Transkript
DERMATOLOGIE
Chronische Urtikaria
Besteht die Urtikaria länger als sechs Wochen, ist von einem chronischen Verlauf auszugehen. Hier sollten Beginn, Verlauf, die Umstände, assoziierte Symptome, Infektionen beziehungsweise andere Erkrankungen, bekannte Allergien oder Medikamente bei der Analyse berücksichtigt werden. Zur Basisabklärung gehört anschliessend die Untersuchung der Schilddrüse, aber auch die Suche nach möglichen Parasiten. Bleibt beides erfolglos, kann nach chronischen Infekten, möglichen Autoimmunerkrankungen oder Additivaintoleranzen gesucht werden. Die Erstellung eines Gesamt-IgE sei hingegen zu unspezifisch, um brauchbare Hinweise auf Allergien zu bekommen, sagte Bircher. Unter den physikalischen Triggern, die in Zusammenhang mit einer chronisch induzierbaren Urtikaria stehen, sind Dermografismus, Kälte und Wärme (hier ist vor allem die Kerntemperatur gemeint) recht häufig. Dagegen spielen Druck, Vibrationen, Licht oder Wasser als Auslöser eine eher untergeordnete Rolle. Als einzige wirklich gefährliche Form gilt die Kälteurtikaria (Eiswürfeltest), da sie beim Schwimmen zu einer Hypotonie führen kann.
Antihistaminika
Als Therapie der ersten Wahl werden Antihistaminika der zweiten Generation, wie zum Beispiel (Levo)cetirizin, (Des)loratadin, Fexofenadin oder Bilastin, empfohlen. Dagegen seien die alten, sedierenden Antihistaminika eigentlich nicht mehr im Gebrauch, erklärte Bircher. Die für Erwachsene empfohlene Tagesdosiserhöhung dieser Medikamente (bis zu vierfach) sei als SecondLine-Therapie für Kinder nicht überprüft. Ebenso seien die meisten Third-Line-Empfehlungen off label für die Kleinen. Bei den für Kinder zugelassenen Antihistaminika müssten die Altersangaben beachtet werden (Tabelle), wer unter Einjährige behandelt, sei immer im Off-label-Bereich, so Bircher. Manche Kinder entwickeln auch unter normal dosierten Antihistaminika eine Stimulation des Appetits. Dies kann eine rasche Gewichtszunahme zur Folge haben. Deswegen sollte man die Eltern darauf hinweisen, ihr Kind bei Heisshungerattacken etwas zu bremsen.
Renate Bonifer
SGDV-Fortbildung «Pädiatrische Dermatologie», 7. November 2013, Universitätsspital Basel
LESERMEINUNG
Autismus und geistige Behinderung
Leserbrief zur «Pädiatrie» 6/2013
In seinem Leserbrief (Fischer U: Veränderungen in der Autismuslandschaft. PÄDIATRIE 2013; 6: 24) stellt Dr. Ulrich Fischer Fragen zum Zusammenhang zwischen geistiger Behinderung und Autismus. Er äussert den Verdacht, dass schwer geistig behinderte Kinder zu Unrecht eine Autismusdiagnose bekommen. Beginnen wir mit den Zahlen. Natürlich gibt es Diskussionen zur Häufigkeit autistischer Störungen, und unterschiedliche Studien haben divergierende Werte ergeben. Trotzdem kommen die meisten Arbeiten auf erstaunlich ähnliche Zahlen. Hier zeigt sich auch, dass international mit vergleichbaren diagnostischen Methoden und Konzepten gearbeitet wird. In den amerikanischen Studien mit den höchsten Zahlen beruht die Zunahme der letzten 10 Jahre vor allem auf normal intelligenten «Asperger-ähnlichen» Kindern. Fehldiagnosen bei geistig behinderten Kindern scheinen hier keine Rolle zu spielen. Als klinisch tätiger Kinderpsychiater wird sich Dr. Fischer, wie der grosse Teil seiner Kollegen in Europa, auf das ICD-10 abstützen. Dieses System hat wie alle Systeme seine Schwächen. Man kann es aber nicht für eine spezifische Diagnose ausser Kraft setzen. Nach ICD-10 erfüllen etwa ein Viertel der mittel bis schwer geistig behinderten Kinder die diagnostischen Kriterien einer Autismus-Spektrum-Störung. Umgekehrt
wird seit 40 Jahren in allen Studien zum frühkindlichen Autismus festgehalten, dass mindestens die Hälfte der Kinder auch eine geistige Behinderung zeigen. Natürlich zeigen viele schwer geistig behinderte Kinder repetitives Verhalten und Stereotypien. Eine Autismusdiagnose wird aber sicher nicht nur auf diesen Merkmalen beruhen. Viele geistig behinderte Kinder sind an sozialem Kontakt interessiert, wie jeder Besuch einer heilpädagogischen Schule zeigt. Sie reagieren auf Namensnennung, stellen Blickkontakt her oder suchen und geniessen Körperkontakt. Sie interagieren im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit anderen Kindern. Ein typisches Beispiel sind Kinder mit Down-Syndrom. Natürlich ist es ein Klischee, dass Trisomie-21-Kinder immer sozial, freundlich und musikalisch sind. Es gibt auch Kinder mit Down-Syndrom und Autismus; diese weisen ausgeprägte Auffälligkeiten der Kommunikation und sozialen Interaktion auf. Es gibt Verbindungen zwischen fragilem X-Syndrom oder tuberöser Sklerose und Autismus. Diese Zusammenhänge sind für die Forschung von grosser Bedeutung, weil sie Erkenntnisse über den Ursprung autistischer Störungen versprechen. Diese Kinder sind alle geistig behindert, soll man bei ihnen keine Autismusdiagnose stellen dürfen?
Dr. Fischer hat Recht, wenn er vermutet, dass gewisse Eltern eine Autismusdiagnose leichter akzeptieren können als eine geistige Behinderung, auch weil sie sich durch eine Therapie eine Heilung ihrer Kinder erhoffen. Es ist die Aufgabe der zuständigen Fachpersonen, auf die Grenzen der Behandlung hinzuweisen, die wahrscheinlich oft mehr durch die geistige Behinderung entstehen als durch den Autismus selbst. Es ist aber kaum möglich, bei einem autistischen Kind vor der Behandlung den Entwicklungsstand zuverlässig zu erfassen. Die meisten Kinder zeigen in den Intensivprogrammen einen deutlichen IQ-Zuwachs. Die intensiven Frühförderprogramme für autistische Kinder waren in den letzten 10 Jahren eine grosse Herausforderung für die IV. Sie hat sich lange gegen eine Kostenübernahme gesträubt. Bei den zentralen Stellen hat ein Umdenken stattgefunden (vgl. Rajower I, Laamir M, Rudaz M: Wer zahlt wofür? PÄDIATRIE 2013; 5: 10–16). Hier können sich neue Möglichkeiten für betroffene Kinder und ihre Familien eröffnen.
Dr. med. Ronnie Gundelfinger Leitender Arzt, KJPD Zentrum für Kinder- und
Jugendpsychiatrie, Universität Zürich Neumünsterallee 3, 8032 Zürich
E-Mail: ronnie.gundelfinger@kjpdzh.ch
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