Transkript
Braucht ein Kinderspital ein klinisches Ethikkomitee?
ETHIK
Diese Frage mag erstaunen, denn wenn es bis anhin solche Institutionen an Schweizer Spitälern nicht oder nur kaum gibt, scheint auch für die Einrichtung solch eines Arbeitsinstruments kein wirklicher Bedarf vorzuliegen. Möglicherweise wissen jedoch die Verantwortlichen nicht, was sich hinter dem Begriff eines klinisches Ethikkomitees verbirgt. Dieser kurze Artikel soll diese Informationslücke schliessen und Anregung geben, sich mit ethischen Fragen am Spital vermehrt auseinanderzusetzen.
Von Oswald Hasselmann
Ethische Dilemmata, scheinbar unlösbare Problemstellungen, für deren Lösung es berechtigt erscheint, auch sich gegenseitig ausschliessende Lösungswege vorzuschlagen, hat es immer gegeben. Geändert hat sich jedoch in den letzten 20 bis 30 Jahren unser Werte- und Referenzsystem. Auch in medizinischen Einrichtungen werden tradierte Entscheidungswege vermehrt hinterfragt und auf ihren ethischen Gehalt überprüft. Moderne Managementstrukturen stellen sich zunehmend den aktuellen komplexen Aufgabenstellungen durch Delegation von Entscheidungen an hierarchisch durchmischte und prozessorientierte Kleingruppen von Verantwortungsträgern. Spitäler können als Unternehmen von einer konstruktiven Arbeitshaltung und damit von einer verminderten Burn-out-Rate profitieren, wenn sich die einzelnen Mitarbeiter mit der (ethischen) Grundausrichtung ihrer Einrichtung identifizieren können. Eine solche Haltung wird unterstützt, wenn Mitarbeiter in ihrem Berufsalltag die Bereitschaft erleben, dass ein offener Gedankenaustausch über ethische Fragen nicht nur möglich ist, sondern bewusst gefördert wird. Die Arbeitszufriedenheit kann hierdurch steigen, und Fehler, die durch eine «Dienst-nach-Vorschrift-Haltung» entstehen können, treten vermindert auf.
Ethische Reflexionen im pädiatrischen Alltag
Zurzeit werden Fragen beispielsweise nach der Sinnhaftigkeit und Machbarkeit lebenserhaltender Massnahmen bei extremer Frühgeburtlichkeit oder nach dem verantwortungsvollen Umgang mit vorliegenden genetischen Daten über sich erst spät manifestierende Erkrankungen gestellt. Weitere Themen sind die Berücksichtigung von Willensäusserungen von rechtlich noch nicht mündigen Jugendlichen bezüglich ihrer Therapie oder die Frage, ob eine Lebensqualitätsbeurteilung durch Dritte den Abbruch oder die Fortsetzung
von Therapieverfahren rechtfertigen kann. Das Abwägen von Eigen- und Fremdnützigkeit bei der Teilnahme von Kindern an Forschungsvorhaben ist ein Thema, welches nicht nur die verantwortliche Ethikkomission beschäftigt, sondern zunehmend auch die an solchen Verfahren beteiligten Spitalmitarbeiter. Die öffentliche Meinung mischt sich vermehrt bei Fragen der medizinischen Versorgung ein und entscheidet mit über prioritäre Mittelzuwendungen. Am Thema Impfung entzünden sich regelmässig Fragen nach der individuellen und der gesamtgesellschaftlichen Verantwortlichkeit in der Gesundheitsvorsorge, bei epidemieartig auftretenden Erkrankungen kommen Fragen auf, wie etwa, wer Zugang zu den nur begrenzt vorgehaltenen medizinischen Versorgungseinrichtungen bekommen soll, und bei der Beschneidungsdebatte vor zwei Jahren wurde die Zumutbarkeit von Schmerzen und Körperverletzung bei durch Ärzte durchgeführten rituell motivierten Handlungen diskutiert. Für diese und andere Fragestellungen kann nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass eine Spitalmitarbeiterin oder ein Spitalmitarbeiter bereits eine ethisch durchdachte Position vertreten kann oder möchte. Es wird jedoch bei jedem von ihnen ein Grundempfinden vorausgesetzt, welches, durch berufliche und eine privatbiografische Erfahrung geprägt, eine unmittelbare Auswirkung auf das jeweilige Arbeitsumfeld hat. Im Wettbewerb der Spitäler um Patienten, Ressourcen und Mitarbeiter gewinnt das ethische Profil der jeweiligen Institution zunehmend an Bedeutung. Wenn das ethische Profil eines Spitals als Teil seiner Unternehmensverantwortung verstanden wird, kann daraus ein entscheidender Standortvorteil resultieren.
Umsetzung ethischer Ansprüche im Alltag
In der Patientenversorgung, in der Aus- und Weiterbildung von Mitarbeitern und in der Formulierung un-
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Ein offener Gedankenaustausch über ethische Fragen sollte bewusst gefördert werden.
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ternehmensstrategischer Positionen haben sich die folgenden drei Instrumente zur ethischen Positionierung bewährt: • Eine Ethikkommission, die sich um die Abwägung
von gesellschaftlichen und Partikularinteressen bei der Einführung neuer Verfahren in der Diagnostik und Therapie im Rahmen von Forschungsvorhaben bemüht und hierbei Entscheidungskompetenz hat. • Standardisierte Gesprächsverfahren bei divergierenden Ausgangspositionen vor gewichtigen Entscheidungen in der Patientenversorgung. Hierbei handelt es sich um eine beratende Instanz. • Ein klinisches Ethikkomitee (KEK), welches, ohne inhaltlich weisungsgebunden zu sein, bei ethisch motivierten Fragestellungen von intern oder extern der Institution und ihren Mitarbeitern dient und den beiden zuvor genannten Instrumenten zuarbeitet. Die Funktion eines KEK ist in einer Publikation der SAMW* ausführlich beschrieben und lässt sich wie folgt kurz zusammenfassen:
Ein Fallbeispiel
In der 25. Schwangerschaftswoche (SSW) wird nach mehrfacher IVF-Behandlung bei einem Fötus die Diagnose einer Spina bifida mit einer assoziierten Fehlbildung des zentralen Nervensystems gestellt. Die Eltern äussern den Wunsch nach einem Abbruch der Schwangerschaft. Diesem Wunsch wird in zwei Zentrumsspitälern nach ausführlicher interner Diskussion aufgrund der potenziellen Lebensfähigkeit des Föten nicht entsprochen. Es handelt sich hierbei nicht um die einzig mögliche ethisch zu rechtfertigende Entscheidung: Wiederholt wurden an Schweizer Spitälern Beendigungen der Schwangerschaft bei erwarteter schwerer Behinderung des Kindes auch jenseits der 25. SSW durchgeführt. Diese Eingriffe wurden als Fetozid oder Infantizid nach vorausgehendem Kaiserschnitt durchgeführt. Im weiteren Verlauf der Schwangerschaft argumentieren die Eltern, dass es ihnen nicht zuzumuten sei, ein schwerbehindertes Kind zu bekommen, und fragen nach der Möglichkeit, dass lebenserhaltende Massnahmen postnatal bei dem Säugling unterlassen werden. Im Konsens zwischen Pädiatern und Geburtshelfern fällt der Entschluss für eine vollständige postnatale Versorgung des Säuglings, sofern eine unmittelbare Lebensfähigkeit des Säuglings vorliegt. Zweimal wurde somit eine ethisch motivierte Entscheidung getroffen mit dem Ziel, den Lebensanspruch des Kindes prioritär zulasten des Wunsches der Eltern zu berücksichtigen. In den moderierten Gesprächen im Rahmen der Entscheidungsfindung wurde in diesem Zusammenhang wiederholt darauf hingewiesen, dass eine spätere Akzeptanz der Eltern für ihr behindertes Kind nicht vorausgesetzt werden kann und das Kind möglicherweise fremdplatziert werden kann. Die Erfahrung der nicht auflösbaren Ambivalenz der Eltern zwischen ihrem starken Kinderwunsch und der Sorge um eine Überforderung durch die erwartete Behinderung des Kindes war ebenso wie die Positionierung des Spitals bei der Nichteinwilligung in einen späten Abort für alle Beteiligten eine Herausforderung, die in nachfolgenden Gesprächen thematisiert wurde. Ein klinisches Ethikkomitee sieht sich in einer solchen Situation in der unmittelbaren Aufgabe, alle Beteiligten in ihrer Entscheidungsfindung zu unterstützen. Dies umfasst die Einordnung der Fragestellung in die aktuelle Rechtsgebung, die vorbereitende Unterstützung der Moderatoren der ethischen Fallkonferenzen, die Kontaktaufnahme mit Spitälern, die bereits Erfahrungen mit dieser Situation haben, die Dokumentation der aktuellen Entscheidungsfindung sowie das Angebot an ethischer Intervision und Supervision für die Betroffenen.
Zur Erfüllung der oben beschriebenen Aufgabenstellungen werden im KEK unterschiedliche Berufsgruppen und Hierarchiestufen des Spitals repräsentiert sein. Die Mitglieder sind mit den internen Abläufen ihrer Institution gut vertraut. Es handelt sich bei dem KEK um eine Stabsstelle, deren Arbeitsweise geprägt ist von einer verantwortungsvollen Haltung gegenüber den Spitalmitarbeitern. Falls bei dem Ziel, eine gute Entscheidungs- und Handlungsqualität zu erreichen, Loyalitätskonflikte oder Fehler auftreten, sollten diese nicht primär personalisiert werden, sondern, soweit zutreffend, als Systemfrage erkannt und dialogisch beziehungsweise systemimmanent aufgearbeitet werden. Die Mitglieder des KEK verfügen über eine fundierte Ausbildungs- und Reflexionskapazität in Fragen der biomedizinischen Ethik und sind überregional gut mit den jeweiligen Fachgesellschaften, den gesetzgebenden Institutionen und den Meinungsbildern vernetzt (z.B. Schweizer Akademie für medizinische Wissenschaft [SAMW], Schweizer Gesellschaft für Biomedizinische Ethik [SGBE], Nationale Ethik-Kommission [NEK]).
Ideal und Realität
Der klinische Alltag erfordert häufig rasche und unkomplizierte Entscheidungswege. Hierarchische Entscheidungsstrukturen und erfahrungsgesättigte Entscheidungsalgorithmen haben hierbei ihre tradierte Daseinsberechtigung. Entscheidungsträger im Spital sind in der Durchführung normativer Diskurse nur selten ausgebildet und geschult und fühlen sich häufig einer konsequenzialistischen/utilitaristischen Argumentation vertrauter als der einer philosophisch/existenzialistischen Sichtweise. In Zeiten von Fallpauschalen und dem Primat einer evidenzbasierten Medizin kann es manchen zu aufwendig erscheinen, Mittel, Zeit und Personal für ethische Reflexionen zu erübrigen. Letztere werden jedoch aufgrund der Komplexität der medizinischen Fragestellungen und des Wertepluralismus aller Betroffenen in einer sich kontinuierlich individualisierenden Gesellschaft nicht mehr zu ignorieren sein. Die Etablierung eines KEK kann somit als Antwort auf eine zunehmend deutlich werdende Artikulation des Bedürfnisses nach ethischer Orientierung verstanden werden. Diese kann jedoch nur gelingen, wenn die Mandatsträger ihre Aufgabe nicht als Selbstzweck, sondern als Teil ihrer Profession als Ärzte, Pflegende und administrative Mitarbeiter verstehen und die unmittelbare Relevanz ihrer Positionen jeweils an der Praxistauglichkeit im klinischen Alltag prüfen.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Oswald Hasselmann Master of Advanced Studies in Applied Ethics Oberarzt mbF, Neuropädiatrie, KER-Zentrum Stiftung Ostschweizer Kinderspital Claudiusstr. 6, 9006 St. Gallen E-Mail: oswald.hasselmann@kispisg.ch
*www.samw.ch/de/Ethik.html siehe auch: Schweizerische Ärztezeitung 2011; 92: 26.
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