Transkript
SEKUNDÄRTHEMA
Bereits 2011, im fünften Jahr des Impfprogramms, konnte man in einer Erhebung an acht australischen Kliniken für Geschlechtskrankheiten einen deutlichen Rückgang der Genitalwarzen verzeichnen (3): Bei den Frauen unter 21 Jahren sank die Prävalenz von Genitalwarzen um 93 Prozent (von 11,5% in 2007 auf 0,85% in 2011). Auch die Nachholimpfung für ältere Frauen, von denen viele bereits vor der Impfung sexuell aktiv waren, brachte noch etwas: Bei den 21- bis 30-Jährigen zeigte sich ein Rückgang um 73 Prozent (von 11,3% in 2007 auf 3,1% in 2011). Bei keiner der unter 21-jährigen Frauen, die geimpft worden waren, wurden 2011 Genitalwarzen diagnostiziert, was zwei Schlüsse zulässt: Entweder kommen in Australien nur Genitalwarzen vor, die durch HPV 6 oder 11 verursacht werden, oder es besteht eine Kreuzimmunisierung auch gegen andere HPV-Typen.
HPV-Impfung auch für Jungen
In Australien zeigte sich ein immunologischer «Herdeneffekt», der offenbar auch die männlichen, ungeimpften jungen Männer vor Genitalwarzen schützt (3): Von 2007 bis 2011 sank die Erkrankungsrate bei den heterosexuellen australischen Männern unter 30 Jahre. Der
Rückgang war bei den unter 21-Jährigen mit 82 Prozent am grössten (2007: 12,1%; 2011: 2,2%), aber auch bei den bis 21- bis 30-Jährigen mit 51 Prozent noch recht deutlich (2007: 18,2%; 2011: 8,9%). Als Konsequenz hat die australische Regierung 2013 an den Schulen auch ein Impfprogramm für 12- bis 13-jährige Jungen begonnen; wie bei den Mädchen mit einer Nachholimpfung für die 14- bis 15-Jährigen in den ersten beiden Jahren des Programms. Man erhofft sich davon langfristig einen Rückgang der Anal-, Penis- und Oropharynxkarzinome. In der Schweiz diskutiert man in der EKIF zurzeit über Empfehlungen zur HPV-Impfung für Jungen.
Renate Bonifer Literatur: 1. Lehtinen M et al. Overall efficacy of HPV-16/18 AS04-adjuvanted vaccine against grade 3 or greater cervical intraepithelial neoplasia: 4-year end-of-study analysis of the randomised, double-blind PATRICIA trial. Lancet Oncol 2012; 13 (1): 89–99. 2. Munoz N et al. Impact of Human Papillomavirus (HPV)-6/11/16/18 Vaccine on All HPV-Associated Genital Diseases in Young Women. J Natl Cancer Inst 2010; 102: 325– 339. 3. Hammad A et al. Genital warts in young Australians five years into national human papillomavirus vaccination programme: national surveillance data. BMJ 2013; 346: f2032.
LESERMEINUNG
Veränderungen in der Autismuslandschaft
Leserbrief zur «Pädiatrie» 5/2013
Wir sind es gewöhnt, dass bestimmte Themen unter Fachleuten diskutiert und in der Öffentlichkeit breit popularisiert werden. Das war so mit der Diagnose ADHS. Dabei besteht immer wieder die Gefahr, dass Diagnosekriterien (zu) sehr ausgeweitet und bestimmte Diagnosen zu ubiquitär anwendbaren Erklärungsmodellen der Wirklichkeit werden. Die Artikel in der Schwerpunktausgabe der «Pädiatrie» zum Autismus sind eine gute Zusammenfassung zum Stand der Autismusforschung und der therapeutischen Angebote bei Autismus-Spektrum-Störungen. Dabei wird jedoch auf das Problem der Veränderung der Diagnosekriterien wenig eingegangen. Was meine ich? Die aktuell extrem unterschiedliche Prävalenz von Autismusstörungen in soziokulturell ähnlichen Staaten, zum Beispiel zwischen 3 Autismusfällen auf 1000 (Grossbritannien) versus 8 Fälle auf 100 (USA) zeigt ja, dass die Diagnosekriterien nicht identisch sein können. In der Schweiz sehen wir neben der Zunahme diagnostizierter Autismusfälle den mehr als deutlichen Trend, Oligophreniediagnosen seltener oder nicht mehr zu stellen, sondern die Auffälligkeiten im Rahmen einer massiven Behinderung als Autismus zu klassifizieren. Ver-
sicherungsmedizinisch heisst das, dass es kaum noch Anmeldungen des GG 403 (Oligophrenie, Behandlung von erethischem oder apathischem Verhalten) bei der IV gibt, sondern diese Diagnose zugunsten der Diagnose Autismus GG 405 verschwindet. Wir fragen uns oft, wenn autistische Kinder angemeldet werden, wie würde die Überweiserin ein schwer oligophrenes Kind beschreiben? Die Ursachen dieser Entwicklung sind vielfältig: Aufbau spezialisierter Zentren, Mangel an qualifizierten Fachkräften (vor allem Fachärztinnen für Kinder- und Jugendpsychiatrie), bessere Akzeptanz der Diagnose Autismus als Oligophrenie, Versprechen therapeutischen Erfolgs, bessere Leistungen der IV bei Autismus als bei Oligophrenie. In der aktuellen Literatur wird den Diskussionen zur Abgrenzung von Oligophrenie zum Autismus wenig Raum gegeben, Kinder mit einer schweren Oligophrenie zeigen in der Regel auch Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion und eine qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation. Repetitive und stereotype Verhaltensmuster und eingeschränkte Interessen sind geradezu ein Kernsymptom bei Oligophrenie. Ich vermisse dabei eine Reflexion der Veränderung der Diagnosekriterien. Bei Autismus ist die Abweichung und
nicht der Rückstand das entscheidende Diagnosekriterium. Ich sehe auch die Gefahr, dass bei einer grosszügigen Autismusdiagnose bei manchen Kindern der schwere globale Entwicklungsrückstand im Rahmen einer diffusen Hirnschädigung nicht oder kaum korrigiert werden kann und den Eltern falsche Hoffnungen auf die mögliche Behandlung eines Autismus gemacht respektive eine Akzeptanz der kognitiven Behinderung erschwert wird. Wir betreuen Kinder in unserer Praxis, bei denen extern eine Autismus-Spektrum-Störung (und GG 405) diagnostiziert wurde, über lange Zeit, auch mit autismusspezifischer Einzeltherapie, und verfolgen die Entwicklung. Oft bestätigt sich die Diagnose Autismus im Verlauf nicht, und wir sehen die Problematik primär als geistige Behinderung, das heisst, nicht die Kommunikations- und Interaktionsstörung wirken für die Integration limitierend, sondern der globale Entwicklungsrückstand/Oligophrenie.
Dr. med. Ulrich Fischer Facharzt FMH für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie Psychotherapeutische Praxisgemeinschaft
Klösterli, Zofingen E-Mail: dr.fischer@hispeed.ch
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