. Impfungen, Vitamin-D-Prophylaxe) (Tabelle 1). Emotionale Vernachlässigung: Inadäquate oder fehlende emotionale Fürsorge und Zuwendung, unzureichendes oder ständig wechselndes und dadurch insuffizientes emotionales Beziehungsangebot, zum Beispiel durch Mangel an Zuwendung, Liebe, Geborgenheit, Bestätigung, Respekt, Anregung und Förderung (stimulative Vernachlässigung), Wahrnehmung, Unterstützung, Förderung der Schul- und Berufsausbildung, Unterstützung beim Erwerb sozialer Kompetenzen und bei der Vermittlung von «Lebenstüchtigkeit» und Selbstständigkeit, Grenzensetzen, Belehrung über Gefahren; zudem beständige/wiederholte Konfrontation mit chronischer Partnergewalt der Eltern und permissive Haltung der Eltern bei Substanzmissbrauch, gesellschaftlich unerwünschtem Verhalten (z.B. Schuleschwänzen) und/oder Delinquenz des Kindes; Verweigerung oder Verzögerung psychologischer oder psychiatrischer Hilfe (Tabelle 2).
Ursachen der Vernachlässigung
Monokausale Erklärungen für das Auftreten von Vernachlässigung gibt es nicht. Vielmehr ist davon auszugehen, dass das Zusammentreffen verschiedener, zum Teil interagierender Faktoren auf individueller, familiärer und gesellschaftlicher Ebene sowie des Lebensumfeldes das Auftreten von Vernachlässigung bedingt, auch wenn das Vorliegen eines oder mehrerer Risikofaktoren (Tabelle 3) nicht zwingend zur Vernachlässigung führen müssen. Auf der individuellen elterlichen Ebene werden Probleme in der mütterlichen emotionalen Gesundheit und die intellektuellen Fähigkeiten sowie Alkohol- und Drogenabusus als Ursachen der Vernachlässigung beschrieben. So werden bei vernachlässigenden Müttern gehäuft Depressionen und das von Polansky beschriebene sogenannte Apathy-Futility-Syndrom beschrieben. Das Syndrom ist gekennzeichnet durch emotionale Stumpfheit, Gefühlsarmut, Einsamkeit,
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Unfähigkeit zur Artikulation oder zum Ausdruck von Gefühlen, passive Aggressivität, Feindseligkeit, mangelnde Problemlösefähigkeit, mangelnde Beziehungsfähigkeit beziehungsweise ein Klammern in schädlichen Beziehungen, das Gefühl der Sinn- und Zwecklosigkeit, Langeweile, Unruhe, generelle Unzufriedenheit und die Tendenz, die Verantwortung für das eigene Schicksal auf andere zu übertragen. Bei vernachlässigenden Vätern werden aggressive und dissoziale Persönlichkeiten sowie Delinquenz beobachtet. Daneben werden intellektuelle Defizite und niedrige/geringe Schulausbildung sowie Substanzmissbrauch beschrieben, der neben der direkten Schädigung des Konsumenten auch die elterliche Kompetenz und Fürsorgefähigkeit erheblich beeinträchtigen kann. Nach Cantwell (7) fördert auch das eigene Erleben körperlicher oder sexueller Gewalt beziehungweise körperlicher oder seelischer Vernachlässigung die Vernachlässigung der eigenen Kinder.
Tabelle 2: Formen der emotionalen Vernachlässigung/Misshandlung
Mangel an adäquater emotionaler Fürsorge und Zuwendung sowie einem suffizienten Beziehungsangebot: • keine Zuwendung, Liebe, Geborgenheit • kein Respekt, keine Wertschätzung • mangelnde Anregung und Förderung (stimulative Vernachlässigung), Verzögerung der sprachli-
chen, motorischen, emotionalen, kognitiven Entwicklung • mangelnde Wahrnehmung und Unterstützung des Schulunterrichts • permissives Verhalten der Bezugspersonen bei sozial unerwünschtem Verhalten (z.B. Schule-
schwänzen), Delinquenz oder Suchmittelkonsum • mangelnde/fehlende Förderung der Ausbildung und des Erwerbs sozialer Kompetenzen • mangelnde/fehlende Unterstützung bei der Ausbildung von «Lebenstüchtigkeit», Selbstständigkeit
und von Strategien zur Bewältigung von Alltagsanforderungen • Mangel/Fehlen angemessener Grenzen • Mangel/Fehlen von Aufklärung über Gefahren • Erleben dauerhafter Partnergewalt bei den Eltern • Verweigerung oder Verzögerung psychologischer/psychiatrischer Hilfe
adaptiert nach Cantwell 2002 (7)
Tabelle 3: Risikofaktoren für das Auftreten von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung
Individuelle Ebene Merkmale der eigenen Biografie und Persönlichkeit wie belastende eigene Kindheit unter anderem mit Misshandlungserfahrung oder «Broken-Home»-Geschichte, psychische Störungen, Substanzmittelmissbrauch, ungewollte Schwangerschaft, mangelnde Selbstfürsorge, frühe Elternschaft (< 18. Lebensjahr), bereits erfolgte Vernachlässigung/Misshandlung eines Kindes in der Vergangenheit
Familiäre Ebene soziale und wirtschaftliche Belastungen einer Familie wie Partnergewalt, Arbeitslosigkeit
Soziale/kommunale Ebene fehlendes soziales, unterstützendes Netzwerk der Familie, Kriminalität, sozialer Brennpunkt
gesellschaftlich-kulturelle Ebene hohe Armutsquote, Toleranz gegenüber aggressiven/gewaltförmigen Konfliktlösungen, Toleranz gegenüber Elterngewalt, Macht- und Beziehungsgefälle zwischen den Geschlechtern, inflationäres Angebot gewalthaltiger und pornografischer Darstellungen in den Medien
Die Eigenschaften von Kindern sollten prinzipiell nicht als Ursache für das Auftreten von Vernachlässigung betrachtet werden, da das ein Selbstverschulden impliziert, das per se nicht gegeben ist. Dennoch können die Eigenschaften eines Kindes als Stressoren und damit als Auslöser der Dekompensation der bereits beeinträchtigten elterlichen Kompetenzen angesehen werden. Zu denken ist hier neben chronisch kranken, behinderten und frühgeborenen, also betreuungsintensiven Kindern auch an Kinder mit Regulationsstörungen (Schlaf- und Fütterstörungen) beziehungsweise Schreibabys. Gerade bei jungen Eltern und ungeplanten Schwangerschaften kann die Verantwortung für die empfundene Verschlechterung und Einschränkung der individuellen Möglichkeiten dem Säugling übertragen werden. Zudem kann das Kind zu einem unbewusst herbeigesehnten, aber völlig unangemessenen, überhöhten «Sinnstifter» gemacht und als Kompensation für fehlende eigene persönliche oder berufliche Zukunftsperspektiven missbraucht werden. Auch der innige Wunsch von häufig selbst als Kinder misshandelten oder vernachlässigten Eltern, durch das Kind geliebt und angenommen zu werden, führt zu unerfüllbaren und unrealistischen Anforderungen an das Kind, dem dieses in der Regel nicht gerecht werden kann. Die Enttäuschung (narzisstische Kränkung) der Eltern kann in diesen Fällen in eine empfindliche, oftmals dauerhafte Störung der sich gerade erst entwickelnden Eltern-Kind-Bindung/-Beziehung und damit in eine Abwendung vom Kind im Sinne einer Vernachlässigung münden. Auch soziale Isolation und fehlende Ressourcen, sozialer Stress durch Arbeitslosigkeit, Armut und Wohnungsnot sind als gesellschaftliche Faktoren mitbedingend für das Auftreten von Vernachlässigung. Auch bei psychisch misshandelnden Eltern werden häufig insuffiziente Elternkompetenz, ein autoritärer Erziehungsstil, das Vorliegen psychischer Erkrankungen, Suchtmittelabusus, Suizidversuche, niedriges Selbstwertgefühl, mangelnde Empathiefähigkeit, häusliche Gewalt und familiäre Dysfunktion beschrieben. Letztlich ist auch ein Einfluss biologisch-archaischer und genetischer Faktoren für das Auftreten von Vernachlässigung und psychischer Misshandlung zu diskutieren.
Symptomatik und Diagnostik
Die Folgen von Vernachlässigung lassen sich grundsätzlich in vier Gruppen unterteilen: Körperliche Entwicklung Übergewicht, Untergewicht, Gedeihstörung, verzögertes Längenwachstum (spät), schlechter Pflegezustand (z.B. ungewaschene Kinder bei geplanter Arztvorstellung, längeres Tragen eingekoteter/eingenässter Windeln; ungeschnittene Finger- und Zehennägel), hohe Krankheitsanfälligkeit, verzögertes Sauberwerden, mangelnde Zahnhygiene, Tod. Entwicklung der Wahrnehmung Verzögerte Sprachentwicklung, verzögerte/ausbleibende körperliche und kognitive Entwicklung, Konzentrationsschwierigkeiten und so weiter.
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Psychische Entwicklung Interesselosigkeit, Leistungsverweigerung, gemindertes Selbstwertgefühl, emotionaler Rückzug, Depressionen und Ängste, selbstverletzendes Verhalten, suizidales Verhalten, Suchtmittelkonsum und so weiter. Soziale Entwicklung Unangepasstes Sozialverhalten, mangelnde soziale Intergration, Distanzlosigkeit, Aggressivität, Kontaktabbrüche und so weiter. Welche Symptome ein Kind aufgrund der erlittenen Vernachlässigung entwickelt und welche Folgen die Vernachlässigung hat, ist abhängig von der Art und der Dauer der Vernachlässigung sowie vom Alter und von der individuellen Charakterstruktur des Kindes. Wenn die Bedürfnisse eines Kindes auf verschiedenen Ebenen und über einen längeren Zeitraum hinweg nicht genügend befriedigt werden, ist das Risiko höher, dass sich Langzeitschäden entwickeln, die sich bis in das Erwachsenenalter ziehen können. Die häufigsten Auswirkungen bei Erwachsenen sind psychische Störungen, Beziehungsprobleme sowie vernachlässigendes Verhalten gegenüber den eigenen Kindern. Wie bei anderen Kindesmisshandlungsformen erfordert es für die Diagnose einer Vernachlässigung zunächst die Bereitschaft, den Verdacht auf eine Vernachlässigung überhaupt zuzulassen. Nicht immer lässt sich eine Vernachlässigung prima vista, wie beispielsweise am klinischen Bild einer nicht organischen Gedeihstörung, erkennen. Häufiger wird der Verdacht auf das Vorliegen einer Vernachlässigung aufgrund unspezifischer Symptome geweckt. Zu diesen unspezifischen Symptomen gehören eine gestörte Entwicklung der Sprache, der Motorik und der Kognition, das Fehlen des reaktiven Lächelns bei Kleinkindern, geringer/fehlender Blickkontakt oder Apathie. In der Eltern-Kind-Interaktion zeigt sich oft ein wenig wertschätzender und wenig freundlicher Umgang mit dem Kind, der von wenig Zärtlichkeit und Schutz sowie vielen verbalen Zurechtweisungen geprägt ist. Bei älteren Kindern und Jugendlichen kann das gesamte Spektrum an unspezifischen emotionalen, psychischen und sozialen Verhaltensauffälligkeiten beobachtet werden. Vernachlässigte Kinder fallen zudem oft durch ihre mangelnde soziale Fähigkeit, Beziehungen zu knüpfen und aufrechtzuerhalten, und ein ambivalentes Verhalten gerade bei Verabschiedungen und Wiederbegegnungen auf. Nicht selten entstehen aus Vernachlässigung internalisierende psychische und emotionale Störungen. Die Diagnose kann in diesen Fällen – wenn überhaupt – nur im Rahmen eines längeren Beobachtungszeitraums und in Zusammenschau aller Aspekte gestellt werden, wobei auch Beobachtungen anderer Fachpersonen (z.B. Kindergarten, Schule), die mit Kind und Familie in engerem Kontakt stehen, mit einbezogen werden sollten. Wesentlich ist auch eine gründliche differenzialdiagnostische Herangehensweise zum Ausschluss anderer Ursachen für die festgestellten Symptome (siehe auch Tabelle 4).
Fallmanagement bei Vernachlässigung und psychischer Misshandlung
Viele schwerwiegende Fälle von Vernachlässigung können verhindert werden, wenn Eltern bereits im Stadium der beginnenden oder latenten Vernachlässigung durch geeignete Beratungs- und Unterstützungsangebote gezielt in ihren Beziehungsstrukturen gestärkt werden. Hierzu ist es notwendig, (werdende) Eltern bereits frühzeitig auf entsprechende Bera-
Tabelle 4: Diagnostik bei Verdacht auf Vernachlässigung
• Dokumentation der somatischen Entwicklung im Verlauf (Körperlänge, Gewicht, Kopfumfang, Zahnstatus)
• Dokumentation des Pflegezustandes im Verlauf • gegebenenfalls Ausschluss einer organisch bedingten Gedeihstörung (z.B. chronische Hepato-
pathie, gastroösophagealer Reflux, Zöliakie, intestinale Kuhmilchproteinallergie, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Mukoviszidose, Kohlehydratmalabsorption, parasitäre Infektionen, embryofetales Alkoholsyndrom, intrauterine Wachstumsretardierung etc.) • Dokumentation des (Nicht-)Wahrnehmens von Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen, Zahnvorsorge, Karies-Rachitis-Prophylaxe • Dokumentation und Beurteilung der psychischen, emotionalen, motorischen und kognitiven Entwicklung im Verlauf • Dokumentation der Interaktion in der Praxis • Beschreibung von Verhaltensauffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen • Dokumentation der Familien- und Sozialanamnese, belastenden Lebensumstände, Eigenanamnese der Eltern • Dokumentation des von den Eltern geschilderten subjektiven Empfindens der Eltern-Kind-Bindung und -Beziehung (im Verlauf)
nach Herrmann 2008 (10)
Tabelle 5: Folgen verschiedener Vernachlässigungsformen
Vernachlässigung körperlicher Bedürfnisse Das Kind trägt keine der Jahreszeit/Witterung entsprechende Kleidung; das Kind trägt immer durchnässte/eingekotete Windeln; grosse Körperareale sind entzündet/gerötet; das Kind ist sehr häufig krank.
Vernachlässigung des Bedürfnisses nach Schutz und Sicherheit Das Kind wird oft ohne Aufsicht alleine gelassen; das Kind wird nicht auf Gefahren hingewiesen und nicht unterstützt, sie zu erkennen.
Vernachlässigung des Bedürfnisses nach Verständnis und Bindung Das Kind erhält keine Zuwendung und Aufmerksamkeit; das Kind kann nicht benennen, wer seine ganz direkten Bezugspersonen sind.
Vernachlässigung des Bedürfnisses nach Wertschätzung Das Kind wird nie gelobt und erhält nur herablassende Kritik; die Art, wie das Kind angesprochen wird, ist mehrheitlich grob, verletzend und/oder widersprüchlich.
Vernachlässigung des Bedürfnisses nach Anregung, Spiel und Leistung Das Kind darf nicht mit anderen Kindern Kontakt pflegen und spielen; der Drang des Kindes, zu entdecken, wird nicht gefördert; dem Kind werden Alltagsfertigkeiten nicht beigebracht; das Kind erhält keine Förderung bei der Bewältigung von Schul- und Lernaufgaben.
Vernachlässigung des Bedürfnisses nach Selbstverwirklichung Das Kind wird nicht dabei unterstützt, eigene Erfahrungen zu machen; das Kind wird nicht als Individuum angesehen und wertgeschätzt.
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Das Verhalten der Kinder sollte prinzipiell nicht als Ursache für die Vernachlässigung betrachtet werden.
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tungs- und Unterstützungsangebote hinzuweisen und die (werdenden) Eltern zur Inanspruchnahme solcher Angebote zu motivieren. Ansprechpartner für frühe Hilfen sind Kinderschutzstellen (z.B. Kinderschutz Schweiz) oder auch Mutter-Väter-Beratungen, daneben stehen auch die Erwachsenen- und Kinderschutzbehörden und die Kinderschutzgruppen der schweizerischen Kinderspitäler als Ansprechpartner zur Verfügung. Die Vermittlung und Inanspruchnahme früher Hilfen basiert zunächst auf Freiwilligkeit ohne Eingriff in das Elternrecht. Besteht der Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung, und sind die Eltern nicht bereit, freiwillig an einer Veränderung der Situation mitzuwirken, ist die Erwachsenen- und Kinderschutzbehörde unverzüglich einzubeziehen. Für Ärzte besteht in diesen Fällen – je nach Kantonszugehörigkeit – eine Meldepflicht beziehungsweise ein Melderecht, das heisst, die ärztliche Geheimhaltungspflicht ist von Gesetzes wegen aufgehoben (Meldepflicht) oder kann von den Ärzten selbst aufgehoben werden (Melderecht), um das höhere Rechtsgut des Kindeswohls zu unterstützen. Die jurisistischen Details im Kinderschutzverfahren werden in einem separaten Beitrag in dieser Ausgabe der PÄDIATRIE erläutert (s. Seite 20 ff). Bestehen Zweifel, ob der Verdachtsfall bereits zur Meldung verpflichtet oder berechtigt, sollte der Austausch mit entsprechenden Fachstellen wie dem Kantonsarzt, der Erwachsenen- und Kinderschutzbehörde, den Kinderschutzgruppen der schweizerischen Kinderspitäler oder einem Institut für Rechtsmedizin gesucht werden. Für die mittel- und längerfristige Gefährdungseinschätzung ist auch die Beurteilung des elterlichen Veränderungspotenzials von Bedeutung. Hierfür sollten folgende Fragen beantwortet werden: Können die Eltern die Vernachlässigungs- und Gefährdungssituation einsehen, Verantwortung für das Problem übernehmen, und sind sie bereit, aktiv Hilfe zu suchen und anzunehmen? Sind sie in der Lage, verlässlich mit dem Hilfesystem zusammenzuarbeiten? Können Eltern konstruktiv mit kritischen Rückmeldungen bezüglich ihrer Kompetenz umgehen? Wie sehr sind die Eltern motiviert, ihr Verhalten konkret und dauerhaft zu verändern? Die Erfahrung zeigt, dass sich Eltern oftmals bei entschlossenem, aber umsichtigem Vorgehen in eine vertrauensvolle, verlässliche und dauerhafte Zusammenarbeit einbinden lassen.
Zusammenfassung
Emotionale und körperliche Vernachlässigung sowie psychische Misshandlung stellen wahrscheinlich die häufigste aller Kindesmisshandlungsformen dar. Vernachlässigung und psychische Misshandlungen können allein oder in Kombination mit anderen Misshandlungsformen auftreten. Der emotionalen und körperlichen Vernachlässigung ist gemeinsam, dass elementare Bedürfnisse von Kindern ignoriert oder nicht ausreichend gestillt werden. Die durch Vernachlässigung bewirkte chronische Unterversorgung des Kindes durch die nachhaltige Nichtberücksichtigung, Missachtung oder Versagung seiner Lebensbedürfnisse hemmt, beeinträchtigt oder schädigt seine kör-
perliche, geistige und seelische Entwicklung und kann zu gravierenden bleibenden Schäden oder gar zum Tod des Kindes führen (8, 9). Die meisten Fälle von Vernachlässigung können verhindert werden, wenn Eltern bereits im Stadium der beginnenden oder latenten Vernachlässigung durch geeignete Beratungs- und Unterstützungsangebote gezielt in ihren Beziehungsstrukturen gestärkt werden. Die Erfahrung zeigt, dass sich Eltern oftmals bei entschlossenem, aber umsichtigem Vorgehen in eine vertrauensvolle, verlässliche und dauerhafte Zusammenarbeit einbinden lassen. Niedergelassene Kinder- und Hausärzte können sich bei Verdachtsfällen bezüglich des weiteren Vorgehens jederzeit bei den Kantonsärzten, den Kinderschutzgruppen der schweizerischen Kinderspitäler, der Erwachsenen- und Kinderschutzbehörde oder auch einem Institut für Rechtsmedizin beraten lassen.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Kathrin Gerlach Leitende Ärztin Forensische Medizin IRM Institut für Rechtsmedizin der Universität Basel Abteilung für Forensische Medizin und Verkehrsmedizin Pestalozzistrasse 22, 4056 Basel E-Mail: kathrin.gerlach@bs.ch
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