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SCHWERPUNKT
Regulationsstörungen im Kontext der Eltern-Kind-Beziehung
Störungen beziehungsweise Verhaltensauffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter müssen grundsätzlich im Kontext der Beziehung zu den Hauptbezugspersonen betrachtet werden. Säuglinge und Kleinkinder, die exzessiv schreien, quengeln, Probleme mit dem Schlafen und Essen haben, können Eltern an ihre Belastungsgrenzen bringen. Jedoch hängt die Bewältigung dieser Verhaltensprobleme von der Balance zwischen der Selbstregulationsfähigkeit des Kindes und den intuitiven elterlichen Regulationshilfen ab.
Von Margarete Bolten
Regulationsstörungen sind ein häufiger Vorstellungsgrund in der pädiatrischen Allgemeinpraxis. Papoušek (1) geht davon aus, dass jeder 4. bis 5. Säugling, zumindest vorübergehend, an Schrei-, Schlaf- oder Fütterungsproblemen leidet. Dem entwicklungsdynamischen Modell von Papoušek und Papoušek (2) folgend, greifen bei frühkindlichen Regulationsstörungen die Kompetenzen eines Säuglings zur Selbstregulation und interaktionelle Prozesse zwischen Eltern und Kind im Sinne einer interpersonalen Emotionsregulation ineinander. Entsprechend lassen sich Regulationsstörungen als Störungen der frühkindlichen Emotionsregulation im Kontext der Eltern-Kind-Beziehung erklären. Dabei wirken die Kompetenzen zur Emotionsregulation des Säuglings und die intuitiven elterlichen Kompetenzen zur Unterstützung der Emotionsregulation des Kindes zusammen. Bei Regulationsstörungen bestehen Defizite in der Selbstregulation, die durch Interaktionserfahrungen mit den Bezugspersonen verstärkt werden. In den ersten Lebenswochen werden die selbstregulatorischen Kompetenzen eines Kindes durch physiologische Anpassungsprozesse an seine extrauterine Umwelt (selbstständige Nahrungsaufnahme, Wärmeregulierung, Verdauung usw.) stark in Anspruch genommen. Deshalb können als eine Ursache für Regulationsstörungen, welche auf die ersten 3 Lebensmonate beschränkt sind, eine vorübergehende Unreife beziehungsweise Anpassungsschwierigkeiten vermutet werden. Bei anhaltenden Verhaltensproblemen über die ersten 3 Monate hinaus scheint jedoch eine erhöhte Reaktivität vorzuliegen (3). Besteht ein Ungleichgewicht zwischen aktivierenden und hemmenden Prozessen, ist die Fähigkeit zur Selbstregulation eingeschränkt,
und es kann zu überschreitenden Reaktionen oder Entgleisungen kommen, welche sich in Form von anhaltendem Schreien, Schlafschwierigkeiten oder Problemen bei der Nahrungsaufnahme äussern. Eine beeinträchtigte Selbstregulation stellt erhöhte Anforderungen an die interpersonale Emotionsregulation durch die Eltern. Dies kann zu einer Überforderung und damit einhergehender Erschöpfung der primären Bezugspersonen führen, was sich wiederum negativ auf deren intuitive elterliche Kommunikationsfähigkeit (Tabelle 1) und damit deren koregulatorische Unterstützung des Kindes auswirken kann. Die intuitive Unterstützung der Emotionsregulation sowie die Förderung der selbstregulatorischen Kompetenzen des Kindes durch die Eltern sind jedoch besonders bei Säuglingen mit Defiziten in der Selbstregulation von zentraler Bedeutung.
Bedeutung der Bindungsbeziehungen für die kindliche Entwicklung
Säuglinge kommen mit einem vererbten Bedürfnis nach sozialer und emotionaler Nähe zur Welt (4). Wachsen Kinder emotional depriviert auf, oder machen sie Erfahrungen von Vernachlässigung oder Gewalt, können diese Erfahrungen die neuronalen Verschaltungen entsprechend verändern, was wiederum zu Verhaltensauffälligkeiten führen kann. René Spitz beschäftigte sich erstmals systematisch mit dem Verhalten von Säuglingen und Kleinkindern im Kontext emotionaler Vernachlässigung. Spitz (5) beobachtete, dass mangelnde Fürsorge in besonders sensiblen Phasen der kindlichen Entwicklung verschiedenste psychische und psychosomatische Störungen nach sich zog. Auch der amerikanische Primatenforscher Harry Harlow konnte zeigen, dass Affenkinder, genauso wie menschliche Kinder, Nähe und Wärme
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In den ersten 3 Lebensmonaten kann eine vorübergehende Störung vermutet werden.
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Postpartale Depression ist ein unterschätzter Risikofaktor.
Mit der Verbesserung der Depression verbessert sich nicht zwangsläufig die Interaktion zwischen Mutter und Kind.
brauchen, um sich gesund zu entwickeln. So beobachteten Harlow und Zimmermann (6), dass junge Makaken, welche von ihrer leiblichen Mutter getrennt wurden, eine geborgenheitspendende Surrogatmutter aus Frottee bevorzugten, auch wenn eine andere Ersatzmutter aus Draht eine Milchflasche mit Nahrung bereithielt. Das Bedürfnis nach Wärme und Geborgenheit war also dem Streben nach Nahrung überlegen. Im weiteren Verlauf seiner Forschungsarbeiten beobachtete Harlow, dass sich Affenbabys, welche mit einer Stoffmutter zusammenlebten, unauffällig entwickelten, während die von der Drahtmutter ernährten Jungtiere später soziale und emotionale Auffälligkeiten aufwiesen.
Entwicklung der Emotionsregulation im Kontext sicherer Bindungsbeziehungen
Von den emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten, über die Säuglinge verfügen, ist das Schreien die effektivste und wichtigste Kommunikationsform, um der Umwelt Bedürfnisse wie Hunger, Durst, Frieren, Missbehagen oder Schmerzen sowie das Bedürfnis nach Nähe mitzuteilen. Das Schreien führt normalerweise bei Bezugspersonen zu einer hohen emotionalen Erregung, weckt Fürsorglichkeit und motiviert zur Suche nach dem beziehungsweise zum Beheben des Auslösers für das Schreien. Durch das Bestreben der Eltern, positive Emotionen ihres Kindes zu fördern und negative zu vermeiden, richten sie sich intuitiv an den Bedürfnissen ihres Kindes aus und fördern damit seine Entwicklung. Auf diese Weise sind die emotionalen Reaktionen des Kindes und die intuitiven elterlichen Kompetenzen reziproke, wechselseitig aufeinander bezogene Verhaltensrepertoires. Dabei kommt der elterlichen Feinfühligkeit eine besondere Bedeutung zu. Eine feinfühlige Bezugsperson ist in der Lage, zum Teil sehr unspezifische emotionale Ausdrucksformen des Säuglings wahrzunehmen und auf die Bedürfnislage des Kindes angemessen zu reagieren (7). Dadurch ermöglicht sie dem Säugling, zeitliche, sensorische und räumliche Kontingenzen zwischen Emotionsanlass, Emotionsausdruck und Bewältigungshandlung zu erfahren. Erst durch die interpersonale Regulation der kindlichen Emotionen mit feinfühligen Bezugspersonen entwi-
Tabelle 1: Merkmale der intuitiven elterlichen Kommunikationsfähigkeit
• gute Verständlichkeit durch einfache, auffällige Verhaltensmuster mit häufigen Wiederholungen in langsamem Tempo mit regelmässigen Pausen
• hohe Feinfühligkeit, das heisst Wahrnehmen, Verstehen sowie promptes und angemessenes Reagieren auf die Signale des Kindes
• Vorhandensein basaler Regulationshilfen in Bezug auf Verhaltenszustand, affektive Erregung und Aufmerksamkeit des Säuglings
• gute Abstimmung der Kommunikation auf die momentane Aufnahmebereitschaft, das Erregungsniveau beziehungsweise die Überlastung/Überreizung des Babys
• «Spiegeln» des kindlichen Ausdrucksverhaltens • empathisches Einfühlen in die kindliche Gefühls- und Erfahrungswelt
ckelt sich aus den Vorläuferemotionen ein funktionstüchtiges Emotionssystem.
Regulationsstörungen als Risikofaktor für sichere Bindungsbeziehungen
Chronische Unruhe, unstillbares Schreien, Probleme mit dem Schlafen oder Nahrungsverweigerung können aufseiten der Eltern zu Schlafdeprivation, Erschöpfung, Ohnmachtsgefühlen und Versagensängsten führen. Auch Wut, Ablehnung, Selbstvorwürfe oder ängstliche Überfürsorglichkeit können die Folge sein. Zudem wirken sich Regulationsstörungen negativ auf die Beziehungsgestaltung zum Kind aus und gehen zunehmend auf Kosten entspannter Interaktionen zwischen Eltern und Säugling (8). Belastungsfaktoren für die Eltern-Kind-Beziehung sind besonders dann kritisch, wenn infolge überwiegend negativer Interaktionen mit dem Säugling und der erlebten Hilflosigkeit durch die Eltern die intuitive elterliche Kompetenz beeinträchtigt wird und damit das Handeln der Eltern nicht mehr auf die kindlichen Bedürfnisse abgestimmt ist. Dies wiederum hat zur Folge, dass der Säugling zunehmend weniger koregulatorische Unterstützung durch seine Eltern erfährt. Je länger eine solche dysfunktionale Wechselseitigkeit aufrechterhalten wird, umso mehr können sich bestimmte Interaktionsmuster verselbstständigen, rigide werden und dadurch die Entwicklung langfristig gefährden.
Mütterliche Depressivität als Risikofaktor
Depressionen sind die häufigsten psychischen Erkrankungen im Postpartalzeitraum. Postpartale Depressionen wurden wiederholt mit einer beeinträchtigten mütterlichen Feinfühligkeit beziehungsweise Sensitivität und Störungen der Mutter-Kind-Interaktion in Verbindung gebracht (9). Weiterhin stellt eine Depression der Mutter einen Risikofaktor für kindliche emotionale und kognitive Entwicklungsdefizite dar (10). Dabei ist die beeinträchtigte MutterKind-Interaktion der vermittelnde Wirkfaktor. Mehrere Studien konnten zeigen, dass nicht die Depression per se einen ungünstigen Einfluss auf die kindliche Entwicklung hatte, sondern der mütterliche Interaktionsstil beziehungsweise die mütterliche Sensitivität. Entsprechend wurden bei den Kindern von depressiven Müttern mit nicht beeinträchtigtem Interaktionsverhalten keine Defizite in der kognitiven und emotionalen Entwicklung nachgewiesen (11, 12). Die Interaktionsprozesse zwischen depressiven Müttern und ihren Kindern sind jedoch häufig beeinträchtigt (13). Depressive Mütter zeigen weniger sensitives Verhalten, das heisst eine verringerte Fähigkeit, kindliche Signale wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und angemessen und prompt zu beantworten. Des Weiteren weisen die Mütter ein höheres Ausmass an Intrusivität, Aggressionen dem Kind gegenüber, Rückzugsverhalten und weniger positives Engagement in der Interaktion mit ihren Säuglingen auf. Depressive Mütter werden in geringerem Ausmass durch die Stressanzeichen bei ihrem Kind zu einer Handlung aktiviert und reagieren entsprechend weni-
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ger stark auf einen negativen Ausdruck ihres Kindes (14). Depressive Mütter schätzen sich hinsichtlich ihrer Selbstwirksamkeit in der elterlichen Rolle deutlich negativer ein als nicht depressive Mütter. Auch nehmen sie das Verhalten ihrer Kinder deutlich negativer wahr, was wiederum einen ungünstigen Einfluss auf die Mutter-Kind-Interaktionen und die mütterliche Selbstwirksamkeit haben kann. Dadurch wirken sich die depressiven Symptome der Mutter negativ auf die interpersonelle Emotionsregulation aus, was wiederum aufseiten des Kindes zu einer höheren Irritabilität und geringeren selbstregulatorischen Fähigkeiten führen kann. Die Säuglinge depressiver Mütter zeigen in der Interaktion vermehrtes Rückzugsverhalten, weniger positiven Affekt und vermeiden häufiger den Blickkontakt zur Mutter (15). Das Wegdrehen des Kopfes beziehungsweise die Blickvermeidung kann als Versuch des Kindes verstanden werden, sich vor der fehlenden Responsivität der Mutter zu schützen.
Wie erkennt man eine beeinträchtigte Eltern-Kind-Beziehung?
Wie bereits oben beschrieben bildet die Beziehung zwischen dem Säugling und seinen primären Bezugspersonen die Grundlage für eine gesunde emotionale und kognitive Entwicklung. Deshalb kommt dem frühzeitigen Erkennen von Störungen in der Eltern-KindBeziehung eine so grosse Bedeutung zu. Der Leitlinie zur Störung der frühen Eltern-Kind-Interaktion der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie (www.dgspj.de) folgend, lassen sich klar umschriebene Leitsymptome einer beeinträchtigten ElternKind-Beziehung beobachten (Tabelle 2). Eine frühkindliche Bindungsstörung im Kontext einer gestörten Eltern-Kind-Beziehung sollte jedoch nicht vor Ende des ersten Lebensjahres diagnostiziert werden. Im Gegensatz zur den Beziehungsstörungen handelt es sich bei einer Bindungsstörung um eine im Kind angesiedelte Psychopathologie, die neben einem beeinträchtigten Bindungsverhalten auch Auffälligkeiten im Explorationsverhalten und der Emotionalität betrifft.
Bindungs- und Beziehungsförderung im Säuglings- und Kleinkindalter
Ziele bindungstheoretisch begründeter Interventionen im Säuglings- und Kleinkindalter sollten die Förderung der elterlichen Feinfühligkeit, positiver ElternKind-Interaktionen und damit die Förderung sicherer Bindungsbeziehungen sein. Dabei gibt es zwei mögliche therapeutische Ansatzpunkte: • Der Therapeut setzt auf der Verhaltensebene an und
versucht, unter anderem durch den Einsatz von Videofeedback, das elterliche Verhalten im Umgang mit ihrem Kind zu modifizieren. • Der Therapeut bearbeitet mit den Eltern deren eigene Bindungsrepräsentationen und versucht, die Eltern zur Reflexion der eigenen Kindheitserfahrungen und den daraus resultierenden «inneren Arbeitsmodellen» von sich und anderen anzuleiten. Dadurch soll es den Eltern schliesslich möglich
werden, zu ihrem Kind wieder eine sicherheitspendende Beziehung aufzubauen. Dabei spielen auch die Bearbeitung und die Integration eigener traumatischer Erfahrungen eine wesentliche Rolle. In Tabelle 3 werden im Überblick die wichtigsten therapeutischen Techniken zur Verbesserung der Bindungs- und Beziehungsfähigkeit von Säuglingen und Kleinkindern beschrieben. Weiterführende und ins Detail gehende Informationen finden sich bei Ziegenhain et al. (16).
Fazit für die Praxis
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass frühkindliche Regulationsstörungen durch eine fehlende beziehungsweise mangelhafte Erregungshemmung/regulation gekennzeichnet sind und im Kontext der interpersonalen Emotionsregulation beurteilt werden
Tabelle 2: Leitsymptome einer gestörten Eltern-Kind-Interaktion
Kindliches Interaktionsverhalten: • hervorstechender Ernst und Freudlosigkeit • ausgeprägte Passivität, Apathie, Interesselosigkeit • Fehlen von spontanem Blickaustausch mit der Bezugsperson und visueller Rückver-
sicherung • auffallende motorische Unruhe, Dysphorie und Ruhelosigkeit • permanentes Fordern von Aufmerksamkeit • gehemmte Explorations- und Spielbereitschaft im Beisein der Bezugsperson • ängstlich-überangepasst-übervorsichtiges Verhalten in Anwesenheit der Bezugs-
person • exzessives Trotzverhalten und oppositionelles Verhalten bis hin zu aggressiven
Impulsdurchbrüchen
Dysfunktionale Interaktionsmuster: • häufige negative Gegenseitigkeiten in den Bereichen des Beruhigens, Schlafen-
legens, Fütterns, Zwiegesprächs, Spiels, Abgrenzens und Grenzensetzens • Mangel an Bezogenheit mit Einschränkungen in der intuitiven elterlichen Kommuni-
kation: – wenig oder keine Kommunikation im Umgang mit dem Baby – fehlende Grussreaktion auf Blickzuwendung des Babys – Vermeiden von Blick- und Körperkontakt • Ängstlich-angespannte Bezogenheit mit zu raschem, überfürsorglichem oder intrusivem Eingreifen: – sofortiges Eingreifen bei jeder Form negativen Affekts des Kindes, ohne dass dem
Kind die Möglichkeit zur Selbstregulation gegeben wird – Einschränkung spontaner kindlicher Explorationsbedürfnisse – auffallend unbeholfenes, überängstliches Handling – Abschirmen des Kindes gegenüber dem Kontakt mit anderen Personen • pausenlose Stimulation mit raschem Wechsel der Angebote ohne Rücksicht auf die kindliche Aufnahmebereitschaft • verdeckte oder offene Ablehnung mit auffallend grobem Handling ohne Bezug zum Kind und ohne Rücksicht auf kindliche Signale • fehlende Zärtlichkeit oder unvermittelt heftige Zärtlichkeitsbekundungen • Misshandlung mit manifester Vernachlässigung, inadäquater Ernährung mit mangelndem körperlichem Gedeihen, schlechtem Pflegezustand, Übergehen von Signalen der kindlichen Interaktionsbereitschaft und Übersehen von Gefahrensituationen
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müssen. Eine erhöhte Irritabilität, exzessives Schreien, Schlaf- und Fütterungsprobleme gehen oft mit einer erheblichen Belastung der Eltern einher und sind ein nicht zu vernachlässigender Risikofaktor für eine Beeinträchtigung des Eltern-Kind-Systems, was wiederum einen Risikofaktor für die kindliche Entwicklung darstellt. Je länger solche dysfunktionalen Interaktionen aufrechterhalten werden, umso mehr können sich bestimmte Beziehungsmuster verselbstständigen, rigide werden und die Emotionsentwicklung langfristig gefährden. Deshalb ist eine frühzeitige Behandlung von Regulationsstörungen unbedingt zu empfehlen.
In diesem Zusammenhang wurde auch auf die Risikokonstellation postpartal psychisch erkrankter Mütter und ihrer Säuglinge hingewiesen. Die Bedeutung psychischer Erkrankungen im Wochenbett und in der Postpartalzeit wird im deutschsprachigen Raum oft unterschätzt, obwohl Studien Prävalenzraten von 10 bis 20 Prozent für Depressionen und Angststörungen aufzeigen. Die Interaktionen zwischen depressiven Müttern und ihren Kindern sind durch ein geringeres Ausmass an dyadischer Koordination und positivem Affektausdruck gekennzeichnet. Man nimmt an, dass die Qualität der Mutter-Kind-Interaktion und nicht die Depression per se entwicklungsrelevant ist.
Tabelle 3: Überblick über Techniken zur Behandlung von Regulationsstörungen und zur Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung
Therapeutische Technik Entlastung, Ressourcenaktivierung
Entwicklungsberatung
Reizreduktion, Tagesstrukturierung
Beruhigungsmassnahmen «Baby-Lesestunden»
Förderung positiver Gegenseitigkeit
Aufarbeiten eigener biografischer Erfahrungen
Warum? Eine starke Stressbelastung der Hauptbezugspersonen wirkt sich ungünstig auf deren Sensitivität und damit auf ihre Fähigkeit aus, eine sichere Basis für das Kind darzustellen.
Um Eltern für eine tiefergehende Veränderung eigener Verhaltensweisen erreichbar zu machen, sollten sie allgemein über wichtige Entwicklungsfortschritte und die Bedeutung einer sicheren Bindung bzw. feinfühligen elterlichen Verhaltens informiert werden. Durch eine geregelte Tagesstruktur und zyklische Wechsel zwischen Stillen, Wachphasen und Schlafen wird eine Übermüdung verhindert.
Aufgrund vielfacher Misserfolge beim Beruhigen des Kindes, akuter Erschöpfung oder depressiven Symptomen reagieren Eltern oft nicht mehr prompt und angemessen auf das Schrei- und Quengelverhalten ihres Kindes. Eltern nehmen die Signale ihres Kindes oft nicht mehr richtig wahr beziehungsweise interpretieren diese in einer durch die eigene Geschichte verzerrten Art und Weise.
Im Fokus der videogestützten Eltern-Säuglings-Therapie steht die Förderung beziehungsweise Wiederherstellung der elterlichen Fähigkeit, prompt und angemessen auf die kindlichen Signale zu reagieren und zugewandt und emotional verfügbar zu sein. Es wird versucht, die feinfühlige Wahrnehmung der Mütter und Väter für die Verhaltensweisen ihres Säuglings zu fördern.
Oft werden durch das Schreien intensive Gefühle und autobiografische Erfahrungen ausgelöst, die die Wahrnehmung des realen Säuglings überlagern und verzerren können. Durch eine Reflexion der eigenen Kindheitserfahrungen und der daraus resultierenden inneren Arbeitsmodelle soll es den Eltern wieder möglich werden, ihrem Kind Sicherheit spendende Beziehungsangebote zu machen.
Was? • Einbezug des unmittelbaren sozialen Umfeldes, familienentlasten-
der Massnahmen oder einer sozialpädagogischen Familienhilfe • Erarbeitung konkreter Möglichkeiten zur Entspannung, Ruhe-
phasen und regelmässiger Auszeiten im Alltag • Einführung in Entspannungstechniken • Bearbeitung von Rollenkonflikten und überhöhten Ansprüchen an
sich selbst • Informationen zu wichtigen Meilensteinen der Entwicklung • Verlauf von Schrei- und Unruhephasen beziehungsweise der
Schlafentwicklung • Bedeutung der Eltern im Kontext der frühkindlichen Emotions-
regulation • Anleitung der Eltern, ihr Kind in regelmässigen, altersange-
messenen Abständen zur Ruhe und in den Schlaf zu bringen • Sensibilisierung der Eltern für die Anzeichen von Überreizung/
Übermüdung • Abbau von permanenter Stimulation (Gymnastikball, nächtliches
Autofahren, Föhn, Staubsauger etc.) • Schaffen einer klaren Umgebung (z.B. immer am selben Ort
schlafen lassen) • Sicherheit vermitteln • Ruheinseln am Tag schaffen • Eltern ermutigen, individuell angepasste, adäquate Beruhigungs-
strategien während akuter Schrei-/Unruhephasen anzuwenden • Erforschung der Sprache des Babys: Welche Bedürfnisse werden
durch Quengeln und Schreien zum Ausdruck gebracht? • Wie können Auslöser wie Schmerz, Hunger, Langeweile oder
Übermüdung unterschieden werden? • Welche Gefühle und Attributionen löst das Schreien meines
Kindes bei mir aus? • Beobachtung der wechselseitigen Interaktionen mit dem Kind
auf der verbalen, nonverbalen und Handlungsebene • Über Ausschnitte von gelungenen, aber auch weniger gelungenen
Interaktionssequenzen lernen die Eltern, die Ausdrucksweisen ihres Kindes zu verstehen und ihr feinfühliges Verhaltensrepertoire schrittweise zu erweitern. • Eltern lernen, auf das positive Verhalten des Kindes zu reagieren und es durch entspannte Interaktionen beziehungsweise Spiele zu verstärken. • Der Therapeut versucht, Verzerrungen in der Wahrnehmung der Eltern für diese erfahrbar zu machen. • Ziel ist das In-Kontakt-Kommen mit der eigenen schmerzhaften Geschichte und den dadurch ausgelösten Affekten. • Anleitung zur Trennung zwischen dem eigenen Erleben und dem Erleben des Kindes, um das kindliche Verhalten angemessen interpretieren zu können.
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Mit der Verbesserung der Depression geht aber nicht zwangsläufig eine Verbesserung der Interaktionsqualität einher. Eine beeinträchtigte Mutter-Kind-Interaktion ist jedoch ein bedeutender Risikofaktor für die gesunde emotionale und kognitive Entwicklung eines Kindes. Deshalb sollte zur Prävention kindlicher Entwicklungsstörungen sowohl die depressive Erkrankung der Mutter als auch die Mutter-Kind-Interaktion in Form von videogestützter Interaktionstherapie behandelt werden. Jedoch existieren momentan in der Schweiz keine multiprofessionellen stationären Therapieangebote, welche sowohl die psychische Erkrankung der Mutter als auch Symptome des Kindes und die Mutter-Kind-Interaktion gemeinsam behandeln. Für die klinische Praxis wäre es deshalb wünschenswert, Therapieangebote zu schaffen, in denen die unterschiedlichen Disziplinen (Pädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Erwachsenenpsychiatrie) ineinandergreifen, um insbesondere bei Säuglingen mit einem erhöhten Risiko gezielt ungünstigen Entwicklungsverläufen vorbeugen zu können.
Korrespondenzadresse: Dr. Margarete Bolten Universität Basel, Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik Schanzenstrasse 13, 4056 Basel E-Mail: margarete.bolten@upkbs.ch
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