Transkript
SCHWERPUNKT
«Nicht abwarten, sondern handeln!»
Was Eltern autistischer Kinder im Alltag erleben – ein Fallbericht
Als Marco vor 20 Jahren geboren wurde, war Autismus in der Schweiz ausserhalb von Spezialistenzirkeln praktisch kein Thema. Anders als heute gab es keine speziellen Angebote, keine Zentren und kaum Selbsthilfegruppen. Die breite Öffentlichkeit hielt alle Autisten seit dem Film «Rain Man» für Genies mit Kommunikationsdefiziten – ohne auch nur zu ahnen, was es für eine Familie tatsächlich bedeutet, mit einem autistischen Kind zu leben.
M arco war ihr erstes Kind, doch den Eltern fiel schon bald auf, dass ihr Sohn anders als andere Kinder war: «Als er zwei Monate alt war, bemerkten wir, dass Marco immer nur nach rechts schaute, nie in eine andere Richtung», erzählt sein Vater. Eine Physiotherapeutin empfahl die Abklärung am Kinderspital in Zürich. Dort erhielt Marco im Alter von 10 Monaten seine erste Diagnose: Es handle sich um eine zerebrale Bewegungsstörung bei normaler kognitiver Entwicklung, so stand es im Arztbrief.
Schlafstörungen und Wutanfälle
Ein paar Monate vergingen, und für die Eltern wurde immer deutlicher, dass mit Marcos Verhalten etwas Prinzipielles nicht in Ordnung war: «Als er 20 bis 22 Monate alt war, hörte er auf, uns in die Augen zu schauen, er lächelte nicht mehr, er schlief schlecht, und er bekam immer häufiger extreme Wutanfälle», berichtet der Vater. Auch schien Marco Fähigkeiten, die er sich bereits angeeignet hatte, wieder zu verlieren: So hatte er bereits einige Worte gelernt, benutzte diese aber nicht mehr und lernte auch kaum neue Worte hinzu. Die Eltern engagierten eine Logopädin. Das Leben mit Marco gestaltete sich zunehmend schwierig: Er wollte nur auf dem Boden schlafen. Er schlief nicht durch und forderte jede Nacht stundenlange Aufmerksamkeit. Zeitweise schlief er nur, wenn sich Mutter oder Vater neben ihn auf den Boden legte. Sicher, Schlafprobleme kommen bei vielen Kindern vor, aber was die Eltern von Marco erlebten, ging weit über das Normalmass hinaus. Am schlimmsten waren jedoch seine Wutanfälle: «Wir konnten praktisch nirgends mit ihm hingehen. Nur lange Waldspaziergänge oder sehr lange Autofahrten waren möglich. Das beruhigte ihn offensichtlich», erinnert sich der Vater.
Probleme beim Essen
Die Ernährung war ein weiteres Problem. Marco verlangte alle 4 Stunden einen Liter Milch aus seiner Ba-
byflasche; Brot oder Teigwaren nahm er manchmal auch noch, aber er war kaum dazu zu bringen, Früchte, Gemüse oder proteinreiche Nahrung zu essen. Verdauungsprobleme waren die Folge, und Marco war oft krank. Im Alter von 4 Jahren griffen die Eltern zu einer drastischen Massnahme: Sie entzogen ihm die Milch. Auf die Idee gebracht hatten sie positive Erfahrungsberichte anderer Eltern mit autistischen Kindern. Und in der Tat: Ohne Milch verbesserten sich Schlaf- und Verdauungsstörungen, und Marco begann auch andere Nahrungsmittel zu essen. Davon ermutigt entzogen die Eltern ein halbes Jahr später auch das Gluten, was nach ihrem Eindruck zu einer besseren Konzentrationsfähigkeit und vermehrtem Augenkontakt führte. «Die Ärzte vergessen oft, dass Menschen mit Autismus auch eine Menge medizinischer Probleme haben», sagt sein Vater. Da brauche es mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung. Eine Diät sei immer einen Versuch wert: «Wenn es nichts bringt, kann man es ja wieder sein lassen.» Die Ärzte sollten die Eltern aber nicht demotivieren und sagen, dass das alles sowieso nichts bringe.
Die Eltern recherchieren selbst
So schlimm die Probleme im Alltag auch waren, am meisten belastete die Eltern die Ungewissheit. Was fehlte Marco? Die Logopädin vermutete Autismus, als Marco etwa 41/2 Jahre alt war, und informierte die behandelnde Kinderärztin über ihren Verdacht. Die Eltern erfuhren davon nichts. Etwa zur gleichen Zeit hatten sie jedoch via Internetrecherche schon selbst herausgefunden, dass ihr Kind möglicherweise autistisch war. Als gut ausgebildete Akademiker sprachen beide gut Englisch und konnten sich die damals verfügbare Fachliteratur erschliessen: «Als Marco zwischen 3 und 5 Jahre alt war, füllten wir einen Online-Fragebogen des Autism Research Institute San Diego aus – mit dem Resultat, dass Marco wahrscheinlich autistisch war», berichtet
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Er lächelte nicht mehr und mied den Augenkontakt.
Extreme Wutanfälle häufen sich.
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SCHWERPUNKT
Die Eltern zahlten für eine neue Therapie.
Schulbesuch und Lehre waren möglich.
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sein Vater. Bis ein Schweizer Arzt diese Diagnose bestätigte, dauerte es noch eine Weile.
Die Diagnose
Im Grunde gerieten die Eltern eher zufällig an einen Zürcher Arzt, der sich schon damals, Ende der Neunzigerjahre, intensiv mit Autismus befasste, Dr. med. Ronnie Gundelfinger am KJPD Zürich. Die behandelnde Kinderärztin hatte Marco eigentlich an einen pädiatrischen Neurologen zwecks EEG überwiesen, doch war an die Durchführung der Untersuchung in der Praxis des Neurologen nicht zu denken: Marco tobte und war kaum zu beruhigen. Der Neurologe konstatierte, das Kind sei wohl extrem hyperaktiv, und empfahl, bei Gundelfinger Rat zu suchen. Dieser stellte 10 Monate später erstmals die offizielle Diagnose «atypischer Autismus». Da war Marco 6 Jahre alt. In der Zwischenzeit hatten sich die Eltern auch noch an eine andere Autismus-Beratungsstelle gewandt. Dort allerdings glaubte man offenbar noch an bereits damals längst widerlegte Theorien (s. Seite 35 in dieser Ausgabe der PÄDIATRIE), und man empfahl eine Familientherapie, weil Marco depressiv sei. Die Eltern lehnten diesen zweifelhaften Rat ab.
Erste ABA-Therapie in der Schweiz auf Elterninitiative
Doch langsam entwickelten sich die Dinge in eine positive Richtung. Die Eltern hatten vom ABA-Ansatz (Applied Behaviour Analysis; s. Seite 6 in dieser Ausgabe der PÄDIATRIE) gelesen, der in den USA angewendet wurde. In Absprache mit dem Zürcher Experten und auf eigene Kosten luden die Eltern den norwegischen ABA-Fachmann Prof. Svein Eikeseth in die Schweiz ein, um eine Schulung für interessierte Schweizer Fachkräfte durchzuführen. Diese Personen führten dann wiederum die ersten intensiven Frühförderungen nach dem ABA-Prinzip durch, unter anderem zuhause mit Marco. Der Erfolg war verblüffend: «Von dem Tag an, als wir die intensive ABA mit Marco begannen, änderte sich sein Lebensweg. Er begann grundlegende Fähigkeiten zu erlernen, die er niemals von selbst erworben hätte. Man konnte wieder positiv mit ihm kommunizieren», berichtet der Vater. Weitere Informationen für Eltern finden sich hier: www.aba-parents.ch, www.autismus-ads-behandeln.ch
Die IV zahlt nicht
Die IV zahlte für die ABA-Therapie nicht. Man bezweifelte die Wirksamkeit der Methode. Das Einzige, was die IV damals, Ende der Neunzigerjahre, bezahlte, waren 2 Stunden Ergotherapie pro Woche, die jedoch keinerlei positiven Effekt brachten, erinnert sich der Vater. Glücklicherweise konnten die Eltern mithilfe von Ärzten die örtliche Schulbehörde davon überzeugen, wenigstens einen Teil der ABA-Kosten zu übernehmen. Obwohl sich die ABA-Therapie mittlerweile zum Standard der Frühintervention entwickelt hat, zahlt die IV diese auch 2013 noch nicht. Die intensive Frühförderung bei Autismus wird bis heute von den Eltern
und/oder gemeinnützigen Stiftungen finanziert, denn in Bundesgerichtsurteilen wurde die Frühintervention nicht als wirksame Therapieform anerkannt. 2008 reichten Schweizer Kinder- und Jugendpsychiater auf Anregung betroffener Eltern eine Petition beim Bundesamt für Sozialversicherung ein, in welcher sie forderten, dass die IV mindes-tens 20 Stunden pro Woche für die intensive Frühförderung zahlen sollte. 4 Jahre danach, im Jahr 2012, hat das BSV eine Arbeitsgruppe berufen, die ein vorerst auf die Schweizer Frühinterventionszentren beschränktes Finanzierungsmodell für zunächst 5 Jahre erarbeiten soll (s. Seite 14 bis 16 in dieser Ausgabe der PÄDIATRIE).
Wie geht es Marco heute?
Das ABA-Programm dauerte für Marco 2 Jahre mit jeweils 30 Stunden pro Woche. Es war ein hoher Aufwand, der sich jedoch auszahlte. Marco konnte dann mit einer Begleitperson die örtliche Schule besuchen und später – ganz ohne fremde Hilfe – 3 Jahre lang die Oberstufe besuchen. Der heute 20-Jährige hat nun eine Lehre abgeschlossen. Die Eltern führen die positive Entwicklung ihres Sohnes aber nicht nur auf ABA zurück. Wesentlich dazu beigetragen habe auch die Änderung von Ernährung und Lebensgewohnheiten in der Kindheit. Auch wenn die Geschichte sich letzten Endes noch gut entwickelt hat, hätten sich die Eltern mehr Aufmerksamkeit seitens der Ärzte gewünscht. Auch die lange Zeit bis zur Diagnose hätte nicht sein müssen. Die ABA-Methode sei damals, vor der Einführung in der Schweiz, seit zirka 12 Jahren bekannt und nachweisbar erfolgreich gewesen: «Man hätte es hierzulande zwar nicht unbedingt wissen müssen, aber wissen können hätte man es schon.» Und heute? Nun, heute sei die Situation zwar besser als vor 20 Jahren, aber von einer flächendeckenden Versorgung autistischer Kinder sei man immer noch sehr, sehr weit entfernt, sagt der Vater. Er könne den Eltern nur raten: «Nicht abwarten, sondern handeln!» Sie sollten bei Ärzten und Psychologen Rat suchen, die etwas von Autismus verstehen. Entsprechende Kontaktadressen finden sich auf den einschlägigen Websites. «Für uns am wichtigsten ist, dass er mit seinen Freunden und der Familie positiv kommunizieren kann und ein glücklicher junger Mann mit ganz normalen Interessen geworden ist», sagen die Eltern. Marco hat zwar gewisse Defizite im abstrakten Denken, kann aber ansonsten sein Leben recht selbstständig meistern. Er wohnt noch zuhause. Seine Eltern wünschen sich, dass er letztlich ein eigenes Zuhause finden wird, in dem er so unabhängig wie möglich leben kann, ohne das sichere Gefühl von Geborgenheit zu vermissen. Und: Marco möchte jetzt gerne auch eine Freundin finden.
Renate Bonifer
Dieser Bericht beruht auf einem authentischen Fall. Der Name des Kindes und einige Details wurden geändert, um die Privatsphäre der Familie zu schützen.
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