Transkript
SCHWERPUNKT
Die Suche nach sexueller Identität
Jugendliche, die sich selbst als homosexuell, lesbisch oder bisexuell oder transgender bezeichnen oder bezüglich ihrer sexuellen Orientierung auf der Suche sind, haben die gleichen Entwicklungsaufgaben und Gesundheitsbedürfnisse wie ihre gleichaltrigen Kameraden. Sie sind jedoch mit zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert, die vor allem im Zusammenhang mit der sozialen Diskriminierung gegen sexuelle Minderheiten zu sehen sind. Psychosoziale Probleme wie Isolation, Depression, Suizid, Missbrauch psychotroper Substanzen sind mögliche Folgen. In diesem Artikel wird aufgezeigt, wie es im Rahmen der ärztlichen Konsultation gelingen kann, Zugang zu nichtheterosexuell orientierten Jugendlichen zu finden und sie kompetent medizinisch und psychosozial zu unterstützen.
Von Susanne M. Stronski Huwiler
Sexuelle Orientierung ist als konsistentes Muster der physischen und emotionalen Anziehung zu gegengeschlechtlichen oder gleichgeschlechtlichen Personen definiert. Homosexualität wird als Normvariante der sexuellen Orientierung, als persistierendes Muster gleichgeschlechtlicher Anziehung bei gleichzeitig schwacher oder fehlender gegengeschlechtlicher Anziehung definiert (1). Vereinfacht gesagt fühlen sich Heterosexuelle von gegengeschlechtlichen Personen angezogen, Homosexuelle von Personen des gleichen Geschlechtes und Bisexuelle von Personen beiden Geschlechts. Da die sexuelle Orientierung jedoch verschiedene Dimensionen, nämlich sexuelle Fantasien, emotionale und erotische Anziehung, sexuelles Verhalten, Selbstidentifikation und Gruppenzugehörigkeit umfasst, die nicht unbedingt kongruent sein müssen, ist die Zuteilung nicht immer eindeutig. Nach Rauchfleisch (2) entsprechen die Bezeichnungen homosexuell, bisexuell, heterosexuell einem «Kristallisationspunkt» auf dem Kontinuum der sexuellen Orientierung. Geschlechtsidentität bezieht sich auf das Gefühl, männlich oder weiblich zu sein, das normalerweise im Alter von zirka 3 Jahren etabliert ist. Als Transsexualität wird die Inkongruenz zwischen Geschlechtsidentität und biologischem Geschlecht bezeichnet. Transsexuelle Menschen fühlen sich wie im falschen Körper gefangen. Da die Identität stabil ist, besteht der Wunsch, den Körper zu verändern. Der Begriff Geschlechtsrolle wird für das in sozialen Interaktionen sichtbare geschlechtstypische männliche oder weibliche Verhalten verwendet und bezieht sich somit auf die kulturell und sozial verankerte Rollenerwartung.
Prävalenz der Homosexualität
Homosexualität, eine Normvariante der sexuellen Orientierung, existiert seit Menschengedenken und in allen Kulturen und Gesellschaften, auch wenn Tabus die Sichtbarkeit unterdrückt haben. Seit Mitte des letzten
Jahrhunderts (Kinsey 1947) bestehen Bemühungen, die Prävalenz zu definieren. Doch was soll als Prävalenz bezeichnet werden: Das Sexualverhalten? Die Identität? Die emotionale, erotische Anziehung? Diese verschiedenen Dimensionen der sexuellen Orientierung sind nicht kongruent. Bei Erwachsenen geht man beispielsweise heutzutage davon aus, dass sich ein geringer Teil selbst als homosexuell bezeichnet (etwa 1–2% der Frauen und 2–5% der Männer), jedoch etwa 10 Prozent der sich als heterosexuell bezeichnenden Erwachsenen auch gleichgeschlechtliche Erfahrungen haben und eine weitaus grössere Anzahl gleichgeschlechtliche Anziehung erfahren (etwa jeder 5. Mann und jede 6. Frau) (2). In der Schweiz haben sich unter 16- bis 20-Jährigen 1,4 Prozent der Mädchen und 1,7 Prozent der Knaben als vorwiegend homosexuell bezeichnet (3). 2,8 Prozent der Teenager (Mädchen 3,6%, Knaben 2,1%) waren sich unsicher über ihre sexuelle Orientierung. Nur wenige berichteten über gleichgeschlechtliches Sexualverhalten (1,5% Mädchen, 2,5% Knaben), von diesen bezeichneten sich jedoch die meisten als heterosexuell. Die homosexuelle Anziehung lag im Bereich um 3 Prozent. Internationale Daten zu Jugendlichen gehen zusammengefasst in die Richtung von 2 bis 4 Prozent homosexueller Identität oder Verhalten und homosexueller Anziehung bei Männern um 5 Prozent und Frauen bis 20 Prozent (4). Es wird zurzeit auch über die Stabilität der sexuellen Orientierung im Lebenslauf diskutiert, insbesondere scheint es bei nichtheterosexuellen Jugendlichen grössere Schwankungen zu geben. Inwieweit dies im Zusammenhang mit der sozialen Stigmatisierung steht, ist noch nicht klar. Fazit ist, dass jeder Kinderarzt/Kinderärztin annehmen kann, dass sich sicher unter seinen jugendlichen Patienten einige befinden, die um ihre sexuelle Orientierung ringen, einzelne sich als homo- oder bisexuell bezeichnen sowie einige homosexuellen Geschlechts-
6/13
Sexuelle Orientierung ist keine freie Wahl und kann nicht korrigiert werden.
17
SCHWERPUNKT
Erfahrungen mit homosexuellem Geschlechtsverkehr bedeuten nicht zwingend Homosexualität.
verkehr gehabt haben, ohne sich selbst als homosexuell zu identifizieren.
Ätiologie der Homosexualität
Die Ätiologiedebatte um die Homosexualität ist noch lange nicht beendet. Zunehmend werden biologische Modelle untersucht, vor allem wird ein Einfluss der pränatalen Androgenausschüttung postuliert. Zum jetzigen Zeitpunkt wird es jedoch als sicher angesehen, dass die sexuelle Orientierung keine individuelle Wahl und in der frühen Kindheit festgelegt ist und dass es keine wissenschaftlichen Hinweise gibt, dass abnormale familiäre Einflüsse, sexueller Missbrauch oder andere negative Lebenserfahrungen die sexuelle Orientierung beeinflussen würden (5). Zudem besteht Konsens, dass sogenannte «reparative Therapien», die die sexuelle Orientierung verändern sollen, ineffektiv sind, Schaden anrichten und auf alle Fälle zu verhindern sind (6).
Entwicklungsaspekte
Nichtheterosexuelle Jugendliche haben die gleichen Entwicklungsaufgaben zu lösen wie heterosexuelle Jugendliche. Dazu gehören unter anderem: • eine positive sexuelle Identität zu entwickeln (in die-
sem Fall eine homosexuelle Identität),
Tabelle 1a: Stufenmodell zur Entwicklung der homosexuellen Identität (nach 10)
Sensibilisierung (Kindheit) Identitätskonfusion (frühe und mittlere Adoleszenz)
Annahme der Identität (Spätadoleszenz, frühes Erwachsenenalter)
Engagement (commitment)
Ein vages Gefühl, anders als die anderen zu sein, ohne genauere Präzisierung. Langsam wird dem Jugendlichen bewusst, dass er/sie homosexuelle Gedanken und Gefühle hat, sowie eventuell dass heterosexuelle Gefühle schwach sind oder fehlen. Dieser Prozess kann häufig von Angst und Aufwühlung begleitet sein. Dabei spielt die Lebenswelt der Jugendlichen eine grosse Rolle. In dieser Phase beginnt der Jugendliche/junge Erwachsene die Erkenntnis seiner sexuellen Orientierung zu ertragen und zuerst selbst zu akzeptieren und dann mit anderen zu teilen. Dieser Prozess wird auch Coming-out genannt. In dieser Phase wird die homosexuelle Identität in alle Aspekte des Lebens integriert. Zufriedenheit mit der eigenen sexuellen Identität stellt sich ein. Es entwickelt sich die Fähigkeit, sich mit Individuen und Gruppen sowohl homosexueller als auch heterosexueller Orientierung zu sozialisieren, meist auch eine stabile homosexuelle Beziehung.
Tabelle 1b: Mögliche Copingstrategien in der Phase der Identitätskonfusion (nach 10)
Verdrängung Vermeidung
«Betäubung» Redefinieren/Rationalisieren Problemlösung
z.B. Information zu Sexualität/Homosexualität abschirmen, mit aller Kraft verhindern, dass man erkannt wird, evtl. antihomosexuelle Haltung einnehmen, Selbstbeweis (sich vermehrt in heterosexuelle Beziehungen [Geschlechtsverkehr] stürzen) Drogenmissbrauch homosexuelle Gefühle andersweitig erklären aktiv Information suchen
• eine emotionale und sexuelle Intimität in der Beziehung zu einer anderen Person (in diesem Fall zu einer gleichgeschlechtlichen Person) zu entwickeln,
• soziale Fähigkeiten zu entwickeln, die erlauben, sich auch in Kreisen anzupassen, in denen nicht nur Gleiche und Gleichgesinnte sind.
Diese adoleszentäre Entwicklung findet jedoch in einem gesellschaftlichen Kontext statt, in dem das Ich-Sein ein Anderssein ist, das häufig sozial stigmatisiert wird, aber auch manchmal zur Selbststigmatisierung führt. Wichtig ist dabei der Begriff der Homophobie, der irrationalen Furcht vor oder Feindseligkeit gegenüber Homosexuellen, die sich in mangelnder Unterstützung, Diskriminierung bis zur Gewaltanwendung zeigen kann. Homophobie kann aber auch internalisiert werden, das heisst, die negativen Einstellungen der Gesellschaft werden auf die eigene Person bezogen und übernommen, sodass die Diskriminierung akzeptiert wird und ein negatives Selbstbild sowie Zweifel zur Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls führen. Depression und Isolation bis hin zu Suizidversuchen sowie Versuche, den psychischen Schmerz mit Drogen zu lindern, sind weitere mögliche Folgen. Es gibt verschiedenste Theorien und Modelle zur Entwicklung der homosexuellen Identität: Allen gemeinsam ist die vage Sensibilisierung, gefolgt von Konfusion, dann Verständnis und Akzeptanz der eigenen Identität. Es folgt dann (je nach Kultur oder gesellschaftlichem Kontext gar nicht) die Enthüllung gegenüber weiteren Kreisen, sowie im Idealfall die Integration der eigenen sexuellen Orientierung in ein umfassendes Selbstkonzept. Ein einfach anwendbares Modell, das sich in der Praxis bewährt hat, findet sich in Tabellen 1a und 1b.
Risiken und protektive Faktoren
Obwohl Homosexualität per se nicht mit Psychopathologie assoziiert ist, haben nichtheterosexuelle Jugendliche vermehrt psychosoziale Probleme (7) (Tabelle 2). Die Entstehung dieser psychosozialen Probleme lässt sich durch den Stress, der sich aus der Geschlechtsnonkonformität ergibt, durch Erfahrungen, abgelehnt zu werden, durch Homophobie-bedingte Agressivität gegen Homosexuelle und durch Selbststigmatisierung erklären. In den USA berichten über 80 Prozent der nichtheterosexuellen Jugendlichen über Erfahrungen verbaler Aggression, 40 Prozent über physische Aggression. Mehr als zwei Drittel fühlen sich in der Schule unsicher (6). Nicht zu unterschätzen ist Gewalt über das Internet. Auch in der Schweiz äussern nichtheterosexuelle Jugendliche und junge Erwachsene, dass die Gesellschaft ihre sexuelle Orientierung nicht wirklich akzeptiert, sie verleumdet werden und Aggressionen ertragen müssen. Jeder fünfte männliche Homosexuelle in der Schweiz hat einen Suizidversuch unternommen. Die Gefahr ist am grössten in der Zeit des Coming-out-Prozesses. Die Suizidgefahr dieser Jugendlichen ist 2- bis 5-mal höher als bei heterosexuellen Gleichaltrigen (8). Jugendliche, die sich ihrer sexuellen Orientierung noch unsicher sind, sind mindestens genauso gefährdet.
18 6/13
SCHWERPUNKT
Nichtheterosexuelle Jugendliche explorieren etwas häufiger als heterosexuelle Gleichaltrige ihre sexuelle Orientierung mit multiplen, manchmal auch älteren Partnern. Sie werden auch häufiger sexuell missbraucht. Das erhöhte Risiko für sexuell übertragbare Infektionen darf in der Praxis nicht übersehen werden. Die HIV/Aids-Epidemie trifft Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), nach wie vor deutlich mehr als Männer mit rein heterosexuellem Verhalten. Analkrebs ist ebenso häufiger. Enterische Pathogene können zum sogenannten «gay bowel syndrome» führen. Da Essstörungen bei männlichen homosexuellen Jugendlichen leicht gehäuft sind, sollte auch daran gedacht werden. Als wichtigster protektiver Faktor bezüglich psychosozialer Risiken wird die soziale Unterstützung angesehen. Für Jugendliche ist dies meist die eigene Familie. Familiäre Akzeptanz und Verbundenheit haben enorm positive Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl, auf alle Parameter der physischen Gesundheit und psychosozialen Gesundheit (6). Hilfreich ist auch eine unterstützende Gruppe. Erste Ergebnisse weisen auch darauf hin, dass Richtlinien zum Schutz von Jugendlichen in Schulen erfolgreich sind.
Was kann der Kinderarzt tun?
Kinder- und Jugendärzte sollten die psychosexuelle Entwicklung Jugendlicher inklusive der Normvarianten sexueller Orientierung kennen und fähig sein, alle Jugendlichen kompetent und urteilsfrei zu beraten und ihre gesunde körperliche und psychosoziale Entwicklung zu unterstützen. Eine vertrauensvolle ArztPatient-Beziehung ist dabei Grundlage für eine gute Beratung. Fühlt sich ein Kinderarzt unsicher oder nicht kompetent im Umgang mit Homosexualität oder hat er sogar persönliche Vorbehalte gegenüber Nichtheterosexuellen, so hat er die professionelle und ethische Verpflichtung, den Jugendlichen adäquat zu überweisen. Es ist nicht Aufgabe des Pädiaters, die sexuelle Orientierung eines Jugendlichen festzulegen, jedoch sollte er in der Lage sein, den Bedürfnissen seiner Patienten angepasst faktenbasierte, aktuelle und wertneutrale Informationen zu geben. Er sollte die Fähigkeit haben, psychische Probleme, die im Zusammenhang mit dem Coming-out-Prozess oder als Folge von Stigmatisierung auftreten können, zu erkennen.
erhöhten Risiken wie Missbrauch psychoaktiver Substanzen, Schulversagen, Depression und Suizidgefahr zur Sprache. Der Pädiater sollte sich dem hohen Suizidrisiko im Zusammenhang mit dem Coming-out-Prozess bewusst sein. Wichtig ist die dem Entwicklungsstand des Jugendlichen angepasste Sexualanamnese; Beispielfragen sind im Kasten aufgelistet. Das sachliche, einfühlsame Ansprechen der Intimsphäre muss geübt werden, am besten mit Rollenspielen oder simulierten Patienten. Die Sexualanamnese gibt Aufschluss darüber, ob ein Screening auf sexuell übertragbare Krankheiten durchgeführt werden muss, von welchen Körperpartien die Materialentnahme stattfinden soll und ob zum Beispiel eine anale Untersuchung notwendig ist. Der Impfstatus sollte überprüft werden und, falls nötig, Impfungen gegen Hepatitis B und A (Risiko bei Analverkehr) sowie gegen HPV (zurzeit in der Schweiz nur für Mädchen) angeboten werden. Botschaften bezüglich «Safer Sex» sollten altersentsprechend vermittelt werden, insbesondere ist der Jugendliche über die Risiken des Analverkehrs aufzuklären. Dem Pädiater sollte bewusst zu sein, dass Erfahrungen mit homosexuellem Geschlechtsverkehr nicht indikativ für eine homosexuelle Orientierung sind. Einen Jugendlichen als homosexuell zu bezeichnen, könnte verfrüht, nicht zutreffend oder kontraproduktiv sein. Jugendliche, die sich bezüglich ihrer sexuellen Orientierung unsicher sind, profitieren bereits, wenn der Pädiater verständnisvoll und offen ist und Ansprechbarkeit signalisiert. Es ist wichtig, dem nichtheterosexuellen Jugendlichen zu vermitteln, dass seine sexuelle Orientierung normal ist, dass ihm jedoch aufgrund der gesellschaftlichen Ablehnung Probleme erwachsen können, für die er Unterstützung in Anspruch nehmen darf. Eine Besprechung des Coming-out-Prozesses mit Abwägung, wer wann einzubeziehen ist, kann für den Jugendlichen hilfreich sein. Der Jugendliche soll auch wissen, dass er sich für diesen Prozess Zeit nehmen darf und soll. Eventuell ist eine psychotherapeutische Begleitung indiziert. Kontakt zu Selbsthilfegruppen unterstützt die positive Entwicklung nichtheterosexueller Jugendlicher. Entsprechende Informationen und Kontaktadressen finden sich in Tabelle 3 und können an die Jugendlichen abgegeben werden.
Homosexuelle haben ein erhöhtes Suizidrisiko.
Die Sprechstunde
Um Offenheit zu signalisieren, hat es sich für die Sprechstunde bewährt, im Warteraum Magazine und Hefte aufzulegen, die Jugendsexualität und sexuelle Orientierung thematisieren. Es ist wichtig, Jugendliche in der Sprechstunde (auch) alleine zu sehen. Für den Beratungsprozess ist es Voraussetzung, dass zuerst die ärztliche Schweigepflicht explizit kommuniziert wird. Die medizinische Anamnese wird mit einer umfassenden psychosozialen Anamnese ergänzt. Hilfreich ist dabei zum Beispiel die von geschulten Jugendmedizinern verwendete Gedankenstütze mit dem Akronym HEADSSS (home, education, activities, drugs, sexuality, safety, suicide) (9). Damit kommen in der Regel die bei Nichtheterosexuellen
Tabelle 2: Mögliche psychosoziale Risiken nichtheterosexueller Jugendlicher
• sozialer Rückzug und Isolation • Schulprobleme (Mobbingopfer, Schulversagen, Absentismus) • Gebrauch legaler und illegaler psychoaktiver Substanzen • Familienkonflikte • risikoreiches Sexualverhalten • Depression und Suizid • Essstörungen • posttraumatische Störungen (Mobbing, Gewaltopfer, sexueller Missbrauch): Schlafstörungen,
Angst, Somatisierung nach (1) und (6)
6/13 19
SCHWERPUNKT
Kasten: Sexualanamnese bei Jugendlichen
Beispiele für Fragen zur psychosexuellen Entwicklung und sexuellen Aktivität Wichtig ist, eine altersentsprechende, geschlechtsneutrale Sprache zu sprechen, die für verschiedene sexuelle Orientierungen offen ist; normalisierende Aussagen erleichtern das Gespräch. • Viele Jugendliche in deinem Alter haben sich schon einmal verliebt. Hast du dieses
Gefühl auch schon erfahren? Viele Knaben verlieben sich in Mädchen, manche verlieben sich auch in Knaben oder in Mädchen und Knaben (hier für Knaben formuliert). Wenn du dich verliebt hast, hast du dich in Mädchen, Knaben oder Mädchen und Knaben verliebt? • Ist es auch schon dazu gekommen, dass du mit jemandem, in den du dich verliebt hast, eine Freundschaft eingegangen bist? Bist du zurzeit in einer solchen Beziehung? War es eine Beziehung mit einem Knaben oder einem Mädchen? • Es gibt viele Formen von körperlicher Liebe: Umarmen, Küssen, Berühren mit oder ohne Kleider bis hin zum Geschlechtsverkehr. Hast du schon mit jemandem körperliche Liebe erlebt? Mit wem, Knaben oder Mädchen oder beiden? • Falls sexuelle Aktivität angegeben wird, sollte differenziert nachgefragt werden, ob oraler Sex, eindringender vaginaler oder analer (eindringend oder rezeptiv) Geschlechtsverkehr stattgefunden hat: – Wie habt ihr euch vor sexuellen Krankheiten (und Schwangerschaft) geschützt? – Mit wie vielen Partnern/Partnerinnen bist du bis jetzt sexuell aktiv gewesen? • Machst du dir irgendwelche Sorgen bezüglich deiner sexuellen Fantasien oder deiner sexuellen Orientierung, deiner sexuellen Erfahrung oder darüber, wie dein Körper sexuell funktioniert? Hast du diese Sorgen schon mit jemandem besprochen, wenn ja, mit wem? • Bist du schon einmal körperlich oder sexuell bedrängt oder belästigt worden? Hat schon einmal jemand gegen dich Gewalt ausgeübt?
Tabelle 3: Internetseiten und Beratungsmöglichkeiten
Links für lesbische, schwule und bisexuelle Jugendliche www.traudi.ch, Jugendgruppen in den Kantonen www.gay-box.ch, Infos für schwule Männer www.haz.ch, Homosexuelle Arbeitsgruppe Zürich www.dbna.de, Alles für Jungs www.eswirdbesser.ch, Coming-out-Geschichten, die Hoffnung machen www.purplemoon.ch, Chat und Freundschaft www.lgbt-yputh.ch, Netzwerk und Projekte: lesbisch, schwul, bi, trans, queer
Beratung www.du-bist-du.ch, Beratung von Jungs für Jungs www.rainbowgirls.ch, Beratung und Infos für Mädchen www.rainbowline.ch, Beratung Homo- und Transsexualität www.drgay.ch, Internetberatung www.checkpoint-zh.ch, schwulenfreundliche Beratung und Ärzte in Zürich www.tgns.ch, Beratung für Transmenschen
Schulprojekte www.gll.ch www.abq.ch www.sos-schweiz.ch, Fachgruppe Sexuelle Orientierung und Schule (SOS) Schweiz
Nationale Organisationen www.pinkcross.ch, Schweizerische Schwulenorganisation www.los.ch, Lesbenorganisation Schweiz www.aids.ch, Aids-Hilfe Schweiz www.fels-eltern.ch, Beratung und Information für Freunde, Freundinnen und Eltern von Lesben und Schwulen
Die Eltern nicht vergessen
Nicht zu vergessen sind die Eltern nichtheterosexueller Jugendlicher, die, wenn sie von der sexuellen Orientierung erfahren, Phasen von Schuld, Ärger und Scham erleben. Der «Trauerprozess», ein «normales» Kind zu verlieren, kann antizipiert werden. Mit evidenzbasierter Information und einfühlsamer Begleitung kann der Pädiater Schuldgefühle auffangen und die Akzeptanz für die sexuelle Orientierung des Teenagers fördern. Er muss die Eltern informieren, dass die sexuelle Orientierung keine freie Wahl ist und nicht korrigiert werden kann. Wichtig ist, dass die Eltern verstehen, welch bedeutende Rolle die familiäre Unterstützung und Akzeptanz für das Wohlergehen des bereits genug belasteten Teenagers hat. Eltern sollten auch Informationen zu Elterngruppen abgegeben werden.
«Advocacy»
Zusätzlich wäre es wünschenswert, dass sich Pädiater mit ihrem Wissen und Erfahrung als Fürsprecher für nichtheterosexuelle Jugendliche einsetzen und mithelfen, dass die Gesellschaft und Schulen mehr für den Schutz dieser Jugendlichen tun.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Susanne M. Stronski Huwiler Fachärztin für Kinder und Jugendliche, MPH Leiterin Schulärztlicher Dienst der Stadt Zürich Stadt Zürich, Schulgesundheitsdienste Amtshaus Parkring 4, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044-413 88 95 E-Mail: susanne.stronskihuwiler@zuerich.ch
Danksagung Grosser Dank geht an Andrea Zürcher und Lilo Gander von der sexualpädagogischen Fachstelle «Lust und Frust» in Zürich (www.lustundfrust.ch) für ihre wertvolle Beratung, die Unterstützung bei der Literatursuche und Zusammenstellung der Unterstützungsangebote für Jugendliche und deren Eltern.
Literatur: 1. Stronski Huwiler SM, Remafedi G. Adolescent homosexuality. Advances in pediatrics 1998; 45: 107–144. 2. Schweizer K, Brunner F. Sexuelle Orientierung. Bundesgesundheitsbl 2013; 56: 231–239. 3. Narring F, Stronski Huwiler S, Michaud PA. Prevalence and dimensions of sexual orientation in Swiss adolescents: a cross-sectional survey of 16 to 20-year-old students. Acta Paediatrica 2003; 92: 233–239. 4. Savin-Williams RR. Prevalence and Stability of Sexual Orientation Components During Adolescence and Young Adulthood. Arch Sex Behav 2007; 36: 385–394. 5. Frankowski B. Sexual Orientation and Adolescents. Pediatrics 2004; 113: 1827–1832. 6. Society for Adolescent Health and Medicine. Recommendations for Promoting the Health and Well-Being of Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender Adolescents: A Position Paper of the Society for Adolescent Health and Medicine. J Adoles Health 2013; 52: 506–510. 7. Committee on Adolescence. Office-Based Care for Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, and Questioning Youth. Pediatrics 2013; 132: 198–203. 8. Wang J, Häusermann M et al. Suicidality and sexual orientation among men in Switzerland: findings from 3 probability surveys. J Psychiatr Res 2012; 46 (8): 980–986. 9. Goldenring JM, Rosen DS. Getting into adolescent heads: An essential update. Contemporary Pediatrics 2004; 21: 64. 10. Troiden R. Homosexual Identity Development. J Adolesc Health Care 1988; 9: 105–113.
(weitere Literatur bei der Verfasserin)
20 6/13