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«Vergessene» Pubertät bei Mädchen
Behinderung oder chronische Krankheit und Sexualität
Bei Mädchen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen laufen die betreuenden Erwachsenen und Ärzte Gefahr, neben den oft komplizierten medizinischen Fragen die Pubertät und ihre Besonderheiten zu übersehen oder zu vergessen. Im folgenden Artikel werden einige dieser Besonderheiten dargelegt und die wichtigsten Untersuchungen erläutert.
Von Ruth Draths
V erschiedene chronische Erkrankungen gehen mit einer Verzögerung der Pubertätsentwicklung oder einem Pubertätsstillstand einher. Andere Handycaps begünstigen eine Pubertas praecox. Auch Besonderheiten und Fehlbildungen des Genitales sind bei verschiedenen Syndromen gehäuft und sollten nicht übersehen werden. Auffälligkeiten der Pubertät haben für die Betroffenen eine grosse Bedeutung und können einen Stolperstein in der Persönlichkeitsentwicklung darstellen. Verschiedene chronische Erkrankungen können zu einem Pubertätsstillstand oder einer
Abbildung 1: Tannerstadien Brust und Pubesbehaarung
Pubertätsverzögerung führen. Typischerweise finden wir dies bei Resorptionsstörungen, aber auch bei verschiedenen anderen Erkrankungen sollte die Pubertätsentwicklung beobachtet werden (Tabelle 1).
Diagnostik
Bei Mädchen mit chronischen Erkrankungen ist es wichtig, die Pubertätsentwicklung im Auge zu behalten. Dazu gehört neben Wachstum und Gewicht vor allem Kontrolle der Tannerstadien von Brust und Pubesbehaarung (Abbildung 1). Parallel dazu findet die Östrogenisierung des Hymens statt, sodass eine äussere Untersuchung des Genitales einschliesslich Fluoranalyse und pH-Bestimmung durchgeführt werden kann. Mit der Transabdominalsonografie kann die Anlage und Entwicklung des inneren Genitales diagnostiziert und anhand von Uterusgrösse und -reife der Therapieerfolg überwacht werden (Abbildung 2). Eine Pubertas tarda liegt vor, wenn bei einem Mädchen im Alter von mehr als 13 Jahren noch keine Pubertätszeichen aufgetreten sind. Erste Pubertätszeichen müssen spätestens bis zum 13. Geburtstag erscheinen (Abbildung 3). Fehlen diese, muss eine sorgfältige Diagnostik erfolgen und anhand der Hormonanalyse zwischen der hypergonadotropen und der hypogonadotropen Lage unterschieden werden. Die häufigste Ursache des hypergonadotropen Hypogonadismus ist ein Ullrich-Turner-Syndrom oder eine XO-Mosaikform, sodass in dieser Konstellation nach entsprechender genetischer Beratung eine Chromosomenanalyse durchgeführt werden sollte. Von einem Stillstand der Pubertätsentwicklung spricht man ab einem Entwicklungsstopp von mehr als 18 Monaten. Oft kommt es sogar zu einer Rückentwicklung bereits eingetretener pubertärer Veränderungen, wie man es auch zum Beispiel bei Anorexie
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sehen kann. Diagnostik und Therapie entsprechen derjenigen bei verzögerter Pubertätsentwicklung.
Therapie
Wird die Pubertät nur um einige Monate oder ein Jahr verzögert, ist keine Behandlung vonnöten. Sind hingegen das Körperwachstum und die Gesamtentwicklung über längere Zeit verzögert oder besteht eine Entwicklungsunterbrechung, sollte diese diagnostiziert und je nach Situation behandelt werden. Diese Therapie wird hormonelle Entwicklungstherapie genannt und ist keine Standardtherapie, wie die Hormonersatztherapie oder ein orales Kontrazeptivum. Sie gehört in die Hände einer darin erfahrenen Fachperson, wie eines Kinderendokrinologen oder einer Kinder- /Jugendgynäkologin. Je nach Pubertätsstadium wird primär mit einer sehr niedrig dosierten, reinen Östrogentherapie begonnen und die Entwicklung sorgfältig begleitet. Erst in einem fortgeschrittenen Entwicklungsstadium, oft erst im zweiten oder dritten Jahr der Substitution, beginnt die zyklische Gabe, das heisst die zusätzliche Gabe eines Gestagens zum Östrogen in der zweiten Zyklushälfte. Die Vollsubstitution, falls erforderlich, ist meist erst im dritten, manchmal erst im vierten Jahr erreicht. Hormontherapien brauchen Zeit und sorgfältige Begleitung.
Bedeutung der Diagnostik und Therapie
Jugendliche registrieren die Entwicklungsschritte in der Pubertät oft sehr genau. Sie wissen, wie weit ihre Klassenkameradinnen sind und wo sie selbst in der Entwicklung stehen. Nicht selten geht die Entwicklungsverzögerung auch mit einer negativen Selbstwahrnehmung einher. Gerade in der Zeit der Pubertät möchten Jugendliche nicht gerne auffallen, sie möchten so sein wie die anderen. Eine chronische Krankheit ist an sich schon genug belastend, auch wenn sie, wie zum Beispiel in dem Fallbericht (Fallbericht 1), nicht von aussen sichtbar ist. Wird nun die körperliche Entwicklung in der Jugendzeit beeinträchtigt, kommt dies als Belastung hinzu und führt bei gewissen Mädchen (wie auch bei betroffenen Jungs) zu sozialem Rückzug. Für eine gesunde psychosoziale Entwicklung ist rechtzeitiges Erkennen, korrekte Diagnose und adäquate Hilfestellung von grosser Bedeutung.
Rechtzeitiges Erkennen von Fehlbildungen
Angeborene Fehlbildungen einiger Organsysteme sind gehäuft mit Fehlbildungen des Genitales assoziiert. Diese sollten unbedingt rechtzeitig erkannt beziehungsweise ausgeschlossen werden. Fehlbildungen des distalen Spinalkanals sind gehäuft mit Fehlbildungen des Müllergangs assoziiert. Ebenfalls gehäuft sind kombinierte Fehlbildungen von Müller- und Wolffschem Gang. Daher sollte bei allen Mädchen mit Spina bifida (Fallbericht 2), aber auch bei Fehlbildungen oder Doppelbildungen von Nieren und ableitenden Harnwegen bereits vor der Pubertät das innere Genitale einmal sonografisch kontrolliert wer-
den. Weitere Assoziationen genitaler Fehlbildungen sind bei Hand-Fuss-Dysplasien, Meckel- und RudigerSyndrom bekannt.
Abbildung 2: Schema der Uterusgrösse und -reife
Tabelle 1: Beispiele chronischer Erkrankungen mit verzögerter Pubertät oder Pubertätsstillstand • Resorptionsstörungen, chronische Darmerkrankungen • zystische Fibrose • St.n.Transplantation • chronische Entzündungen, z.B. Leberentzündung, primär biliäre Zirrhose,
rheumatologische Erkrankungen • Autoimmunkrankheiten • schwere Herzerkrankungen • chronische Niereninsuffizienz • chronische Anämie, Thalassämie • Tumorerkrankungen, Folgen von Chemo- und/oder Radiotherapie • Erkrankungen des ZNS wie Kraniopharyngeome, Enzephalitis etc.
Fallbericht 1
Die 17-jährige Claudia wird mit primärer Amenorrhö zur Abklärung zugewiesen. In der Anamnese ist eine zystische Fibrose bekannt, Claudia ist in regelmässiger ärztlicher Behandlung und in einem stabilen Zustand. Infolge eines Wohnortwechsels kam es zu einem Wechsel der ärztlichen Betreuung, und der neue Lungenspezialist weist sie nun der Jugendgynäkologin zu. Die Untersuchung zeigt sowohl von Brustentwicklung als auch von der Pubesbehaarung ein Pubertätsstadium Tanner 2, eine fehlende Östrogenisierung des Hymens bei Hymen semilunaris und keinen Fluor vaginalis. In der transabdominalen Sonografie ist der Uterus klein und schmal, einem Stadium B2 entsprechend, die Ovarien sind ruhend. Claudia leidet seit Jahren unter der kleinen Brust und ihrem kindlich gebliebenen Äusseren. Sie vermeidet möglichst, nackt gesehen zu werden, sie meidet Schwimmbad und Sport sowie das Tragen enger Kleider oder Ausschnitte. Die fehlende Pubertätsentwicklung hat bei ihr bereits zu einem sozialen Rückzug geführt. Eine nähere Beziehung zu einem Jungen kann sie sich so nicht vorstellen, aber auch die Beziehung zu den anderen Mädchen ist dadurch belastet, Claudia fühlt sich nicht zugehörig. Leider wurde bei Claudia trotz der häufigen Arztbesuche der Pubertätsstillstand nicht bemerkt und das Mädchen mit diesem für sie sehr belastenden Problem alleine gelassen.
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Umgekehrt sollten auch bei einer Fehlbildung der Müller’schen Gänge, zum Beispiel bei einer Atresie von Vagina und Uterus, dem Mayer-Rokitanski-Küster-Hauser-Syndrom, sowohl Fehlbildungen von Niere und ableitenden Harnwegen als auch des Skeletts ausgeschlossen werden. Sind alle drei Organsysteme (Skelett, Müller- und Wolff’scher Gang) betroffen, spricht man von einer MURCS-Assoziation: Aplasie der Müller’schen Gänge, Nierenaplasie und Dysplasie der zerviko-thorakalen Somiten. Infolge der Schwere wird meist die skeletale und renale Fehlbildung früh er-
Abbildung 3: Schema Pubertätsentwicklung bei Mädchen; PHV: Maximum der Wachstumsgeschwindigkeit (peak height velocity); B1-5 und P1-5: Tannerstadien (s. Abb. 1)
Fallbericht 2
Ein 14-jähriges Mädchen wird notfallmässig wegen Bauchschmerzen in die Kinderklinik eingewiesen. Sie hat eine bekannte Spina bifida und sitzt im Rollstuhl. Die Menarche erfolgte vor einigen Monaten. Die Beschwerden haben sich in den letzten Monaten mehrmals ereignet. Bis anhin wurden diese auf eine Obstipation zurückgeführt. In der Untersuchung zeigt sich ein druckdolentes Abdomen ohne Abwehrspannung, keine Hinweise für eine Appendizitis oder Zystitis. Im jugendgynäkologischen Konsil zeigt die Transabdominalsonografie dann eine einseitige Hämatometra und Hämatosalpinx bei Uterus duplex mit nicht kommunizierendem Horn.
Tabelle 2: Wichtige Themen in der jugendgynäkologischen Sprechstunde für Mädchen mit Handycap • Blutungsstörungen • Schmerzen bei der Periode • vorzeitiges Erlöschen der Ovarialfunktion • Knochengesundheit • Verhütung • Sexualität • Schutz vor sexuell übertragbaren Infektionen • Blasenprobleme, Harnverlust • Fruchtbarkeit • genetische Beratung • Impfungen, auch HPV-Impfung
kannt, die genitale Fehlbildung aber oft übersehen, sodass die betroffenen Mädchen oft erst anhand der Abklärungen wegen primärer Amenorrhö erfahren, dass bei ihnen neben den anderen Fehlbildungen auch eine Atresie von Vagina und Uterus vorliegt. Im erwähnten Beispiel (Fallbericht 2) ist die Therapie der Wahl eine operative Entfernung des nicht kommunizierenden Uterushorns.
Beratung von Mädchen im Rollstuhl
Jugendliche im Rollstuhl erleben die Pubertät oft anders als gesunde Gleichaltrige. Sie sind vermehrt auf Hilfe angewiesen, der Umgang mit der Menstruationsblutung kann mühsam sein, und die Anwendung von Binden führt nicht selten infolge des stundenlangen Sitzens zu Schädigung der Haut. Gerade bei starker Menstruationsblutung und Abhängigkeit von Pflegepersonal beim Bindenwechsel ist die gesamte weibliche Entwicklung oft negativ assoziiert. Dazu kommt oft noch eine Dysmenorrhö oder Hypermenorrhö, die das Mädchen zusätzlich belasten und schwächen kann. Eine frühe und kompetente Beratung ist wichtig. In den meisten Fällen kann die Dysmenorrhö mit Analgetika gut behandelt werden, gelegentlich reicht auch ein pflanzliches Präparat oder die Gabe von Magnesium. Zur Therapie einer Hypermenorrhö kann die Gabe von Tranexamsäure (Cyklokapron®) notwendig sein. Bei Mädchen und Frauen im Rollstuhl muss infolge der Immobilität auf die Gabe von östrogenhaltigen Hormonpräparaten verzichtet werden, sowohl als Therapeutikum von Blutungsstörungen als auch als Kontrazeption. Hingegen ist eine reine Gestagengabe eine Möglichkeit, insbesondere kann die Einlage einer Hormonspirale (hormonelles Intrauterinsystem) eine sehr sinnvolle Therapie von Dysmenorrhö und Hypermenorrhö darstellen. Bei jungen Jugendlichen oder kleiner Gebärmuttergrösse wird möglicherweise die kleinere Hormonspirale Jaydess® eine geeignete Möglichkeit bieten; sie ist etwas kürzer und schmaler (Durchmesser 3,8 mm, in der Schweiz voraussichtlich ab April 2014 erhältlich). Die Anwendung von DepotMPA (Medroxyprogesteronacetat; Depo-Provera®, Sayana®) sollte bei Mädchen im Rollstuhl eher vermieden werden, da durch die Immobilisation eine höhere Gefährdung für Osteopenie und Osteoporose besteht.
Sexualität und Behinderung: ein doppeltes Tabu
Eine grosse Bedeutung hat das Gespräch über Sexualität für Jugendliche mit besonderen Bedingungen. Jugendliche mit einer Behinderung haben dieselben Interessen, Fragen und Unsicherheiten wie andere Jugendliche auch. Leider erhalten sie aber oft weniger Informationen über Sexualität, Verhütung und sexuell übertragbare Infektionen. Hier besteht ein grosser Bedarf an Beratung und Aufklärung. Gerade bei seltenen Syndromen oder Erkrankungen muss die Verhütungsfrage, zum Beispiel in Bezug auf medikamentöse Interaktionen, kardiovaskuläre oder thromboembolische Risiken oder auch Resorptionsstörungen, sorg-
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fältig abgeklärt werden. Die Anwendung mechanischer Verhütungsmittel wie des Kondoms ist zum Beispiel dann problematisch, wenn bei einem Partner oder bei beiden eine motorische Einschränkung der Feinmotorik besteht. Viele Jugendliche mit Handycap beschäftigt auch schon früh die Frage, ob sie überhaupt fruchtbar sind, ob eine Schwangerschaft und Geburt möglich wäre und wie hoch das Risiko für die Vererbung der Behinderung ist.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Ruth Draths FMH Gynäkologie und Geburtshilfe Leitende Ärztin Neue Frauenklinik Luzern Spitalstrasse, 6000 Luzern 16 E-Mail: ruth.draths@luks.ch
Zusammenfassung
Die Zeit der Pubertät geht für alle Jugendliche mit grossen Veränderungen und vielen Fragen einher. Besonders bei Jugendlichen mit ernsten Erkrankungen und körperlichen Behinderungen sind die betreuenden Personen aber oft so sehr mit den verschiedenen medizinischen Fragen beschäftigt, dass die Pubertät vergessen wird. Sexualität von Menschen mit Behinderung ist immer noch ein Tabu, sodass es auch wenig Fachliteratur gibt und Eltern mit den Fragen der Pubertätsentwicklung ihres Kindes oft alleine gelassen sind. Einige dieser Jugendlichen sind zwar immer wieder in ärztlicher Kontrolle, haben aber noch nie über Pubertät oder Sexualität gesprochen.
Buchtipp für Jugendliche und Eltern
Vergessene Pubertät: Sexualität und Verhütung bei Jugendlichen mit einer chronischen Krankheit oder Behinderung. Von Ruth Draths. 160 Seiten, kartoniert. ISBN 978-3-456-85123-5. Verlag Hans Huber, Bern, 2012. Anliegen des Buches ist es, Jugendliche und auch ihre Eltern und Betreuungspersonen früh und ausführlich zu informieren; medizinische Hintergrundinformationen sind besonders hervorgehoben – sodass auch Fachleute in der Beratung von Jugendlichen mit speziellen Bedürfnissen profitieren können. Mit dem Kauf dieses Buches wird ein Präventionsprojekt für Jugendliche unterstützt (www.firstlove.ch).
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