Transkript
SCHWERPUNKT
Autismusdiagnose in der Praxis
Typische Symptome und geeignete Screeninginstrumente
In diesem Artikel werden die in der Praxis möglichen Screeninguntersuchungen vorgestellt, da auch heute noch autismusspezifische Abklärungen in der Regel erst verzögert eingeleitet werden.
Von Elmar Keller
A utismus ist eine neuronale Entwicklungsstörung des unreifen Gehirns mit qualitativen Auffälligkeiten respektive Einschränkungen in den Bereichen Kommunikation, soziale Interaktion sowie gleichzeitigem Vorliegen repetitiver, eingeschränkter Interessen und Stereotypien. Diese sollten sich vor dem 36. Lebensmonat manifestiert haben, müssen aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht zwingend diagnostiziert sein. Ursprünglich ging man von einer sehr seltenen Entwicklungsstörung aus, mit einer Häufigkeit von 3 bis 4 auf 10 000 Kinder. In den Neunzigerjahren wurden die Diagnosekriterien weiter gefasst. Zusammen mit einer standardisierten Diagnostik und dem gesteigerten Bewusstsein um das Störungsbild «Autismus» kam es zu einer deutlichen Zunahme der Diagnosen (s. auch «Die Epidemiologie des Autismus» in dieser Ausgabe der «PÄDIATRIE»). Sicherlich geht ein Teil der Zunahme von Autismusdiagnosen aber auch darauf zurück, dass die Diagnose Autismus gesellschaftlich besser akzeptiert wird als die Diagnose intellektuelle Behinderung, zumal eine Autismusdiagnose oft eine bessere medizinische und pädagogische Förderung erlaubt. Einige Autoren gehen von einer Prävalenz um 1 Prozent aus (1), davon jeweils zu je einem Drittel frühinfantiler Autismus, Asperger-Syndrom und atypischer Autismus. Seit Mai 2013 spricht man gemäss der 5. Revision des «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders» (DSM-5 [2]) nur noch von Autismus-Spektrum-Störungen (s. auch «Was ist Autismus? Eine klinische Einführung» in dieser Ausgabe der PÄDIATRIE).
Die Genetik spielt eine Rolle ...
Bei Autismus-Spektrum-Störungen handelt es sich um ein multifaktorielles Störungsbild mit sehr starkem genetischem Einfluss. Bisher sind rund 100 Gene identifiziert, die mit autistischen Störungen assoziiert sind, und mit Ausnahme der Chromosomen 14 und
20 sind alle Chromosomen beteiligt (3). In Einzelfällen gelang der Nachweis einer «single gene mutation», wie zum Beispiel bei SHANK3, einem Gen auf Chromosom 22, dessen Genprodukt ein Strukturprotein ist und eine Rolle bei der Synapsen- und Dendritenbildung spielt (4). Bisher gelang aber nicht der Nachweis einer spezifischen Chromosomenregion, die universell jene Gene enthält, die Autismus hervorrufen.
... Mütter und Masern nicht
Frühere soziologische Erklärungsmodelle, wonach zum Beispiel die vermehrte Erwerbstätigkeit der Mütter und eine dadurch verminderte Zuwendung für die Kinder die «Bestrafung» der Mütter durch diese Kinder mittels verminderter Aufmerksamkeit nach sich zieht, haben sich als blanker Unsinn erwiesen. Das gilt auch für die jahrelang geführte Debatte über die Masernimpfung als Autismusauslöser. Dieser Verdacht ist mittlerweile zwar eindeutig widerlegt, spukt aber noch in vielen Köpfen, insbesondere der Impfgegner, herum.
Komorbiditäten
In bis zu 50 Prozent der Fälle geht Autismus mit einer psychointellektuellen Retardierung (IQ < 70) einher. Weitere Komorbiditäten sind Epilepsie (bis zu 20%) (5), ADHS (50–70%), Zwangs- und Angststörungen. Autisten mit psychointellektueller Retardierung haben deutlich häufiger eine Epilepsie als Autisten ohne Retardierung (22 vs. 8%). Mädchen haben deutlich seltener Autismusstörungen (ca. 1:4), aber falls eine solche vorliegt, haben sie deutlich häufiger auch eine Epilepsie (5). Autismus tritt auch gehäuft im Zusammenhang mit bestimmten Syndromen auf, das wurde bis jetzt als «Autismus plus» bezeichnet. Syndrome, die gehäuft mit Autismus auftreten, sind unter anderem FragilesX-Syndrom (2–6%), Down-Syndrom (bis zu 10%),
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Man muss an die Möglichkeit einer solchen Störung denken!
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tuberöse Sklerose (bis zu 10%) sowie unter anderem Angelman-, Prader-Willi-, Möbius- und Sotos-Syndrom.
Typische Symptome
Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen weisen eine grosse Heterogenität bezüglich Symptomen, kognitiver Fähigkeiten, sprachlicher Kompetenz, Verhalten und adaptiver Fähigkeiten auf. Es gibt jedoch drei typische Auffälligkeiten, auf denen viele der Screening- und standardisierten Testverfahren beruhen: 1. fehlende geteilte Aufmerksamkeit (joint attention),
zum Beispiel fehlender abwechselnder Blickkontakt zu einem Objekt und einem Gegenüber 2. fehlendes protodeklaratives Zeigen, zum Beispiel fehlendes Zeigen auf einen Gegenstand, um darauf aufmerksam zu machen 3. fehlendes Symbolspiel. Weitere Auffälligkeiten können unter anderem sein: leben wie in einer eigenen Welt, fehlender Augenkontakt, fehlende verbale Fähigkeiten bis zu hochartifizieller Sprache, schwere geistige Behinderung, aber auch Hochbegabung, Stereotypien, Rituale, schwere Verhaltensauffälligkeiten bei Änderung von Routinen, Vorliebe für bestimmte Stimuli (Ablecken, Riechen etc.) oder sehr ausgeprägte Spezialinteressen.
Diagnostik in der Praxis
Der wichtigste Punkt für den Haus- oder Kinderarzt ist, überhaupt an die Möglichkeit des Vorliegens einer solchen Störung zu denken! Oft werden diese Auffälligkeiten nicht erkannt, oder es erfolgen zunächst bekannte Diagnosen wie ein allgemeiner Entwicklungsrückstand oder eine Sprachentwicklungsverzögerung mit nachfolgender Aufnahme einer Früherziehung. Leider sind aber auch noch viele Früherzieher mit diesem sehr vielschichtigen Störungsbild wenig vertraut und veranlassen dann auch keine weiteren Abklärungen. Bei älteren Kindern wird oft zunächst die Diagnose eines ADHS respektive POS gestellt, da eben diese Störungsbilder sehr bekannt sind. Die Möglichkeit, dass sich dahinter auch eine tiefgreifende Entwicklungsstörung verbergen kann, wird oft nicht in Erwägung gezogen. Erst wenn die Kinder dann trotz mehrjähriger Ergotherapie und anderer Massnahmen weiterhin erhebliche Schwierigkeiten insbesondere im sozialen Bereich zeigen, werden weitere Abklärungen aufgegleist. Autismus-Spektrum-Störungen sind zwar nicht heilbar, jedoch lassen sich insbesondere durch Frühinterventionsprogramme Verbesserungen erzielen, und aus diesem Grund sollten die Kinder möglichst früh diagnostiziert werden. Für die Praxis stehen aus meiner Sicht zwei Screeningfragebögen im Vordergrund, auf die im Folgenden eingegangen wird: • M-CHAT für die Altersgruppe um 2 Jahre mit Ein-
satzmöglichkeit bei der U7 • Fragebogen zur sozialen Kommunikation (FSK), der
etwa ab einem Alter von 4 Jahren eingesetzt werden kann bis in die Adoleszenz.
M-CHAT
Der Fragebogen M-CHAT (modified checklist for autism in toddlers) wurde 1992 von dem Autismusspezialisten Baron-Cohen ursprünglich als Screeninginstrument für Autismusdiagnostik bei Kleinkindern entwickelt; er wurde im Laufe der Jahre, insbesondere wegen geringer Sensitivität, modifiziert (6). Auf Deutsch wurde er 2005 von Sven Bölte an der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Frankfurt/Main adaptiert (s. Abbildung). Der M-CHAT weist bei mässiger Sensitivität eine allerdings gute Spezifität auf, das heisst: Wenn der Fragebogen unauffällig ist, ist damit eine tiefgreifende Entwicklungsstörung eher unwahrscheinlich. Er ist ein Screeninginstrument und ersetzt nicht eine autismusspezifische Diagnostik. Die Evaluation des M-CHAT ist noch nicht vollständig abgeschlossen, die bisher verfügbaren Daten weisen jedoch auf eine gute Stabilität hin (7). Er beruht in erster Linie auf dem Erfragen von Auffälligkeiten, wie sie für Kinder mit einer tief greifenden Entwicklungsstörung typisch sind, zum Beispiel fehlendes Symbolspiel, fehlendes Zeigen und Deuten sowie fehlendes Triangulieren. Der Fragebogen umfasst 23 binär kodierte Fragen. 19 der Fragen sind so kodiert, dass Nein-Antworten auffällig sind und einen Punkt ergeben, bei 4 Fragen ist eine Ja-Antwort auffällig. Es handelt sich dabei um die Fragen 11, 18, 20 und 22. Als Fragen mit der höchsten Diskrimination haben sich abgestuft die folgenden ergeben: 7, 14, 2, 9, 15 und 13. Werden beispielsweise alle diese Fragen mit Nein von den Eltern beantwortet, ergibt sich eine relativ hohe Sensitivität von 87 Prozent bei einer gleichzeitig hohen Spezifität von 99 Prozent. Bei 3 Punkten besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer tiefgreifenden Enwicklungsstörung, bei 6 Punkten eine sehr hohe Wahrschein-
Der M-CHAT sollte bei der U7 eingesetzt werden.
Fallbericht 1: Bianca, 3 Jahre, frühinfantiler Autismus
Das zweite Kind aus Portugal stammender Eltern hat eine gesunde fünfjährige Schwester. Bianca weist eine unauffällige motorische Entwicklung auf, aber deutliche Sprachentwicklungsverzögerung. Sie spricht im Alter von 3 Jahren nur einzelne Wörter. Die Zuweisung mit Verdacht auf Autismus erfolgte, da die Eltern angaben, Bianca spreche häufig Wörter oder Satzfragmente nach und habe bestimmte genaue Routinen und Abläufe; so spiele sie zum Beispiel auf einer CD immer wieder das gleiche Lied ab. Die neurologische und internistische Untersuchung ergibt keine grösseren Auffälligkeiten. Bianca wirkt aber, als lebe sie in ihrer eigenen Welt, ein wirklicher Kontakt ist schwierig herzustellen. Im SON-R erzielt sie einen Wert von 76; das entspricht einer Kognition im unteren Bereich einer Lernbehinderung. Im ADOS kommt sie auf 17 Punkte (Grenzwert 12 Punkte). Im ADI-R kommt sie im Bereich qualitative Auffälligkeiten der reziproken sozialen Interaktion auf 17 Punkte (Grenzwert 10 Punkte), im Bereich qualitative Auffälligkeiten der Kommunikation auf 11 Punkte (Grenzwert 8) und im Bereich repetitives restriktives Verhalten auf 3 Punkte (Grenzwert 3 Punkte). Nach der neuen DSM-5-Klassifikation bedeutet das «Autismus-Spektrum-Störung mit schwerer Sprachentwicklungsverzögerung».
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1. Prüfung geteilter Aufmerksamkeit (joint attention): Sichern Sie sich die Aufmerksamkeit des Kindes und zeigen Sie dann mit einem Finger auf einen interessanten Gegenstand im Untersuchungszimmer, zum Beispiel ein Spielzeug, und beobachten Sie, ob das Kind ebenfalls auf den Gegenstand schaut und danach wieder zu Ihnen.
2. Prüfung protodeklaratives Zeigen: Fordern Sie das Kind auf, auf einen interessanten Gegenstand im Untersuchungszimmer zu zeigen.
3. Symbolspiel (so tun als ob): Geben Sie dem Kind zum Beispiel eine Spielzeugtasse und ein Kännchen und fordern Sie es auf, Ihnen etwas einzugiessen und gegebenfalls dann auch zu trinken.
Abbildung: M-CHAT; Download mit Hinweisen zur Auswertung zur Verfügung unter: http://www.kgu.de/fachkliniken/zentrum-fuer-kinder-und-jugendmedizin/psychiatrie-psychosomatik-und-psychotherapie-des-kindes-und-jugendalters/linksdownloads/downloads.html
Wenn der M-CHAT unauffällig ist, ist Autismus unwahrscheinlich.
lichkeit. Der Erwartungswert einer tatsächlichen Autismus-Spektrum-Störung läge bei 10 oder mehr Punkten. Der M-CHAT sollte bei der U7 eingesetzt werden. Bei 3 oder mehr Punkten sollte der Fragebogen nach ein bis zwei, spätestens aber nach 6 Monaten wiederholt werden. Falls weiterhin Auffäligkeiten bestehen, sollte eine spezialisierte Diagnostik in einem Autismuszentrum erfolgen. Ergänzen kann man den M-CHAT noch mit 3 Beobachtungen (aus dem ursprünglichen CHAT von BaronCohen):
Fragebogen zur sozialen Kommunikation (FSK)
Es handelt sich dabei ebenfalls um ein Screeninginstrument. Der FSK ist geeignet für Kinder ab dem 4. Lebensjahr und bis weit in die Adoleszenz einsetzbar. Entwickelt wurde der Fragebogen 2003 von Rutter, Bailey und Lord. Er wurde 2006 von Bölte und Mitarbeitern der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Frankfurt/Main für den deutschsprachigen Raum adaptiert (8); er ist mit Fragebögen und Auswerteblättern über die Testzentrale der Schweizer Psychologen AG in Bern (www.testzentrale.ch) erhältlich. Es handelt sich dabei um einen binär kodierten Fragebogen mit 40 Fragen, bei dem sowohl Ja- als auch Nein-Antworten auffällig sein können. Abgeleitet wurde er aus dem Autistic Diagnostic Interview (ADIR) (9), das in der weiterführenden autismusspezifischen Diagnostik eingesetzt wird und neben der Verhaltensbeobachtung des ADOS (10) (Autistic Diagnostic Oberservation Schedule) als Goldstandard der Autismusdiagnostik gilt. Im FSK werden autismusspezifische und komorbide Symptome erfragt, die bei Nichtbetroffenen nicht oder nur selten auftreten. Die Bearbeitungszeit für die Eltern liegt bei zirka 20 Minuten, eine Auswertung ist in zirka 5 Minuten möglich. Pro Frage gibt es maximal 1 Punkt, die maximale Punktzahl beträgt 39 für Kinder mit Sprache, 33 für Kinder ohne Sprache. Der Fragebogen bedarf keiner Anleitung. Der Fragebogen liegt in zwei Versionen vor. Der Fragebogen «Lebenszeit» bezieht sich auf die bisherige Entwicklung und wird für die Autismusdiagnostik eingesetzt. Der Fragebogen «Aktuell» bezieht sich auf Auffälligkeiten lediglich während der letzten drei Monate und wird zum Beispiel zur Beurteilung autismusspezifischer Interventionsprogramme eingesetzt. Für das Screening wird nur der Fragebogen «Lebenszeit» benötigt. Der Grenzwert für eine Autismusstörung liegt bei 15 respektive 16 Punkten. Ab 15 Punkten ist eine Störung aus dem autistischen Spektrum wahrscheinlich, aber selbstverständlich noch nicht bewiesen. Bei dem Grenzwert von 15 beträgt die Sensibilität 85 Prozent, die Spezifität 75 Prozent. Bei höheren Punktzahlen steigen Sensibilität und Spezifität weiter an. Man muss sich aber immer bewusst machen, dass
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auch das lediglich ein Screeningfragebogen ist. Selbst wenn das Kind nicht die ausreichende Punktzahl im FSK erzielt, Sie aber den begründeten Verdacht auf das Vorliegen einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung haben, sollten Sie eine weitere autismusspezifische Diagnostik einleiten.
Weiterführende Autismusdiagnostik in Spezialambulanzen
Bei berechtigtem Verdacht auf eine tiefgreifende Entwicklungsstörung sollte eine dezidierte Abklärung in einer dafür geeigneten Spezialambulanz erfolgen. Dort werden internistische und neuropädiatrische Untersuchungen durchgeführt sowie insbesondere spezifische Entwicklungsabklärungen inklusive psychometrischer Tests mit dafür geeigneten Verfahren wie den Bayley-Scales, dem SON-R (ein nicht verbaler Intelligenztest) oder anderen bewährten Testverfahren. Eine sorgfältige Überprüfung von Hör- sowie Sehfunktionen sollte bereits im Vorfeld erfolgt sein, andernfalls wird diese vom Zentrum durchgeführt oder veranlasst. Die eigentliche autismusspezifische Diagnostik in einem Zentrum besteht aus der Durchführung von ADOS (Autism Diagnostic Observation Schedule) und ADI-R (Autism Diagnostic Interview Revised). Der ADOS-Test (10) wurde von C. Lord und Mitarbeitern entwickelt und stellt eine Beobachtungssituation dar. Der Test liegt aktuell im deutschsprachigen Raum in vier Modulen vor: einem Modul für Kinder ohne Sprache, einem Modul für Kleinkinder mit Sprache sowie Modulen für Kinder- und Jugendliche, wobei das Modul für Jugendliche auch für Erwachsene eingesetzt werden kann. Im englischsprachigen Raum liegt bereits ADOS 2 vor, das um ein Modul für Kleinkinder erweitert wurde. Das Modul 1 für Kinder ohne Sprache (ist somit nicht altersgebunden) beinhaltet freies Spiel, Reaktion auf den Namen, Reaktion auf geteilte Aufmerksamkeit, Funktions- und Symbolspiel sowie beispielsweise die Durchführung einer Geburtstagsfeier sowie eines Snacks. Die Reaktionen des Kindes werden dabei beobachtet und anschliessend kodiert. In der aktuellen Version werden Kommunikation und soziale Interaktion noch getrennt erfasst und gehen dann in die Diagnose ein. Stereotypien werden ebenfalls erfasst und kodiert, gehen jedoch nicht in die Diagnose gemäss ADOS ein. Die Durchführung des ADOS erfordert ein ausführliches Training und kann nicht ohne ein solches durchgeführt werden. Das ADI-R (9) ist ein 93 Fragen umfassendes ausführliches Entwicklungsinterview, das autismusspezifische Auffälligkeiten in den Bereichen Kommunikation, soziale Interaktion sowie Stereotypien zu erfassen sowie abzuklären sucht, ob diese Auffälligkeiten bereits in der frühen Kindheit bestanden. Auch dieses Interview erfordert ein ausführliches Training.
Fazit
• Kinderärzten, Hausärzten sowie Früherziehern kommt eine wichtige Funktion bei der Früherkennung dieses Störungsbildes zu
• Das Wichtigste ist, bei einem Kind mit Entwick-
lungsauffälligkeiten, wie zum Beispiel einer Sprachentwicklungsverzögerung, an die Möglichkeit des Vorliegens einer solchen Störung zu denken. • Es stehen verschiedene Screeningsinstrumente für verschiedene Altersstufen zur Verfügung, wie der M-CHAT für Kleinkinder ab einem Alter von 21 Monaten und der FSK-Fragebogen für Klein- und Schulkinder ab einem Alter von zirka 4 Jahren. • Bei Auffälligkeiten gemäss diesen Screeninginstrumenten sollte eine eingehendere Autismusabklärung eingeleitet werden. • Bei Verdacht auf das Vorliegen einer solchen Störung kann und sollte man eine weitere Abklärung auch dann veranlassen, wenn der Screeningfragebogen einen negativen Befund liefert. Solche Fragebögen widerspiegeln bekanntlich immer nur die Sicht der Eltern, die die Auffälligkeiten ihres Kindes eventuell nicht angemessen wahrnehmen. • Autismus-Spektrum-Störungen sind zwar nicht heilbar, jedoch bietet eine frühe Diagnose die Möglichkeit spezifischer Förder- und Unterstützungsmassnahmen, die über die sonst üblichen Massnahmen der Früherziehung hinausgehen. • So hart die Mitteilung dieser Diagnose für Eltern sein kann, ermöglicht sie doch ein besseres Verständnis und einen verbesserten Umgang mit den oft erheblichen Auffälligkeiten und Schwierigkeiten ihrer Kinder.
Bei älteren Kindern wird oft nur an ADHS gedacht.
Fallbericht 2: Tobias, 13 Jahre, Asperger-Syndrom
Tobias lebt bei seiner alleinerziehenden Mutter, der Vater ist durch Suizid verstorben. Tobias wird als Aussenseiter und mit auffälligem Verhalten geschildert. Er ist das erste und einzige Kind der Mutter. Schwangerschaft, Geburt und frühkindliche Entwicklung erfolgten ohne grössere Auffälligkeiten. 2004 Diagnose eines POS und Stimulanzienbehandlung mit Ritalin sowie mehrjährige Ergotherapie. Tobias ist zurzeit in der 1. Sekundarstufe. Die Zuweisung erfolgte wegen auffälligen Verhaltens und zunehmender sozialer Probleme in der Schule. So trägt er im Klassenzimmer zum Beispiel immer eine Skibrille, steht im Unterricht plötzlich auf und läuft durch die Klasse. Er hat grosse Probleme mit dem Zeitmanagement und Schwierigkeiten, sich in den Leistungskursen, die an verschiedenen Orten stattfinden, zu orientieren. Er ist stark interessiert an Technik und hat eine grosse Bibliothek, insbesondere Lexika. Sein Berufswunsch ist Astrophysiker an einer Sternwarte auf Hawaii, über die er einmal einen Bericht im Fernsehen gesehen hat. Er hat aber aktuell keine Vorstellung davon, wie man Astrophysiker wird, und wirkt erstaunt, als man ihn darauf anspricht. Trotz mehrjähriger Ergotherapie weist Tobias neuromotorische Auffälligkeiten im Sinne eines «clumsy child» auf. Auch wirkt er insgesamt, als lebe er in seiner eigenen Welt, und schneidet immer wieder das Thema der Sternwarte auf Hawaii an; dann redet er ohne Punkt und Komma und hört nicht zu. Im Intelligenztest HAWIK-IV erreicht er einen IQ von 114, aber mit heterogenem Profil. Im FSK-Fragebogen bleibt er mit 12 Punkten unter dem Grenzwert von 15, im ADOS 3 kommt er auf 7 Punkte (Grenzwert 7 Punkte), im ADI ist er in allen drei Bereichen auffällig. Nach DSM-5 würde man seinen Fall als Autismus-Spektrum-Störung klassifizieren mit durchschnittlicher Intelligenz, normaler Sprachentwicklung sowie ohne medizinische oder genetische Besonderheiten.
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SCHWERPUNKT
• Autismusspezifische Abklärungen mit ADOS und ADI sind zeitaufwendig und stellen keine Notfallmassnahmen dar, wie zum Beispiel ein EEG bei Verdacht auf eine Epilepsie. Längere Wartezeiten für die Abklärungen sind deshalb vertretbar, auch wenn der Wunsch der Eltern nach möglichst rascher Klärung verständlich und nachvollziehbar ist.
• Die Diagnosestellung obliegt letztendlich einem im besten Fall multiprofessionell besetzten Autismuszentrum. Die weitere Betreuung und Begleitung fällt hingegen wieder in den Bereich des betreuenden Haus- oder Kinderarztes in Zusammenarbeit mit dem Zentrum und den weiteren beteiligten professionellen Helfern.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Elmar Keller Leitender Arzt Neuropädiatrie Kantonsspital Graubünden Departement für Kinder- und Jugendmedizin Loestrasse 170, 7000 Chur E-Mail: elmar.keller@ksgr.ch
Literatur: 1. Baird G et al. Prevalence of disorders of the autism spectrum in a population cohort in South Thames. Lancet 2006; 368: 210–215. 2. DSM 5. Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders 5th ed. American Psychiatric Association Washington DC. 3. Betancur C. Etiological heterogeneity in autism spectrum disorder. Brain Res 2011; 1380: 42–77. 4. Herbert MR. SHANK3, the synapse and autism. N Engl J Med 2011; 365 (2): 173–175. 5. Amiet C et al. Epilepsy in autism is associated with intellectual disability and gender. Evidence from a metaanalysis. Biol Psychiatry 2008; 64: 577–582. 6. Robins D et al. The modified checklist for autism in toddlers M-CHAT: An initial study investigating the early detection of autism and pervasive developmental disorders. J Autism and Develop Dis 2001; 31: 131–144. 7. Dumont-Mathieu T, Fein D. Screening for autism in young children. M-CHAT and other measures. Mental Retardation and Developmental Disabilities Research Reviews 2005; 11: 253–262. 8. FSK Deutsche Fassung des Social Communication Questionnaires (SCQ) von Rutter M., Bailey A und Lord C. Bezug über www.testzentrale.ch. 9. Le Couteur A, Lord C, Rutter M. The Autistic Diagnostic Interview Revised (ADI-R) Western Psychological Services 2003. Deutsche Fassung von Bölte S. et al., Bezug über www.testzentrale.ch. 10. ADOS Diagnostische Beobachtungsskala für Autistische Störungen. Deutsche Fassung des ADOS von Lord C et al, herausgegeben von Rühl D et al., Bezug über www.testzentrale.ch.
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