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SCHWERPUNKT
Wer zahlt wofür?
Leistungen der IV für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen
Die nachhaltige gesellschaftliche und berufliche Integration von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen ist eine wichtige Aufgabe. Für die Weiterentwicklung von wirksamen Massnahmen sind ein schrittweises, koordiniertes Vorgehen von Bund und Kantonen und der Dialog mit allen Beteiligten notwendig. Dieser Beitrag gibt eine Übersicht der aktuellen Leistungen der IV, der laufenden Arbeiten zur Verbesserung der Versorgung sowie der Frage, wie es mit der Finanzierung von Frühförderungsmassnahmen aussieht.
Von Inès Rajower, Maryka Laâmir und Michèle Rudaz
Seit 2008 ist nicht mehr nur die IV zuständig, sondern auch Kantone und Krankenversicherer.
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Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) sind in den letzten Jahren zunehmend ins öffentliche und fachliche Interesse gerückt. International wie auch in der Schweiz wurden die diagnostischen Verfahren und die Therapiemethoden weiterentwickelt. Es ist eine Zunahme diagnostizierter ASS und damit verbunden ein erhöhter Bedarf an therapeutischen Massnahmen festzustellen. Dieser Trend hat auch Auswirkungen auf die Eidgenössische Invalidenversicherung (IV). Sowohl die Gesamtkosten als auch die Anzahl der Bezüger von medizinischen Leistungen für Minderjährige mit einer vor dem 5. vollendeten Lebensjahr diagnostizierten Autismus-Spektrum-Störung sind in den letzten 10 Jahren um das Dreifache angestiegen. Die Kosten pro Bezüger sind praktisch gleich geblieben. In der Praxis der IV macht sich zudem die Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) bemerkbar. Diese hat per 1. Januar 2008 die Zuständigkeiten für die Versorgung und Betreuung von Menschen mit AutismusSpektrum-Störungen verschoben. Vor dem NFA war die IV auch verantwortlich für die heilpädagogischen und sonderschulischen Massnahmen, mit der Inkraftsetzung des NFA sind die Kantone für diese Leistungen zuständig. Weil die Behandlung von Autismus-Spektrum-Störungen sowohl medizinische als auch pädagogische Elemente enthält, gibt es seit dem Inkrafttreten des NFA nicht mehr nur einen einzigen Kostenträger, sondern drei: IV, Kantone und Krankenversicherer. Die Leistungen der IV für Minderjährige mit AutismusSpektrum-Störungen umfassen heute: • medizinische Eingliederungsmassnahmen • Massnahmen beruflicher Art • Hilfsmittel • Hilflosenentschädigung, Intensivpflegezuschlag • Assistenzbeitrag.
Kindern mit Autismus können verschiedene Leistungen der IV zugutekommen. Die Diagnose «Autismus» führt aber nicht automatisch zur Vergütung aller Leistungen durch die IV. So muss zum Beispiel die Krankheit einen bestimmten Schweregrad erreichen, damit Anspruch auf einen Intensivpflegezuschlag besteht, oder es müssen die versicherungsmässigen Voraussetzungen, beispielsweise für medizinische Behandlungen des Leidens, erfüllt sein.
Medizinische Eingliederungsmassnahmen
Als medizinische Massnahmen gelten die Behandlungen durch die Ärztin oder den Arzt selbst oder auf ärztliche Anordnung durch medizinische Hilfspersonen (z.B. Ergo-, Psycho- oder Physiotherapeuten, Ernährungsberaterinnen), die in einer Arztpraxis, ambulant oder stationär in einer Klinik durchgeführt werden, sowie von einer Ärztin oder einem Arzt verordnete Medikamente. Insbesondere zählen folgende Leistungen zu den medizinischen Massnahmen der IV: • ärztliche und spezialärztliche Behandlungen
und Verlaufsuntersuchungen • ärztliche Psychotherapien • nichtärztliche Psychotherapien • Ergotherapien • Physiotherapien • Medikamente (gemäss Spezialitäten-[SL-] und
Geburtsgebrechen-Medikamentenliste [GGML] des Bundesamtes für Gesundheit [BAG]) • Diätmittel für angeborene Stoffwechselkrankheiten (gemäss Liste der notifizierten diätetischen Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke [FSMP] des BAG und Diätmittelliste im Anhang 2 des Kreisschreibens über medizinische Eingliederungsmassnahmen [KSME]) • medizinische Behandlungsgeräte.
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SCHWERPUNKT
Die Zuständigkeit für Logopädie, Psychomotorik, andere heilpädagogische und früherzieherische sowie Massnahmen der Sonderschulung liegt bei den Kantonen.
Nach dem 20. Lebensjahr geht die Zuständigkeit für die Vergütung medizinischer Massnahmen von der IV zur obligatorischen Krankenversicherung über. Diese übernimmt die Kosten für die medizinischen Leistungen dann, wenn eine nach dem Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) anerkannte Behandlungsmethode angewendet wird und diese wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich ist. Diese sogenannten WZW-Kriterien sind auch eine Voraussetzung für die Übernahme von medizinischen Massnahmen bei der IV. Gemäss diesem Grundsatz stellt zum Beispiel die Musiktherapie keine wissenschaftlich anerkannte medizinische Massnahme dar und wird deshalb weder von der Krankenkasse noch von der IV vergütet. Vor der Kostenübernahme einer medizinischen Massnahme beurteilt die zuständige kantonale IV-Stelle den versicherungsmedizinischen Sachverhalt. Im Vordergrund steht die Klärung der Frage, ob beim betroffenen Kind eine von der IV anerkannte angeborene Autismuserkrankung vorliegt. Bei den AutismusSpektrum-Störungen, die vor dem vollendeten 5. Lebensjahr erkennbar sind, trifft dies zu, denn sie zählen zu den von der IV anerkannten Geburtsgebrechen. Für Kinder, die schon vor dem 5. vollendeten Lebensjahr an einer solchen Störung leiden, übernimmt die IV gemäss Artikel 13 des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG) alle zur Behandlung des Geburtsgebrechens notwendigen medizinischen Massnahmen. Wird eine Autismus-Spektrum-Störung erst nach dem 5. vollendeten Lebensjahr erkennbar, so stellt sie für die IV kein Geburtsgebrechen mehr dar. Dies schliesst jedoch die Kostenvergütung durch die IV nicht aus, sondern sie unterliegt dann den strengeren Bedingungen von Artikel 12 IVG. Dieser verlangt, dass die IV nur die Kosten derjenigen medizinischen Massnahmen übernimmt, die unmittelbar auf die Eingliederung in das Erwerbsleben oder in den Aufgabenbereich* gerichtet sind. Zudem müssen die medizinischen Massnahmen geeignet sein, die Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher Verschlechterung zu bewahren. So werden zum Beispiel psycho- und ergotherapeutische Massnahmen bei den nach dem vollendeten 5. Lebensjahr auftretenden Autismus-Spektrum-Störungen von der IV übernommen, um eine Beeinträchtigung der Körperbewegung, der Sinneswahrnehmung oder der Kontaktfähigkeit zu
Tabelle: Therapeutische Massnahmen und zuständige Kostenträger
Massnahme Ergotherapie Logopädie Physiotherapie Psychomotorik Psychotherapie
IV/Krankenversicherung ×
×
×
Kanton × ×
beheben oder zu mildern, damit das Kind eine Regelschule besuchen kann. Bis zum 31. Dezember 2007 wurden auch die pädagogisch-therapeutischen sowie die sonderschulischen Massnahmen von der IV übernommen. Seit der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA), also seit 1. Januar 2008, liegt die Zuständigkeit für die Logopädie, Psychomotorik, andere heilpädagogische und früherzieherische sowie Massnahmen der Sonderschulung jedoch bei den Kantonen (die Abbildung zeigt die Zuständigkeiten der Kostenträger, die Tabelle gibt einen Überblick der häufigsten therapeutischen Massnahmen und der jeweiligen Kostenträger). Im Jahr 2012 hat die IV bei rund 2600 Kindern mit Autismus knapp 22 Millionen Franken für medizinische Massnahmen vergütet (durchschnittlicher Betrag pro Kind: 8130 Fr.), den grössten Teil davon (17 Mio. Fr.) für Kinder zwischen 5 und 14 Jahren.
Massnahmen beruflicher Art
Während der obligatorischen Schulzeit sind die Kantone für die Schulung sowie die unterstützenden heilund sozialpädagogischen Massnahmen zuständig. Im Anschluss daran finanziert die Invalidenversicherung die behinderungsbedingten Mehrkosten, die bei einer erstmaligen beruflichen Ausbildung anfallen. Jugendliche, welche wegen einer Behinderung in ihrer Berufswahl beeinträchtigt und auf behinderungsspezifische Berufsberatung angewiesen sind, können eine Berufsberatung bei der zuständigen IV-Stelle beantragen. Die Berufsberatung der IV-Stelle klärt ab, welche Ausbildungsmöglichkeiten den individuellen Ressourcen und Einschränkungen entsprechen, und kann bei Bedarf eine umfassendere Abklärung in einer spezialisierten Ausbildungs- oder Eingliederungsinstitution veranlassen. Bei der erstmaligen beruflichen Ausbildung übernimmt die IV die Kosten, welche einer versicherten Person aufgrund ihrer Invalidität zusätzlich entstehen. Dabei wird für jede Person individuell abgeklärt und festgelegt, welche Leistungen oder Massnahmen zum Erreichen des Ausbildungszieles notwendig sind. Wenn die erstmalige berufliche Ausbildung im ersten Arbeitsmarkt oder einer öffentlichen Maturitäts-, Fach- oder Hochschule absolviert werden kann, können die auszubildende Person, der Arbeitgeber und die (Berufs-)Schule bei Bedarf durch einen von der IV finanzierten Job-Coach beraten und unterstützt werden. Dieser kann zum Beispiel zur Gestaltung eines reizarmen Arbeitsplatzes, zur Einrichtung strukturierter Arbeitsabläufe und zur Wahl geeigneter Unterrichtsmethoden hinzugezogen werden sowie zur Unterstützung der Kommunikation zwischen den beteiligten Personen und Stellen. Bei Abschlussprüfungen besteht die Möglichkeit eines Nachteilausgleichs, wie zum Beispiel einer Anpassung der Prüfungsgestaltung, eines separaten Prüfungszimmers, des vorgängigen Kennenlernens
*Darunter versteht man Tätigkeiten, welche die versicherte Person in ihrem Alltag regelmässig ausübt, die aber keine Erwerbstätigkeit sind. Ein typisches Beispiel dafür ist die Bewältigung des eigenen Haushalts.
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SCHWERPUNKT
der Prüfungsexperten oder einer Verlängerung der Prüfungszeit. Diese Massnahmen müssen bei den zuständigen Prüfungsbehörden beantragt werden; die Kosten können von der IV übernommen werden. Ist eine reguläre Ausbildung im ersten Arbeitsmarkt nicht möglich, kann die erstmalige berufliche Ausbildung im zweiten Arbeitsmarkt stattfinden. Spezialisierte Ausbildungsstätten bieten neben den Ausbildungen nach Berufsbildungsgesetz oftmals auch niederschwellige praktische Ausbildungen an. Nach Abschluss der Ausbildung kann die IV die versicherte Person im Rahmen der Arbeitsvermittlung bei der Suche nach einem Arbeitsplatz im ersten Arbeitsmarkt weiterhin aktiv unterstützen. Sollte die Person zu einem späteren Zeitpunkt wegen drohender oder eingetretener Invalidität den erlernten Beruf nicht mehr ausüben können, kann eine Umschulung geprüft werden. Im Jahr 2012 hat die IV 2,75 Millionen Franken für berufliche Massnahmen bei 92 autistischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 15 und 24 Jahren vergütet; das heisst durchschnittlich 29 890 Franken pro Person.
Hilfsmittel
Die IV kann die Kosten für Hilfsmittel, wie zum Beispiel elektronische Kommunikationsgeräte, übernehmen, wenn diese für die Schule, Aus- und Weiterbildung, zur Verbesserung der beruflichen Eingliederungsfähigkeit oder zum Zwecke der funktionellen Angewöhnung benötigt werden. Kinder haben darüber hinaus auch Anspruch auf Hilfsmittel, die sie brauchen, um ihren privaten Alltag möglichst selbstständig und unabhängig bewältigen zu können. Darunter fallen beispielsweise Hilfsmittel für die Fortbewegung oder für den Kontakt mit der Umwelt. Im Jahr 2012 hat die IV 320 000 Franken für Hilfsmittel an Personen mit Autismus-Spektrum-Störungen vergütet, davon fast 80 Prozent (d.h. 256 000 Fr.) an Minderjährige. Es waren 2012 rund 70 autistische Kinder, die Hilfsmittel benötigten für einen durchschnittlichen Betrag von 3657 Franken pro Kind.
Hilflosenentschädigung, Intensivpflegezuschlag, Assistenzbeitrag
Kinder, die entweder bei alltäglichen Lebensverrichtungen wie Ankleiden, Essen, Körperpflege und so weiter dauernd auf die Hilfe anderer Personen angewiesen sind oder dauernder Pflege beziehungsweise persönlicher Überwachung bedürfen, sind im Sinne der IV hilflos und haben Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der IV, soweit sie zu Hause wohnen. Da auch vollständig gesunde Kinder in einem gewissen Umfang Hilfe und Überwachung benötigen, wird nur der Mehrbedarf an Hilfeleistung und persönlicher Überwachung berücksichtigt, der im Vergleich zu nichtbehinderten Minderjährigen gleichen Alters festgestellt wird. Ein Kind kann nicht nur direkte Hilfe benötigen (das Kind kann sich nicht selbst anziehen oder waschen), sondern auch indirekte Hilfe (das Kind kann sich zwar funktionsmässig selbst waschen oder anziehen, würde dies aber nicht, nur unvollständig, auf unpas-
Abbildung: Zuständigkeiten der Kostenträger bei Autismus-Spektrum-Störungen
sende Weise oder zu Unzeiten tun, wenn es sich selbst überlassen wäre). Autistische Kinder benötigen normalerweise eher indirekte Hilfe: Eine Hilfsperson ist regelmässig anwesend und überwacht die versicherte Person bei der Ausführung der infrage stehenden Verrichtungen, hält sie zum Handeln an oder hält sie von schädlichen Handlungen ab und hilft ihr nach Bedarf. Oft kommt für autistische Kinder eine Hilflosenentschädigung infrage, weil sie eine dauernde persönliche Überwachung benötigen. Minderjährige, die im Tagesdurchschnitt eine zusätzliche Betreuung (inklusive Begleitung bei Therapien usw.) von mindestens 4 Stunden benötigen, können, neben der Hilflosenentschädigung, auch Anspruch auf einen Intensivpflegezuschlag (IPZ) haben. Dieser richtet sich nach dem Betreuungsaufwand, der im Vergleich zu einem gleichaltrigen, nichtbehinderten Kind zusätzlich erforderlich ist. Er wird für jeden Aufenthaltstag zu Hause ausgerichtet. Minderjährige, die eine Hilflosenentschädigung beziehen und zu Hause wohnen, haben auch Anspruch auf einen Assistenzbeitrag, der die von ihnen benötigten Hilfeleistungen deckt, sofern sie regelmässig die obligatorische Schule in einer Regelklasse besuchen, eine Ausbildung (schulisch oder beruflich) auf dem regulären Arbeitsmarkt absolvieren, während mindestens 10 Stunden pro Woche eine Erwerbstätigkeit auf dem regulären Arbeitsmarkt ausüben oder einen Intensivpflegezuschlag für mindestens 6 Stunden pro Tag beziehen. Mit dem Assistenzbeitrag wird die sozialmedizinische Betreuung zu Hause finanziert, für welche der oder die Versicherte eine Assistenzperson anstellt. Es besteht aber kein Anspruch auf einen Assistenzbeitrag, wenn die Hilfeleistung von direkten Familienangehörigen erbracht wird (zum Beispiel von Eltern oder Grosseltern). Als finanzieller Beitrag an die Unterstützung durch nächste Familienangehörige stehen die Hilflosenentschädigung und der Intensivpflegezuschlag zur Verfügung.
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SCHWERPUNKT
Die Finanzierung von Frühfördermassnahmen soll neu geregelt werden.
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Im Jahr 2012 hat die IV ungefähr 15 Millionen Franken in Form von Assistenzbeiträgen, Hilflosenentschädigungen und Intensivpflegezuschlägen an rund 800 autistische Kinder bezahlt (durchschnittlicher Betrag pro Kind: 18 260 Fr.).
Ausblick 1: Bericht zu Autismus
Aufgrund der Entwicklungen im Bereich der Autismus-Spektrum-Störungen besteht ein zunehmender Bedarf an Klärung geeigneter Massnahmen bezüglich Diagnostik, Therapie und Betreuung, aber auch an Klärung der Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen. So hat das Parlament ein von Ständerat Claude Hêche eingereichtes Postulat «Autismus und andere schwere Entwicklungsstörungen, Übersicht, Bilanz und Aussicht» an den Bundesrat überwiesen. Mit diesem Postulat sollen die Grundlagen für eine Verbesserung der Betreuung von autistischen Personen und von Personen mit anderen schweren Entwicklungsstörungen geschaffen werden. Der Bundesrat wird aufgefordert, die Lage der Betroffenen und von deren Umfeld zu prüfen. Dabei sind namentlich folgende Ziele zu verfolgen: 1. Es soll eine Übersicht gewonnen werden über die
Erkennung der Störungen, die Betreuung und die Nachbetreuung, und zwar sowohl auf Kantons- als auch auf Bundesebene. 2. Es soll festgestellt werden, ob die laufenden Massnahmen quantitativ und qualitativ ausreichen und diese es erlauben, die den verschiedenen Akteuren zur Verfügung gestellten Mittel und Ressourcen optimal einzusetzen. 3. Es sollen unterschiedliche Ansätze geprüft werden, dank deren unter anderem die Zusammenarbeit und die interkantonale Koordination verbessert werden könnten. Ebenfalls soll die Möglichkeit geprüft werden, eine gemeinsame Strategie zu erstellen, in der prioritäre Handlungsfelder festgelegt werden. Aufgrund der Untersuchung sollte sich feststellen lassen, ob in der Schweiz genügend Massnahmen getroffen werden, ob diese Massnahmen wirksam sind und ob sie im Einklang stehen mit den jüngsten Forschungsergebnissen und den internationalen Empfehlungen in diesem Bereich. Zudem soll auch der Zugang zu den IV-Leistungen (z.B. medizinische Massnahmen, Invaliditätsrente, Assistenzbeitrag) und deren Wirksamkeit geklärt werden und die Frage, ob die Leistungen genügen. Diese Untersuchung soll zudem auch die Grundlage liefern für eine interkantonale Zusammenarbeit und den Weg hin zu einer besseren Koordination aufzeigen, damit auch die nötigen – insbesondere finanziellen – Mittel bereitgestellt werden. Dies würde sowohl dem Bund wie auch den Kantonen erlauben, im Rahmen einer gemeinsamen Strategie prioritäre Handlungsachsen festzulegen. Zu diesen Fragestellungen hat das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), zusammen mit Vertretern der Kantone, der IV-Stellenkonferenz (IVSK), des Bundesamts für Gesundheit, der Schweizerischen Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie (SKJP), der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie (SGP), der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (SGKJPP) und
der Elternvereine ein Forschungsprojekt in Auftrag gegeben. Voraussichtlich Anfang 2015 wird der entsprechende Bericht zur Beantwortung des Postulats vorliegen.
Ausblick 2: Frühintervention
Derzeit ist das BSV zudem daran, zusammen mit den Kantonen und Leistungserbringern zu klären, welcher Kostenträger welche Massnahmen der Frühinterventionen für unter 5-Jährige mit einem frühkindlichen Autismus in welchem Umfang finanziert. Das Modell für diese intensiven Behandlungen im frühen Kindesalter, die sogenannte angewandte Verhaltenstherapie (wie z.B. die ABA-Therapie), wurde in den Sechzigerjahren in den USA entwickelt, und sie wird seit 2007 auch in der Schweiz in wenigen spezialisierten Zentren in Genf, Muttenz, Riehen, Sorengo und Zürich angeboten. Der Behandlungsansatz ist mit 25 bis 35 Therapiesitzungen pro Woche für die Dauer von 2 bis 3 Jahren intensiver und teurer als herkömmliche Behandlungsmethoden. Er umfasst zudem neben den klassischen medizinisch-therapeutischen Massnahmen (wie z.B. Verhaltenstherapien, Ergotherapien) auch pädagogisch-therapeutische Elemente (wie z.B. heilpädagogische und früherzieherische Verfahren). Diese sogenannten Frühinterventionen werden heute grösstenteils durch gemeinnützige Stiftungen und die Eltern der betroffenen Kinder finanziert, weil sie gemäss einem Bundesgerichtsurteil aus dem Jahr 2007 nicht als wirksame Therapieformen gelten. In der Zwischenzeit gibt es jedoch in der Fachliteratur Hinweise für die Wirksamkeit. Entsprechend stellt sich nun die Frage, welche Teile in den Leistungsbereich der IV und der Kantone fallen. Folgende Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit diese Therapien im Rahmen der medizinischen Massnahmen von der IV finanziert werden können: sie müssen wirksam und wissenschaftlich anerkannt sein, und sie müssen von einem Arzt oder einer medizinischen Hilfsperson durchgeführt werden. Nach der Rechtsprechung gelten als medizinische Hilfspersonen alle Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Chiropraktoren, die eine angemessene berufliche Spezialausbildung erhalten haben und ihren Beruf nach den gültigen kantonalen Vorschriften ausüben. In diesem Sinne sind noch in Ausbildung stehende Studenten der Medizin, Psychologie etc. nicht als medizinische Hilfspersonen anerkannt, zumindest nicht, soweit berufliche Spezialkenntnisse gefordert sind, wie zum Beispiel für die Durchführung einer Psychotherapie. Die Rechtsprechung schliesst ebenfalls Familienangehörige als medizinische Hilfspersonen aus, selbst wenn sie (z.B. anlässlich eines Spitalaufenthaltes) die notwendigen therapeutischen Massnahmen gelernt haben. Damit diese multimodalen, intensiven Interventionen im frühen Kindesalter langfristig angewendet und weiterentwickelt werden können, muss ihre Finanzierung mit langem Zeithorizont geregelt und gesichert werden. Klar ist bereits heute, dass sowohl die IV als auch die Kantone für gewisse Teile der Frühintervention zuständig sind und letztlich eine gemischte
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Finanzierung notwendig sein wird. Diese soll nach den NFA-Grundsätzen geregelt werden. Um die Finanzierung zu klären, hat das BSV im August 2012 eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, in der neben den Vertretern des Bundesamts für Sozialversicherungen Delegierte der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK), der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK), der SGKJPP sowie der IVSK mitwirken. Es wird angestrebt, ab 2014 einen vorerst auf 5 Jahre befristeten Finanzierungsschlüssel für in den fünf Frühinterventionszentren Genf, Muttenz, Riehen, Sorengo und Zürich durchgeführte Therapien zu erarbeiten. Die Frühinterventionszentren sind gefordert,
während der 5-jährigen Projektphase aufzuzeigen, dass ihre Methoden bei Kindern mit frühkindlichem Autismus nachhaltig wirken.
Korrespondenzadressen: Dr. med. Inès Rajower E-Mail: ines.rajower@bsv.admin.ch Maryka Laâmir E-Mail: maryka.laamir@bsv.admin.ch Michèle Rudaz E-Mail: michele.rudaz@bsv.admin.ch Bundesamt für Sozialversicherungen Geschäftsfeld Invalidenversicherung Effingerstrasse 20 3003 Bern
BUCHTIPP
Stillen ohne Zwang
W enn eine Mutter ihr Kind nicht stillen kann oder will, sieht sie sich heutzutage der mehr oder minder offen ausgesprochenen Kritik ausgesetzt, ihr Kind nicht genug zu lieben. Ist nicht Muttermilch schliesslich das Beste für das Kind? Das neue Buch «Stillen ohne Zwang», verfasst von der Stillberaterin Sibylle Lüpold, hebt sich angenehm von der Fülle an Broschüren, Ratgebern, gut gemeinten Ratschlägen oder imperativen WHO-Richtlinien ab, deren einziges Ziel es ist, die Stillquote um jeden Preis zu steigern. «Keine Frau soll sich schuldig fühlen, wenn sie nicht stillen kann oder will, denn jede Mutter hat für ihre Entscheidung berechtigte Gründe – auch wenn diese nicht immer allen verständlich erscheint», schreibt Lüpold im Eingangskapitel ihres Werks und macht unmissverständlich klar, dass sie den Müttern das Stillen nicht zwangsverordnen will. Vielmehr geht es darum, gleichzeitig Nähe zum Kind zu finden, ohne die eigenen Bedürfnisse und die der restlichen Familie aus den Augen zu verlieren. Ziel ist es, häufige Fehler zu vermeiden, die das Stillen vereiteln oder zu einem allzu frühen Abstillen führen.
Lüpold räumt auch mit Mythen und Halbwahrheiten rund um das Stillen auf, denen sie zu Beginn ihrer Karriere als Stillberaterin offenbar selbst auf den Leim gegangen war: «Ich verstand, dass ich vielen Müttern bei ihren Schwierigkeiten nicht helfen konnte, solange ich davon ausging, dass Stillen der einzig richtige Weg und das Überwinden von Stillproblemen reine Willenssache ist. Zu stillen oder nicht zu stillen ist oft keine bewusste Entscheidung, sondern vielmehr eine Frage der Persönlichkeit, der Rahmenbedingungen und Ressourcen.» Auch wenn sich eine Frau gegen das Stillen entscheidet, betrachtet sich Stillberaterin Lüpold nicht als gescheitert: «Auch wenn dadurch das Abstillen nicht verhindert werden kann, so stärkt eine konstruktive Auseinandersetzung mit den Hintergründen der Stillprobleme das Selbstwertgefühl der Mutter und ihre Bindung zum Kind.» Das Buch geht auf eine Vielzahl von Aspekten rund um die Mutter-Kind-Bindung und den Wunsch nach Nähe oder Distanz ein; es geht in diesem Stillbuch nicht nur ums Stillen. Auch der Rolle der Väter sind mehrere Kapitel gewidmet. Darüber hinaus werden evolutionäre und histo-
rische Aspekte des Stillens und der verschiedenen kulturellen Entwicklungen rund um die Mutterschaft abgehandelt. Die Kapitel lesen sich gut und werden durch Erfahrungsberichte und aufgezeichnete Gespräche aufgelockert. Insgesamt ein sehr interessantes Buch nicht nur für junge Mütter.
RBO
Stillen ohne Zwang. Von Sibylle Lüpold. 224 Seiten; broschiert; rüffer & rub Sachbuchverlag, Zürich; ISBN 978-3-907625-59-0; Fr. 36.–
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