Transkript
SCHWERPUNKT
«Ohne» macht mehr Spass
Plädoyer für einen geschlechtsspezifischen Fokus zukünftiger Aufklärungsstrategien
Die Einstellung von Jungen und Männern zu Sexualität und Verhütung hat erheblichen Einfluss auf das Verhütungsverhalten von Mädchen und Frauen. Darum sollten Informationsangebote und Aufklärungskampagnen den geschlechtsspezifischen Ansatz stärker berücksichtigen.
Von Bernhard Stier
Jungen unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Sexualität erheblich voneinander, schon allein nach ihrem Alter und ihrem Entwicklungsstand, aber auch nach elterlichen und gesellschaftlichen Moralvorstellungen, dem sozialen Milieu, in dem sie aufwachsen, nach ihren Aneignungsmöglichkeiten, ihren sexuellen Erfahrungen und so weiter. Eine «normal-standardisierte» oder «natürliche» sexuelle Entwicklung von Jungen gibt es dementsprechend nicht. Ein differenzierender Blick auf Jungen ist deshalb grundsätzlich notwendig. Dabei lässt sich allerdings ein wesentliches, allen gemeinsames prägendes Element herausstellen – das männliche. Jenseits der vielfältigen Ausprägungen männlicher Sexualität ist diese durch drei Dimensionen charakterisiert: • sie ist erstens durch die körperlichen Bedingungen
und Erlebnismöglichkeiten bestimmt; • sie ist zweitens in Bezug auf die Psyche wirksam,
als Facette der Identität, in Selbstbildern und -definitionen, individuellen Bedürfnissen und ihren Befriedigungswünschen, oder in Emotionen und so weiter; • schliesslich wird das Männlich-Geschlechtliche der Jungensexualität als Facette und Ausdruck sozialer und kultureller Geschlechtlichkeit geprägt und definiert, etwa über Vorstellungen darüber, wie männliche Sexualität ist oder zu sein hat, über Normen oder über kommerzielle, sexualitätsprägende Angebote (Werbung, Pornografie). In jedem Fall ist der Begriff der «männlichen Sexualität» unbedingt zu unterscheiden von Gewalt, Machtverhalten, Dominanz oder Ausbeutung, die sich lediglich in sexueller Form zeigen, aber nicht notwendigerweise zu männlichem Sexualverhalten gehören.
Sexualität als Zeichen erfolgreicher Männlichkeit
Sexualität stellt – neben Arbeit – die vorherrschende Schaubühne erfolgreicher Männlichkeit dar. Funktio-
nalität als wesentlicher Aspekt der Potenz prägt entscheidend männliche Sexualität, und sie ist eng mit dem Selbstverständnis «Mannsein» verknüpft. Reproduktive Sexualität ist ein zentrales Moment von Männlichkeitsvorstellungen und -ideologien. Dabei spielen Leistung und der Massstab der Erektions- und Zeugungsfähigkeit eine besonders bedeutende Rolle. Die Erprobung männlicher Rollenvorstellungen im Kontext des Sexualverhaltens erfolgt zumeist in männlichen Peergroups und erfährt dort ihre gegenseitige Bestärkung. Eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit und Modifizierungsmöglichkeiten im männlichen Rollenverhalten wirken als Verstärker. Diese Rollenbilder/Rollenstereotype, soziale und sexuelle Normen, erlernte Verhaltensmuster, Moral- und Wertevorstellungen haben einen erheblichen Einfluss auf männliches Sexualverhalten. Durch kulturelle Verankerung ist männliche Sexualität auch im biologisch-reproduktiven Bereich unausweichlich durch Männlichkeitsbilder «besetzt». Die Aneignung, das Praktizieren und Weiterentwickeln männlicher Sexualität bedeutet für Jungen und Männer immer Aneignung von, Auseinandersetzung mit und Bewältigung dieser Besetzung (1). Dazu nutzen sie Medien, wie Zeitschriften, Fernsehen, Internet, aber auch Gleichaltrige und die Schule (2). Zugespitzt wird diese Aneignung und Auseinandersetzung mit pornografischen Medien, in denen sich reduzierte Bilder von Männlichkeit in Vorstellungen von Sexualität brechen und nicht wenige Jungen überfordert zurücklassen (2). Neben den biologischen und sozialen reproduktiven Bezügen ist Jungensexualität insbesondere auf Genuss, Sinnlichkeit und Lustempfinden gerichtet: Im eigenen Erleben – und damit als Aspekt des individuellen Selbstverständnisses – wie auch in der Möglichkeit, anderen (z.B. der Partnerin) Lust zu bereiten. Auch umgangssprachlich wird Sexualität mit lustbetontem Verhalten assoziiert, das mehr oder weniger direkt auf die Befriedigung (genital-)sexueller Bedürfnisse gerichtet ist (3). Dies steht im besonders kras-
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Reproduktive Sexualität gilt als erfolgreiche Männlichkeit.
Bei der Verhütungsberatung sollte man stärker auf Jungen fokussieren.
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Abbildung: Generelles Verhütungsverhalten im Langzeittrend («Achte immer sehr genau auf Verhütung»; Anteil in %); Quelle: BZgA-Studie zur Jugendsexualität 2010 (BZgA: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Deutschland) (5)
sen Widerspruch zu weiblicher Sexualität, in der man vorherrschend eine engere Verbindung zwischen Sexualität und Liebe sieht.
Jede Gesundheitsberatung sollte zum Gespräch über Verhütung genutzt werden.
Sexualität und Gleichberechtigung
Die Forschung zeigt, dass geschlechtsspezifische Normen und Ungleichheiten bei der Machtverteilung die sexuellen Einstellungen und Praktiken, aber auch die sexuelle Gesundheit von Jungen und Mädchen negativ beeinflussen. Darüber hinaus sind die Gleichstellung der Geschlechter und die Erfüllung der Rechte junger Menschen wesentliche Voraussetzungen dafür, dass sie fundierte Entscheidungen über Sexualität und Gesundheit treffen – und auch danach handeln. Die mangelnde Gleichstellung der Geschlechter fördert riskantes Sexualverhalten, während auf die Gleichstellung der Geschlechter zielende Einstellungen mit einem verstärkten Gebrauch von Kondomen und Kontrazeptiva verbunden sind (4). Der Langzeittrend des generellen Verhütungsverhaltens in einer Studie zur Jugendsexualität (Abbildung) (5) hat sich seit 1984 nicht wesentlich verbessert, er ist sogar etwas schlechter geworden.
Stichwort «Vaterschaftsverhütung»
Vaterschaftsverhütung ist nach wie vor, vor allem für bildungsferne Schichten, kein Thema. Hingegen verweist der Begriff «Schwangerschaftsverhütung» eindeutig auf das weibliche Geschlecht und dessen Verantwortlichkeit. Die Einstellung und Haltung von Jungen und Männern zu Themen der Verhütung sind zudem unklar und wenig entwickelt. Verhütung gilt als «Weiberkram» und liegt primär in der Kompetenz der Mädchen (sic!). Jungen werden von medizinischen Sexualinformationen und -beratungen nur in geringem Umfang erreicht. Ärztinnen und Ärzte sind für sie keine bedeutsamen Vertrauenspersonen zu Themen rund um die Sexualität. Sie informieren sich (abgesehen von der Schule) «privat» bei Gleichaltrigen, den Eltern oder im Internet. Hier ergibt sich ein erhebliches Risiko der Halb- oder Falschinformation. Besonders bei Jungen mit Migrationshintergrund und Jungen aus bildungsfernen Schichten bestehen ein-
geschränkte Informationsmöglichkeiten. Gerade für sie birgt die Fülle der pornografischen Angebote als häufig genutzte und wesentliche Informationsquelle zusätzliche Risiken im Hinblick auf den Leistungsdruck und die Leistungserwartung im Sexualleben. Ein im Mittel früheres Ejakularchealter bei Jungen mit Migrationshintergrund (6) und die damit häufig verbundene frühere Aufnahme sexueller Aktivitäten potenziert das Risiko ungewollter Vaterschaft. Die geringere Akzeptanz kontrazeptiver Massnahmen und das, ganz im Sinne «gelebter Männlichkeit», gehäufte Vorkommen wechselnder Partnerschaften verstärken das Risiko früher Vaterschaft. Zukünftige Informationsangebote und Aufklärungskampagnen sollten den geschlechtsspezifischen Ansatz stärker im Fokus haben. Die geschlechtsspezifische Einstellung der Jungen zur Sexualität prägt das Verhütungsverhalten von Jungen und Männern. Dies hat – insbesondere unter gewissen Voraussetzungen – erheblichen Einfluss auf das Verhütungsverhalten von Mädchen und Frauen. Für zukünftige Strategien zur Vaterschaftsverhütung, ein Begriff, der bewusst die Jungen und Männer mehr in die Pflicht nimmt im Sinne einer gleichberechtigten Verantwortung, wird ein geschlechtsspezifischer Ansatz unabdingbar sein: • Bei der Beratung zur Kontrazeption sollte stärker
auf Jungen fokussiert werden. • Da Jungen ohnehin weniger als Mädchen medizini-
sche Beratung in Anspruch nehmen, sollte jede Gesundheitsberatung zum Gespräch über Verhütung genutzt werden. • Mädchen sollten, wenn irgend möglich, ihren Freund zum Gespräch über Verhütung mitbringen und so in die Verhütungsplanung einbinden. Dies fördert die kommunikative Kompetenz zu diesem Thema gerade bei Jungen. Nichtegalitäre Beziehungskonstellationen, kulturelle Unterschiede in der Partnerschaft und traditionelle Geschlechterrollen sind wesentliche Risikofaktoren für ungewollte Vaterschaft. Notwendig ist der Blick auf soziale und sexuelle Fremdheit sowie prekäre Lebenssituationen. Ziele sind die gleichberechtigte Verantwortung und die verantwortungsbewusste, positiv gelebte Sexualität für beide Geschlechter. Man hat längst erkannt, dass das Verhütungsverhalten der Mädchen und Frauen sehr stark von der Einstellung des männlichen Partners geprägt ist (7, 8). Seither stehen Jungen und Männer stärker im Fokus internationaler Kampagnen zur Empfängnisverhütungsplanung.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Bernhard Stier Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin Praxisgemeinschaft Wetzlarer Str. 25, D-35510 Butzbach E-Mail: kinder-jugendaerzte.butzbach@t-online.de
Dieser Artikel basiert auf einem Buchmanuskript für Stier B, Winter R: Jungensexualität. In: Hoffmann/Lentze/Spranger/Zepp: Pädiatrie - Grundlagen und Praxis. 4. Auflage. Springer-Verlag Heidelberg; voraussichtlicher Erscheinungstermin 2014.
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Literatur: 1. Böhnisch L, Funk H. Soziale Arbeit und Geschlecht. Theoretische und praktische Orientierungen. Juventa, Weinheim und München, 2002. 2. Winter R, Neubauer G. Kompetent, authentisch und normal? Aufklärungsrelevante Gesundheitsprobleme, Sexualaufklärung und Beratung von Jungen. BZgA Köln, 2004. 3. Sielert U. Einführung in die Sexualpädagogik. Beltz Weinheim, 2005. 4. Braeken D. «It’s all one». Genderfragen, Menschenrechte und eine positive Einstellung zur Sexualität im Mittelpunkt der Sexualerziehung. In: BZgA-Forum Sexualaufklärung international 2011; 2: 34. BZgA, Köln, 2011. 5. BZgA. Jugendsexualität 2010. Repräsentative Wiederholungsbefragung von 14- bis 17-Jährigen und ihren Eltern – aktueller Schwerpunkt Migration. BZgA Köln, 2010. 6. BZgA. Jugendsexualität 2006. Aufklärung und Sexualverhalten junger Migrantinnen und Migranten. BZgA, Köln 2007. 7. Barker G. Engaging adolescent boys and young men in promoting sexual and reproductive health: Lessons, research and programmatic challenges. In: Adolescent and Youth Sexual and Reproductive Health: Charting Directions for a Second Generation of Programming, background document from a UNFPA workshop in collaboration with the Population Council, New York, 1-3 May 2002. New York, Population Council 2003; 109–153. 8. WHO. Engaging Men and Boys in Changing Gender-Based Inequity in Health: Evidence From Programme Interventions. WHO Genf, 2007.
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