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SCHWERPUNKT
Autismus in der Schweiz
Was hat sich in den letzten zehn Jahren getan?
In den letzten zehn Jahren hat sich die «Autismus-Szene» der deutschen Schweiz sehr verändert. Viele neue Angebote sind entstanden, gleichzeitig ist aber auch die Nachfrage nach Untersuchungen, Beratungen und Therapie stark gestiegen. Der Artikel versucht einen Überblick über aktuelle Fragen und neue Entwicklungen zu geben – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. So hat sich auch in der Romandie und im Tessin viel getan, worauf im Folgenden jedoch nicht eingegangen wird.
Von Ronnie Gundelfinger
Meist ist der lokale KJPD erster Ansprechpartner für Kinder- und Hausärzte.
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Niemand weiss, wie viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit einer Autismus-Spektrum-Störung in der Schweiz leben. Entsprechende Untersuchungen fehlen. Ausländische Studien sind nicht ohne weiteres übertragbar und müssen bezüglich ihrer Methodik kritisch interpretiert werden. Die meisten Informationen kommen aus den USA, und diese Zahlen werden regelmässig in den Medien genannt. Das «Center for Disease Control» (CDC) publiziert alle zwei Jahre neue Daten, die in 14 Autismuszentren der USA erhoben werden. Bisher zeigte sich alle zwei Jahre eine deutliche Zunahme von 20 bis 25 Prozent, zuletzt wurde eine gemittelte Häufigkeit von 1,1 Prozent oder 1 betroffenes Kind auf 88 Kinder gemeldet. Diese Angaben sind aus verschiedenen Gründen problematisch. Es handelt sich um eine retrospektive Auswertung medizinischer und schulischer Unterlagen. Welche Unterlagen ausgewertet wurden, hatte einen direkten Einfluss auf die gefundenen Häufigkeiten. Es gab zwischen den Zentren auch grosse Unterschiede, und die Prävalenzen schwankten zwischen 0,5 und 2 Prozent. Generell ist zu sagen, dass bei verschiedenen Störungsbildern, zum Beispiel beim ADHS, die aus den USA gemeldeten Prävalenzen deutlich höher sind als in Europa. Aus diesem Grund scheint es berechtigt, bezüglich der Prävalenz der Autismus-Spektrum-Störung eine etwas zurückhaltende Position einzunehmen. Ich rechne deshalb mit einem Anteil von 0,6 bis 0,8 Prozent in der Schweizer Bevölkerung. Bezogen auf zuletzt etwa 80 000 Geburten pro Jahr kämen hierzulande jährlich 480 bis 640 Kinder mit einer autistischen Störung zur Welt; 25 bis 30 Prozent dieser Kinder haben eine schwere autistische Störung in Form eines frühkindlichen Autismus, also 120 bis 190 Kinder pro Jahr.
Gibt es eine Zunahme autistischer Störungen?
Die Häufigkeit der Diagnosen hat in den meisten Ländern zugenommen, wobei zum Beispiel in den amerikanischen Studien die Zunahme in erster Linie bei den weniger schwer betroffenen Kindern erkennbar ist. Für eine starke Zunahme der Anzahl von Kindern mit frühkindlichem Autismus gibt es wenig Anhaltspunkte. Extrem früh Geborene haben ein erhöhtes Risiko für autistische Störungen, und deren Zahl ist in der ganzen westlichen Welt kontinuierlich gestiegen. Verschiedene Studien zeigen, dass Kinder in Migrationsfamilien, vor allem aus Asien und Afrika, häufiger als erwartet von schweren autistischen Störungen betroffen sind. Dies deckt sich mit unserer klinischen Erfahrung. Durch die vermehrte Einwanderung könnte eine gewisse Zunahme der Häufigkeit entstanden sein.
Fortschritte bei der Diagnostik
Als der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst (KJPD) Zürich in Zusammenarbeit mit dem Elternverein «autismus deutsche schweiz» und der Stiftung «Kind und Autismus» 1999 die erste kinderpsychiatrische Fachtagung zum Thema Autismus organisiert hat, war die zuverlässige Diagnostik ein zentrales Anliegen der Eltern. Viele beklagten, jahrelang von einem Experten zum anderen geschickt worden zu sein, ohne dass die Diagnose einer autistischen Störung gestellt worden war. Diese Situation hat sich deutlich verändert. Nachdem zuerst die universitären Dienste in Bern, Basel und Zürich sowie der KJPD Aargau spezialisierte AutismusTeams aufgebaut hatten, gibt es nun in fast allen KJPD Mitarbeiterinnen, die eine kompetente Autismusdiagnose nach internationalen Standards mit ADOS (Autism Diagnostic Observation Schedule [dia-
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Trotz deutlich vergrösserten therapeutischem Angebots kommt es aufgrund gestiegener Nachfrage zu Wartezeiten.
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gnostische Beobachtungsskala für autistische Störungen]) und ADI (Autism Diagnostic Interview) durchführen. Die entsprechenden Ausbildungskurse am KJPD Basel haben dazu einen wichtigen Beitrag geleistet. Auch verschiedene neuropädiatrische oder entwicklungspädiatrische Zentren führen solche Untersuchungen durch. Dazu kommen einzelne niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater und -psychiaterinnen, die über grosse Erfahrung mit autistischen Kindern und Jugendlichen verfügen. Das grosse Interesse, das das Thema Autismus in den letzten Jahren bei Fachpersonen und in der Öffentlichkeit gefunden hat, führt zu einer stark gestiegenen Nachfrage nach Autismusabklärungen. Trotz deutlich vergrössertem Angebot kommt es deshalb leider zu Wartezeiten, die in den verschiedenen Zentren unterschiedlich lang sind.
Zu wenig Ressourcen für Beratung und Begleitung
Die Ressourcen für die Beratung und Begleitung betroffener Familien und die Behandlung der Kinder sind leider nicht parallel zur Diagnostik gewachsen. Es sind zwar an vielen Orten qualitativ hochstehende Projekte entstanden, aber es besteht bei weitem kein flächendeckendes Netz, und viele Familien suchen verzweifelt nach Hilfe. Es ist nicht möglich, alle beteiligten Stellen und Fachpersonen mit ihren Angeboten aufzuführen. In den meisten Fällen wird der lokale KJPD erster Ansprechpartner für Kinder- oder Hausärzte und -ärztinnen sein.
Intensive Frühintervention
Es besteht ein internationaler Konsens, dass junge Kinder mit schweren autistischen Störungen möglichst früh und intensiv behandelt werden müssen. Dabei kann man zwischen verhaltenstherapeutischen und spieltherapeutischen Modellen unterscheiden, wobei sich die «Schulen» im Lauf der letzten Jahre auch angenähert haben. Die Schweizer Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie hat vor kurzem ein Positionspapier zu diesem Thema veröffentlicht. Während in Ländern wie den USA oder Kanada solche Angebote vielen Familien zur Verfügung stehen, bestehen in der Schweiz noch wenige entsprechende Möglichkeiten.
Zürich: Frühintervention FIVTI
Am KJPD Zürich besteht seit 2004 ein Behandlungsangebot, das auf den Arbeiten von Lovaas und den Prinzipien der Verhaltensanalyse «Applied Behavioural Analysis» (ABA) aufbaut. Solche Behandlungen werden international als «Early Intensive Behavioural Intervention» (EIBI) bezeichnet. Das Zürcher Angebot heisst in Anlehnung daran «Frühe intensive verhaltenstherapeutische Intervention» (FIVTI) (www.kjpd.zh.ch/autismus). Die kindliche Entwicklung findet im sozialen Kontext statt. Gemeinsam mit den Bezugspersonen entdeckt das Kind die Welt. Vom ersten Lebenstag an findet eine intensive Kommunikation statt, im gemeinsamen Spielen und Handeln lernen Kinder. Dazu kommt ge-
naues Beobachten, Imitieren und selbstständiges Experimentieren. Da bei Kindern mit frühkindlichem Autismus diese Prozesse nur ansatzweise stattfinden, machen sie nur sehr langsame Entwicklungsschritte. Im FIVTI wird zuerst das Interesse des Kindes an der Interaktion geweckt und dann ein Lernumfeld geschaffen, das den Bedürfnissen autistischer Kinder entspricht. Im spielerischen, aber doch hoch strukturierten Kontakt mit den Therapeutinnen und den dazu ausgebildeten Eltern lernen die Kinder und machen in der Regel rasche Fortschritte. Um dieses Ziel zu erreichen, arbeiten unter der Leitung einer spezifisch ausgebildeten Psychologin Studentinnen und Studenten 25 bis 35 Stunden in der Woche mit dem Kind. Das individuell auf das Kind zugeschnittene Programm wird zu Hause durchgeführt. Die hohe Stundenzahl ist nötig, weil nicht autistische Kinder einen grossen Teil ihrer Wachzeit mit Aktivitäten verbringen, die zum Lernen und zur Entwicklung beitragen. Letztlich soll das autistische Kind befähigt werden, wie andere Kinder aus der natürlichen Umgebung zu lernen. Das Ziel der Therapie ist die bestmögliche Entwicklung des Kindes in den Bereichen Kognition, Kommunikation und Sprache, soziale Interaktion und emotionale Entwicklung, Motorik, Selbsthilfe und Alltagsfertigkeiten. Übergeordnetes Ziel ist das Erreichen einer möglichst hohen Selbstständigkeit in allen Alltagsbereichen und die Integration in einen Regelkindergarten. Die Eltern sollen befähigt werden, dem Kind alltagspraktische Fertigkeiten selbstständig beizubringen, mit dem Kind zu kommunizieren und es zu sinnvoller Freizeitgestaltung anzuleiten. Es gibt verschiedene Fachpersonen, die Förderprogramme auf der Basis von ABA anbieten. Am wichtigsten ist sicher «autismus approach» (www.autismus-approach.ch), ein Team, das viele Familien in der gesamten deutschen Schweiz betreut.
Basel: Frühintervention FIAS
Seit 2011 wird von der KJPK Basel das FIAS Intensivprogramm (Frühintervention bei autistischen Störungen) im Therapiezentrum in Muttenz durchgeführt. Es basiert auf dem israelischen Mifne-Ansatz und richtet sich an Kinder im Alter von 11/2 bis 4 Jahren und deren Familie. In einer dreiwöchigen Intensivphase lebt die ganze Familie in einer vom Therapiezentrum bereitgestellten Wohnung in Muttenz. Das Kind wird in einem reizarmen Raum mit spieltherapeutischen Methoden bis zu 6 Stunden am Tag gefördert. Über das Spiel wird die Motivation des Kindes für sozialen Kontakt geweckt. Ziel ist die nachhaltige Verbesserung der autistischen Symptomatik. Auch die nicht betroffenen Geschwister werden intensiv begleitet. Bei den Eltern wird das Verständnis für die Eigenheiten des autistischen Kindes gefördert. Durch intensive Beobachtung der therapeutischen Arbeit im Raum durch einen Einwegspiegel erkennen die Eltern Möglichkeiten, das Verhalten des Kindes zu beeinflussen und seine Entwicklungsmöglichkeiten zu verbessern. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Interaktion und Beziehungsgestaltung. Auch die Selbstständigkeit des Kindes in den Alltagsaktivitäten wird gefördert.
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Die Eltern sind nach der Intensivphase in der Lage, mit dem Kind therapeutisch weiterzuarbeiten. Dabei sollten 1 bis 2 Therapiesequenzen pro Tag durchgeführt werden. Die Familie wird während eines Jahres durch einen Therapeuten oder eine Therapeutin aus dem FIAS-Team begleitet, dies in enger Zusammenarbeit mit weiterbetreuenden Fachstellen. Ziel ist unter anderem eine soziale Integration des Kindes, zum Beispiel in eine Spielgruppe oder einen Kindergarten. Es besteht die Möglichkeit einer «Fresh-up-Woche» zur Intensivierung der therapeutischen Arbeit (www.autismus-fias.ch).
Autismuszentrum Riehen
Im Autismuszentrum der GSR (Gehörlosen- und Sprachheilschule Riehen/BS, www.gsr.ch) erhalten 5 Kinder im Alter von 2 bis 5 Jahren während mindestens einem Jahr eine intensive Autismus-spezifische Förderung von 15 bis 18 Stunden pro Woche. Das Team besteht aus Heilpädagoginnen, Logopädinnen und Ergotherapeutinnen. Der intensive Austausch unter den Fachpersonen ermöglicht einen grösseren Therapieerfolg. Die Kinder werden zu Beginn einzeln, dann aber möglichst schnell auch in kleinen Gruppen gefördert. Neben der Frühförderung im Zentrum erhalten die Eltern für den Alltag mit ihren Kindern gezielte Unterstützung (zu Hause, Spielplatz, Einkaufen…). Ein wichtiges Ziel ist die Integration der Kinder in einen Regelkindergarten. Darauf wird im Verlauf des Jahres gezielt hingearbeitet, unter anderem auch durch die Beratung und das Coaching der anschliessend verantwortlichen Fachpersonen.
Sozialtrainings und Gruppen
Zur Förderung von sozialen Kompetenzen eignen sich Gruppen in besonderem Masse. Solche Angebote bestanden im englischen Sprachraum schon seit langem und haben in den letzten Jahren auch in der Schweiz Verbreitung gefunden. Während bei jüngeren Kindern (6 bis 12 Jahre) das gemeinsame Erleben von Alltagsaktivitäten und das gemeinsame Spiel wichtige Lernimpulse vermittelt, geht es bei den Jugendlichen eher um das kognitive Erarbeiten wichtiger kommunikativer Inhalte. Das Angebot an Sozialtrainings hat in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen.
KOMPASS: Training für Jugendliche
Ein Beispiel ist das in Zürich entwickelte Gruppentraining KOMPASS (Kompetenztraining für Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen) für Jugendliche mit leichteren autistischen Störungen und normaler Intelligenz (Asperger-Syndrom, «high functioning autism»). Das Gruppentraining KOMPASS geht themenorientiert vor und konzentriert sich im Basistraining auf fol-
*KOMPASS – Zürcher Kompetenztraining für Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen. Ein Praxishandbuch für Gruppen- und Einzelinterventionen. Von Hans-Christoph Steinhausen, Martina Isenschmid, Philippe Goetschel und Bettina Jenny. ISBN-10:3-17-021458-6; EAN: 9783170214583; Kohlhammer Verlag Stuttgart, 2010
gende Themen: Emotionen, soziale Kommunikation (Small Talk), nonverbale Kommunikation wie auch Förderung des Perspektivenwechsels und der Empathie. Das KOMPASS-Programm dauert 8 Monate und wird in Zürich jeweils von November bis Juli mit wöchentlichen Sitzungen durchgeführt. Danach können die Jugendlichen noch am Fortgeschrittenentraining teilnehmen, das sich auf komplexe Kommunikation, komplexe Interaktionen und «Theory-of-Mind» konzentriert. Rückmeldungen der betroffenen Jugendlichen, ihrer Eltern, aber auch von anderen Bezugspersonen wie Lehrpersonen oder Ausbildern sind sehr ermutigend. Es sind deutliche Veränderungen im Verhalten erkennbar, die sich auch auf den Alltag übertragen. Die bisherige Evaluation zeigt eine bedeutende Abnahme der autistischen Symptomatik und eine wesentliche Zunahme der sozialen Fertigkeiten. Das KOMPASS-Programm ist als Buch* erschienen und wird in verschiedenen kinderpsychiatrischen Diensten angewendet.
TAU: Schulung für Eltern und Kinder
Als Beispiel für ein innovatives Projekt soll das TAU (TEACCH, Affolter-Modell, unterstützte Kommunikation) der «Arbeitsgemeinschaft für Probleme bei Wahrnehmungsstörungen» APW (www.apwschweiz.ch) erwähnt werden. Den Eltern eines autistischen Kindes werden an vier Ausbildungswochenenden Informationen zu autistischen Störungen und den drei genannten Förderansätzen vermittelt und dann in einer Praxiswoche mit den Eltern und dem betroffenen Kind eingesetzt. Pro Kurs können zwölf Familien aufgenommen werden, verteilt auf zwei Praxiswochen mit je sechs Familien. Der Kurs stellt die individuelle Situation der Familien ins Zentrum. Während der Kurstage werden gemeinsam mit den Eltern alternative Handlungs- und Kommunikationsstrategien geplant, die sie in ihren Alltag übernehmen können. Die Praxiswoche dient dabei als praktisches Übungsfeld. In gemeinsamen Sitzungen der beteiligten Eltern und Fachpersonen werden die Erfahrungen aufgearbeitet. Während der Woche findet auch ein Programm für Geschwister statt. Die autistischen Kinder werden während der Kurswochenenden und der Praxiswoche durch Studenten der Universität Fribourg betreut. Der nächste Kurs ist für den Herbst 2014 geplant.
DVD zur Schulung der Emotionserkennung
Das Team vom Prof. Simon Baron-Cohen, einem weltbekannten Autismusexperten am «Autism Research Centre» in Cambridge, hat eine DVD entwickelt, die jungen autistischen Kindern helfen soll, Emotionen besser zu erkennen. Die «Transporters» sind Fahrzeuge mit menschlichen Gesichtern, die kurze Abenteuer und die damit verbundenen Emotionen erleben. Eine erste Studie hat gezeigt, dass autistische Kinder durch das regelmässige Schauen der DVD (15 Minuten pro Tag für 4 Wochen) ihre Kompetenzen in der Emotionserkennung deutlich verbessern können. Die
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Es gibt qualitativ hochstehende Projekte, aber noch kein flächendeckendes Netz zur Begleitung der Familien.
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DVD wurde in Zusammenarbeit mit dem KJPD Zürich übersetzt und kann über den Elternverein (www.autismus.ch) bezogen werden.
Schule und Universität
Im Bereich der Schule haben für Kinder mit besonderen Bedürfnissen grosse Veränderungen stattgefunden. An vielen Orten wurden Sonderklassen geschlossen. Kinder mit Entwicklungsstörungen oder Behinderungen sollen vermehrt integriert in Regelschulen gefördert werden. Viele Eltern wünschen sich für ihre Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung eine integrative Schulung. Dieses anspruchsvolle Projekt wird mit unterschiedlichen Modellen umgesetzt. An manchen Orten werden drei bis vier Kinder in Integrationsklassen zusammengefasst, andernorts werden einzelne Kinder mit zum Teil intensiver Einzelbegleitung in Regelklassen unterrichtet. Auch heilpädagogische Klassen werden vermehrt in Regelschulhäusern geführt, um den Kindern mehr Kontakt zu «normal» entwickelten Altersgenossen zu ermöglichen.
Der Elternverein «autismus schweiz» ist nach wie vor die Schaltstelle für alle Bemühungen im Bereich Autismus in der Schweiz.
Verschiedene Beratungsstellen, wie zum Beispiel das Step-by der Schule der Stiftung Kind und Autismus in Urdorf (www.step-by.ch), der Autismus-Approach (www.autismus-approach.ch) oder die Beratungsstelle der Nathalie-Stiftung (beratungsstelle@nathaliestiftung.ch) begleiten Schulleitungen und Lehrpersonen bei dieser komplexen Aufgabe. Daneben werden weiterhin viele Kinder mit schweren autistischen Störungen in heilpädagogischen Schulen unterrichtet. Dazu kommen Schulen, die sich auf Kinder mit diesem Störungsbild spezialisiert haben, unter anderem in Urdorf (www.kind-autismus.ch), die Sonnhalde in Gempen (www.sonnhalde.ch) oder die Nathalie-Stiftung in Gümligen (www.nathaliestiftung.ch). Ein wichtiges Thema ist der Nachteilsausgleich, der Schülern mit einer Autismus-Spektrum-Störung eine störungsspezifische Unterstützung im Unterricht er-
möglicht. Universitäten, ETH und Fachhochschulen haben zum Teil spezifische Beratungs- und Unterstützungsangebote für Studenten mit einer AutismusSpektrum-Störung.
Berufsausbildung
Für Jugendliche und junge Erwachsene stellt der Eintritt in die Arbeitswelt eine grosse Hürde dar. Es gibt nur wenige Arbeitsplätze, an denen beispielsweise Menschen mit Asperger-Syndrom ihre Fähigkeiten umsetzen können und ihre besonderen Bedürfnisse berücksichtigt werden. Erste Ausbildungsprojekte im Bereich Informatik für Asperger-Jugendliche sind entstanden (www.informatik-und-autismus.ch). «Autismus-Link» in Zollikofen bietet jungen Erwachsenen mit einer autistischen Störung verschiedene Dienstleistungen zur beruflichen Integration (www.autismuslink.ch). Die meisten Angebote werden in Zusammenarbeit mit der IV realisiert, die sich vermehrt bemüht, Jugendlichen mit einer Autismus-SpektrumStörung den Berufseinstieg zu ermöglichen.
Elternverein «autismus schweiz»
Der Elternverein «autismus schweiz» ist nach wie vor die Schaltstelle für alle Bemühungen im Bereich Autismus. Als Behindertenorganisation wird er vom Bundesamt für Sozialversicherungen unterstützt und vertritt die Anliegen der Menschen mit Autismus auf politischer Ebene. Die etwa 1500 Mitglieder sind in drei Sektionen organisiert: «autismus deutsche schweiz», «autisme suisse romande» und «autismo svizzera italiana». In den letzten 15 Jahren fanden eine deutliche Professionalisierung der Vereinsarbeit und ein kontinuierlicher Ausbau des Angebots statt. «autismus deutsche schweiz» organisiert unter anderem zwei ganztägige Weiterbildungsveranstaltungen für Eltern, Betroffene und Fachpersonen, oft begleitet von Workshops, Ferienlager und Wochenenden, oder ein Sozialtraining für Menschen mit Asperger-Syndrom. Der Verein publiziert regelmässig Unterlagen, um die Öffentlichkeit besser über das Thema Autismus zu informieren oder den betroffenen Familien wichtige Informationen zugänglich zu machen. Auf der Homepage www.autismus.ch finden Eltern und Fachpersonen ausserdem Veranstaltungshinweise, einen Bücher- und Schriftenversand sowie den Newsletter. Neben dem Elternverein sind regionale Organisationen entstanden. Die Autismushilfe Ostschweiz (www.autismushilfe.ch) besteht seit 10 Jahren und bietet einerseits über eine Beratungsstelle eine wichtige Hilfe für Betroffene und deren Umfeld, andererseits ein umfangreiches Weiterbildungsangebot zum Thema Autismus. Noch jung ist die Aspergerhilfe Nordwestschweiz (www.aspergerhilfe.ch), die unter anderem die schulische und berufliche Integration von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Asperger-Syndrom fördern und mit Weiterbildungsveranstaltungen das Wissen über dieses Störungsbild verbreiten will. Alle Vereine führen oder unterstützen Selbsthilfegruppen betroffener Eltern.
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Internet
Das Internet ist für Autismus-Betroffene, aber auch für ihre Angehörigen, zu einer bedeutsamen Kommunikationsform geworden. Im Ausland gab es schon viele Jahre entsprechende Foren, vor allem für Menschen mit Asperger-Syndrom. In der Schweiz hat das Autismusforum (www.autismusforumschweiz.ch) diese Lücke geschlossen. Das Forum ist eine Austausch- und Informationsplattform für Menschen mit Autismus und ihre Angehörigen sowie für Fachleute und alle Interessierten. Es werden unter anderem praktische Fragen zum Alltag diskutiert, Veranstaltungen bekannt gemacht und Bücher empfohlen. Moderatoren sichern die Qualität der Inhalte und geben fachlichen Input.
Ausblick
Im Bereich Autismus hat sich in den letzten Jahren viel verändert. Das Thema hat in den Medien viel Raum eingenommen (Kinofilme, TV-Serien, Autobiografien …). Dabei stehen Betroffene mit leichteren autistischen Störungen (Asperger-Syndrom) im Vordergrund. Es entsteht dabei oft das Bild von etwas schrägen Einzelgängern mit besonderen Fähigkeiten, sogenannten «Nerds». Dabei besteht die Gefahr, dass
Menschen mit schwerem Autismus mit ihren grossen Problemen in Alltag, Schule und Beruf in den Hintergrund geraten. Es gibt gute Angebote, die aber noch viel zu wenig Eltern zur Verfügung stehen. Nach einer Interpellation von Ständerat Hêche hat Bundesrat Berset das Thema der Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus auf die politische Agenda gesetzt. Ein vom BSV eingesetztes und von Fachpersonen begleitetes Forscherteam soll die nötige Bestandesaufnahme durchführen, aus der dringend nötige Verbesserungsvorschläge abgeleitet werden sollen. Gleichzeitig bemüht sich das BSV in Zusammenarbeit mit den Kantonen um Finanzierungsmöglichkeiten für die intensive Frühbehandlung, deren Kosten bis jetzt noch ungenügend gedeckt sind.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Ronnie Gundelfinger Leitender Arzt KJPD Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie Universität Zürich Neumünsterallee 3, 8032 Zürich E-Mail: ronnie.gundelfinger@kjpdzh.ch
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