Transkript
PSYCHIATRIE
Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen
Interview mit Prof. Dr. med. Susanne Walitza, Zürich
Gemäss DSM-V werden Zwangsstörungen neu als eigenständige diagnostische Gruppe eingeordnet. Darüber hinaus muss die Einsicht des Patienten neu eingeschätzt werden. Wir sprachen mit Prof. Dr. med. Susanne Walitza, Ärztliche Direktorin, Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Zürich, darüber, was diese neue Klassifikation für die Therapie bedeutet.
P ÄDIATRIE: Frau Prof. Walitza, ist die neue Klassifikation der Zwangsstörungen im DSM-V für eine erfolgreiche Therapie von Bedeutung? Prof. Dr. med. Susanne Walitza: Das DSM-V ist im Vergleich zu ICD-10 bezüglich des Themas Einsicht schon immer differenzierter gewesen. Bei der ICD-10 ist es beispielsweise nur ein Zwang, wenn der Patient die Einsicht dafür hat, dass der Zwang unsinnig ist. Das ist wichtig für die Abgrenzung zu Psychosen, bei denen diese Einschätzung nicht mehr gelingt. Im DSM-V wird die Einteilung je nach vorhandener Einsicht – Ja/Nein/wenig – in die Unsinnigkeit der Zwänge differenziert. Das hat nicht nur eine diagnostische, sondern auch eine therapeutische Relevanz. Beim Jugendlichen und beim Erwachsenen ist die mangelnde Einsicht prognostisch ungünstig, weil sich zum Beispiel eine kognitiv-behaviorale Therapie mit Exposition – die wirksamste Therapie – nicht planen lässt. Bei Kindern hingegen steigt die Einsichtsfähigkeit nach unseren Beobachtungen um jährlich 15 Prozent. Ein 5-jähriges Kind ohne Einsicht kann demnach mit 10 Jahren durchaus eine Krankheitseinsicht entwickelt haben. Deshalb befürworte ich die Differenzierung des DSM-V im Vergleich zur ICD-10 in gute, mangelnde oder fehlende Einsicht.
Reicht das Kriterium Einsicht, um Komorbiditäten abzugrenzen? Walitza: Dafür bedarf es eines klinischen Gesprächs und entsprechend standardisierter Erhebungsinstrumente, wie der Untersuchung mit der Childrens YaleBrown Obsessive Compulsive Scale (CY-BOCS), mit der man den Schweregrad der Zwänge misst und die mit dem Kind oder den Eltern gemeinsam durchgeführt wird, sowie ausführlicher Interviews zur Abgrenzung anderer psychischer Störungen. Komorbiditäten sind beim Zwang die Regel, nicht die Ausnahme. Angaben
DSM-V: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders V, American Psychiatric Association; ICD-10: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems der WHO.
zur Komorbidität beim Zwang schwanken zwischen 68 und 100 Prozent. Es finden sich Angststörungen, depressive Störungen, die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung und mit zunehmendem Alter auch Persönlichkeitsstörungen. Wir klären auch umschriebene Entwicklungsstörungen ab, denn es kann sein, dass Kinder einen Zwang aufgrund einer Lese- und Schreibschwäche entwickeln. Zwangssymptome können zudem in engem Zusammenhang mit Infektionen durch beta-hämolysierende Streptokokken auftreten. Und dann ist natürlich die familiäre Belastung abzuklären, damit psychosoziale Belastungsfaktoren erkannt werden. Das hört sich mühsam und aufwendig an, aber wir schaffen diese Form der Abklärung in der Regel innerhalb von zwei Sitzungen.
Wie lassen sich Tic und Tourette vom Zwang unterscheiden? Walitza: Tic und Tourette sind einschiessende, rhythmische, unwillkürliche Bewegungen oder Lautäusserungen, die keinen Zweck verfolgen. Teilweise sind sie vom Zwang ohne Einsicht nur schwierig abzugrenzen. Wir behandelten eine Patientin, die ihre Arme beim Hüpfen immer ausgebreitet hat, weil sie ihre Haarschuppen auffangen wollte. Erst durch die genaue Abklärung konnten wir feststellen, dass ihr Hüpfen einem Tic entsprach, das Hüpfen mit den ausgebreiteten Armen jedoch einer Zwangsstörung zugeordnet werden konnte.
Die kognitiv-behaviorale Therapie (KBT) mit Exposition ist die Therapie der ersten Wahl. Wann braucht es eine Kombination mit Medikamenten? Walitza: Eine Kombinationstherapie setzen wir dann ein, wenn die Exposition nicht möglich oder/und der Schweregrad des Zwanges erheblich ist, zum Beispiel wenn der Zwang den Schulbesuch oder sogar die Nahrungsaufnahme unmöglich macht. Selektive Serotoninwiederaufnahme-Hemmer sind im Kindesund Jugendalter aufgrund ihrer guten Verträglichkeit und Effektivität Medikamente der ersten Wahl. Die Edukation findet immer begleitend statt.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Susanne Walitza, Ärztliche Direktorin, Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universität Zürich Susanne.Walitza@kjpdzh.ch
Komorbiditäten sind beim Zwang die Regel, nicht die Ausnahme.
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Die heutigen therapeutischen Optionen sind bereits sehr gut.
Insgesamt werden Antidepressiva sehr zurückhaltend bei Kindern verordnet. Warum? Sind die Eltern übermässig kritisch? Walitza: Die Eltern sind eher weniger kritisch gegenüber den Medikamenten eingestellt. Oftmals fragen sie sogar, ob eine medikamentöse Behandlung nicht sinnvoll wäre. Die Psychotherapie, das heisst die KBT in Kombination mit der Exposition mit Reaktionsverhinderung, ist allerdings nachweislich effektiver, und sie führt dazu, dass die Kinder längerfristig stabil bleiben. Eine rein medikamentöse Behandlung ist daher nicht üblich. Eine Ausnahme bilden Kinder und Erwachsene mit einer genetisch und biologisch bedingten Vulnerabilität. Eine Studie aus dem Jahr 2010 hat gezeigt, dass bei dieser Subgruppe mit ebenfalls an Zwang erkrankten Verwandten die alleinige medikamentöse Behandlung wirksamer sein kann.
An wen sollen sich betroffene Eltern wenden? Walitza: Bei Verdacht auf eine Zwangserkrankung sollten sich Eltern an den Pädiater oder an den Kinder- und Jugendpsychiater wenden. Die Therapie ist – ausser der Medikation – beim Kinder- und Jugendpsychiater oder beim spezialisierten Psychologen möglich. In unserer Sprechstunde stellen wir fest, dass auch aufseiten der Psychiater Vorbehalte und Ängste gegenüber der Exposition bestehen. Wir wissen, dass die Exposition sehr aufwendig ist. Man muss beim Kind bleiben, bis sich seine Angst reduziert hat. Das ist nicht planbar und kann bis zu mehreren, zum Beispiel vier Stunden dauern. Hinzu kommt, dass die Wucht, die dem Therapeuten bei der Exposition entgegenkommen kann, enorm ist und sogar beängstigend sein kann. Kinder verhalten sich oft sehr expansiv. Deshalb werden Expositionen nur in sehr kleinen Schritten vorgenommen und gut mit dem Kind vorbesprochen. Das Erfolgserlebnis ist aber eindrücklich, wenn das Kind spürt, dass es sich dem Zwang nicht mehr unterwerfen muss. Deshalb würde ich es sehr begrüssen, wenn sich vermehrt niedergelassene Psychiater und Psychologen diese Behandlung zutrauen oder zumuten würden. Neben Fachwissen ist auch Kreativität gefragt, was für den Therapeuten eine schöne und befriedigende Herausforderung sein kann. Dr. Veronika Brezinka hat an unserem Institut beispielsweise das Computerspiel «Ricky and the Spider» für Kinder mit Zwangsstörun-
Weitere Informationen zu Zwangsstörung, Tic und Tourette
• Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Gunilla Wewetzer und Christoph Wewetzer, Hofgrefe-Verlag, ISBN-10:3-8017-2343-7; Fr. 52.90.
• Computerspiele für Kinder mit Zwangsstörungen: www.rickyandthespider.uzh.ch • Der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst des Kantons Zürich bietet eine Spezi-
alsprechstunde für Kinder und Jugendliche mit Zwang, Tic und Tourette an. Info-Tel. 043-499 26 26, E-Mail: info.tic-zwang@kjpdzh.ch Eine Anmeldung ist auch über die Regionalstellen möglich: www.caps.uzh.ch • Die Universitätsklinik Zürich sucht noch Jugendliche im Alter von 12 bis 16 Jahren und Erwachsene im Alter von 21 bis 45 Jahren für eine Forschungsstudie, die Grundlagen von Zwangsstörungen und ADHS untersucht. Info-Tel. 043-556 40 65, E-Mail: studies@kjpd.uzh.ch
gen entwickelt, welches sehr kindgerecht und verhaltenstherapeutisch arbeitet.
Sind die neuen Empfehlungen verbindlich? Walitza: Die neuen Empfehlungen sind juristisch nicht verbindlich, sie geben allerdings die evidenzbasierten Kriterien der State-of-the-Art-Behandlung wider. Wir empfehlen daher, sich an ihnen zu orientieren. Allerdings weisen 70 Prozent der Patienten mit einer Zwangsstörung zusätzlich eine andere psychische Störung auf, für deren kombiniertes Vorliegen keine Behandlungsempfehlungen oder Leitlinien vorliegen. Deshalb ist es besser, von Empfehlungen zu sprechen, die dem Behandler den Freiraum für die eigene Expertise lassen. Weicht man allerdings komplett von den Empfehlungen ab, sollte sich der behandelnde Arzt fragen, ob seine Vorgehensweise dann noch dem State of the Art entspricht. Die empfohlenen Kernelemente von KBT und Exposition sollten in der Therapie enthalten sein, damit der Patient nicht länger an seiner Krankheit leidet als nötig.
Sie haben einmal kritisiert, dass es zu lange dauert, bis die Kinder mit Zwangsstörungen in die Behandlung kommen. Was sollte sich verbessern? Walitza: Bei den Kindern dauert es durchschnittlich 2, bei den Erwachsenen 8 Jahre bis sie in Behandlung kommen. Uns ist das trotzdem nicht früh genug, denn je früher der Zwang erkannt wird, desto erfolgreicher kann die Therapie sein, und der Zwang hat weniger Chancen, sich auszubreiten und zu chronifizieren. Vor allem sind aber 2 Jahre für die Entwicklung des Kindes oft relevanter als der gleiche Zeitraum beim Erwachsenen. Uns ist wichtig, dass sich Eltern melden, wenn sich das Kind stark verändert oder es den Alltag aufgrund des Zwangs nicht mehr bewältigen kann. Eltern erzählen in unserer Sprechstunde, das Kind müsse die Schultasche 30-mal ein- und wieder auspacken, weshalb es zu spät zur Schule komme. Oder täglich werden 20 Shampoos verbraucht. Dermatologen und Pädiater sollten deshalb ebenfalls hellhörig werden, wenn Kinder mit Ekzemen in die Praxis kommen.
Welche neuen Interventionen gibt oder braucht es? Walitza: Die heutigen therapeutischen Optionen sind bereits sehr gut. Allerdings chronifizieren Zwänge sehr häufig, und da wären weitere Therapieoptionen wünschenswert. Bildgebende Verfahren weisen darauf hin, dass der Zwang ähnliche Kreisläufe im Gehirn aufweist wie die Tic-Störung. Das hat aber noch zu keiner Therapie geführt. Die erste Wahl sind und bleiben die serotonerg wirksamen Medikamente, die SSRI. Eine zukunftsträchtige Bedeutung kommt beispielsweise dem glutamatergen System zu. D-Cycloserin, das ein partieller NMDA-Agonist ist, verbesserte in einer Studie die Extinktion von erlernter Angst. Die Wirkung trat schnell ein, allerdings nicht anhaltend. Neuere Entwicklungen sind noch weit davon entfernt, so gut zu sein wie die SSRI oder gar die oben genannte Verhaltenstherapie.
Das Interview führte Annegret Czernotta.
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