Transkript
KONGRESSHEFT
Praxispädiatrie der Zukunft
Was erwartet Ärzte und Patienten in 20 Jahren?
Zwei klare Trends zeichnen sich für die Zukunft der Praxispädiatrie ab: Es wird mehr Ärztinnen als Ärzte geben und mehr Gruppen- als Einzelpraxen. Ausserdem gibt es Anzeichen für einen drohenden Praktikermangel in der Pädiatrie. An einer Podiumsdiskussion am SGP-Kongress in Genf wurde auch deutlich, dass der Ärztenachwuchs die Selbstständigkeit anscheinend eher scheut als anstrebt.
Dr. med. Jessica BonhoefferTempleton, Kantonsspital, Kinderklinik Luzern
Dr. med. Stefan Roth, Praxis in Bern/Köniz
Prof. Dr. med. Thomas Neuhaus, Kantonsspital, Kinderklinik Luzern
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In einer vor zwei Jahren durchgeführten OnlineUmfrage* unter den Pädiatern der Schweiz, in Praxis und Spital sowie in Weiterbildung, zeichnete sich ein deutlicher Trend ab, wie Jessica Bonhoeffer-Templeton, Kinderklinik Luzern berichtete: Man sucht Nachfolger für Einzelpraxen, gewünscht aber werden Gemeinschaftspraxen. Auch die Neigung zum Angestelltendasein ist beim Ärztenachwuchs recht weit verbreitet. Nach Angaben der FMH arbeiten zurzeit etwa zwei Drittel der Schweizer Kinderärzte in der Praxis. Geht es nach den Wünschen der Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung, dürfte sich auch künftig nicht viel daran ändern. In der Umfrage gaben 60 Prozent die Praxis als Berufsziel an. Die meisten wollen dort aber nicht ohne ärztliche Kollegen sein: 70 Prozent derjenigen, die sich künftig als Praxispädiater sehen, möchten in einer Gruppenpraxis arbeiten (Abbildung 1). Viele von ihnen könnten sich auch gut vorstellen, angestellt und nicht selbstständig zu sein: «Es steht ein Systemwechsel an.» Auf die Frage, ob künftig auch in der Praxispädiatrie – wie bei den Hausärzten – ein Mangel drohe, gibt es noch keine eindeutige Antwort. «Die Zahlen sprechen nicht dafür», sagte Bonhoeffer-Templeton, aber es gebe gewisse Hinweise für einen Mangel an niedergelassenen Kinderärzten in der Zukunft (Abbildung 2). Wie in anderen medizinischen Fachbereichen sei auch in der Pädiatrie eine «Feminisierung» zu beobachten: Es wird mehr Pädiaterinnen als Pädiater geben. Schon 2008 gab es in der Humanmedizin ein Verhältnis von 60:40 (Frauen vs. Männer) bei den Abschlüssen, und in der Pädiatrie sei diese Schere schon früher aufgegangen, sagte Bonhoeffer-Templeton. Frauen arbeiteten häufiger Teilzeit, sodass in der Summe weniger Kapazität zur Behandlung von Patienten vorhanden ist. Jessica Bonhoeffer-Templeton wies darauf hin, dass bereits jetzt viele Kinderarztpra-
*Nationale Umfrage zum Nachwuchs in der Praxispädiatrie; zwei Masterarbeiten an der Universität Zürich 2012 von Eva Wehrli und Patrizia Schön unter der Leitung von Oskar Jenni.
xen keine neuen Patienten mehr aufnähmen, sondern allenfalls noch Geschwisterkinder.
Praxispädiater als erster Ansprechpartner der Eltern
Stefan Roth, Kinderarzt mit eigener Praxis in Köniz/Bern, ist überzeugt davon, dass es den Praxispädiater auch in 20 Jahren überall noch geben wird, denn «die Eltern wollen einen Ansprechpartner». Sicher werde es aber mehr Gruppenpraxen geben. Prof. Thomas Neuhaus, Chefarzt der Kinderklinik am Kantonsspital Luzern, schätzt die Zukunft etwas anders ein. Er glaubt, dass auf dem Land primär die Hausärzte auch die pädiatrische Grundversorgung übernehmen und in der Stadt mehr Gruppenpraxen eröffnet werden. Da diese allerdings nur von 8 bis 18 Uhr verfügbar sein dürften, muss der Dienst in der restlichen Zeit von den Notfallambulanzen am Spital übernommen werden. Samuel Lüthold, zurzeit noch als Assistenzarzt am HUG tätig, freut sich schon darauf, dass er bald mit einer Kollegin in einer Gruppenpraxis arbeiten wird. Er kann sich aber durchaus vorstellen, auch telefonischen Bereitschaftsdienst für Notfälle zu leisten. «Ich kann mir gar nichts anderes als eine Gruppenpraxis vorstellen», sagte Russia Hà-Vinh, die bereits in einer Gruppenpraxis in Onex arbeitet. Sie sieht die Sache mit dem einen Ansprechpartner für die Eltern offenbar als nicht so wichtig an und bezeichnete das Bedürfnis nach «meinem» Kinderarzt als «etwas altmodisch». Sie glaube vielmehr, dass die Hausärzte schon jetzt die ersten Ansprechpartner für die Kinder seien und nur die komplizierten Fälle noch an den Pädiater überwiesen würden. Möglicherweise zeigte sich hier aber auch eine neue Variante des Röstigrabens.
Lieber angestellt als selbstständig
Auf die zweifelnde Frage aus dem Auditorium, ob sich denn eine Gruppenpraxis und noch dazu mit Teilzeitarbeit überhaupt rechnen könne, antwortete Hà-Vinh, dass das Geld für die jungen Kolleginnen und Kollegen nicht so wichtig sei.
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KONGRESSHEFT
Abbildung 1: Praxiswunsch der (noch) Spitalärzte und aktuelle Praxiswirklichkeit (gem. Umfrage*).
zum Beispiel auf Fortbildung und Einsatz in der Notfallpraxis des Kinderspitals. Er sei zwar ein grosser Anhänger des Unternehmertums, so Neuhaus, aber man müsse die Realität akzeptieren. Nach seiner Erfahrung wollten 8 von 10 Ärztinnen lieber angestellt sein als selbstständig. Oskar Jenni vom Kinderspital Zürich, der Moderator der Podiumsdiskussion, bestätigte diese Erfahrung. Es sei nun einmal so, dass viele junge Kollegen das vom Spital gewohnte Angestelltsein gerne auch in der Praxis weiterziehen wollten. Er nannte als Beispiel den grossen Erfolg einer Zahnarztpraxiskette in der Schweiz: «So etwas könnte auch einmal in der Pädiatrie kommen.» Für ihn stelle sich hier eher die Frage, wie man den Schweizer Qualitätsanspruch in solchen Firmenmodellen sicherstellen kann. SGP-Past-Präsident Christian Kind kommentierte diesen Aspekt aus dem Auditorium heraus: Der Trend zum Angestelltendasein komme so oder so, und man müsse Einfluss auf die Vertragsgestaltung nehmen. Er sehe hier allerdings eher die FMH in der Pflicht als einzelne Fachgesellschaften.
Samuel Lüthold, HUG Genf
Abbildung 2: Praxisübergaben und -übernahmen (gem. Umfrage*).
Informativer war die Antwort von Oliver Adam, der selbstständig in einer Gruppenpraxis in Solothurn gemeinsam mit fünf Ärzten arbeitet. Finanziell sei das kein Problem, wenn man sich gut organisiere und nicht allzu viele Tätigkeiten outsource: «Wir leben gut, und wir alle arbeiten Teilzeit.» Erstaunt und sogar ein wenig erschüttert äusserte sich Adam zum Hang zum Angstelltsein, der sich in der Umfrage gezeigt hatte: «Keine Angst vor der Selbstständigkeit!» Er könne jedem Kollegen und jeder Kollegin nur raten, die Eigenständigkeit zu wahren und sein eigener Chef zu sein. Die grossen Kliniken sollten die jungen Leute zur Selbstständigkeit ermutigen und sie zu «selbstständigen, stolzen und eigenständig denkenden Pädiatern» machen. Der selbstständig arbeitende Kinderarzt Stefan Roth pflichtete seinem Kollegen energisch bei. Die verständliche Angst vor der Selbstständigkeit sei nicht begründet. Eine Praxis laufe wirtschaftlich, und «es ist immer besser, wenn man sein eigener Chef bleibt». Roth rief pensionswillige Praxisinhaber dazu auf, ihre Praxen nicht an irgendwelche Firmen abzugeben, sondern an junge Kolleginnen und Kollegen. Die Entwicklung hin zu Netzwerken und von den Krankenkassen bestimmten Angeboten sei bedenklich, so Roth. An dieser Stelle nahm Thomas Neuhaus, Kinderklinik Luzern, die Firmen in Schutz, die Praxen mit angestellten Ärzten betreiben, insbesondere solche Firmen, bei denen ein Kinderspital aktiv Einfluss nimmt. Das Kinderspital Luzern sei an einem derartigen Modell beteiligt, weil man dann Einfluss nehmen könne,
Mehr Motivation für Praxispädiatrie?
Die Notwendigkeit von Mentoringprogrammen oder Praktika, um mehr Assistenzärzte für die Praxistätigkeit zu motivieren, scheint eher gering. Eher müsse man die Assistenzärzte zum Bleiben im Spital animieren, kommentierte Christoph Aebi, Inselspital Bern, aus dem Auditorium. In die Praxis wollten die meisten jungen Pädiater ja sowieso. Es gebe im Übrigen bereits ein Mentoringprogramm in Bern für den Übergang nach Abschluss des Facharztes. Dieses Angebot werde aber relativ wenig genutzt. Es scheint, als sei es erst dann von Interesse, wenn der Abschluss unmittelbar bevorstehe, sagte Aebi. Für Jessica Bonhoeffer-Templeton geht die Motivationsdiskussion am Kern des Problems vorbei: «Wir reden viel über Motivation, aber wir diskutieren nicht, wie wir einem Mangel an Praxispädiatern konkret begegnen wollen.» Christian Kind gab ihr Recht und erinnerte am Ende der Diskussion an einen Punkt, der gar nicht zur Sprache gekommen war: die stärkere Einbeziehung des nicht ärztlichen Personals bei der Patientenversorgung.
Vielleicht ein Thema für die nächste Jahrestagung.
Renate Bonifer
Russia Hà-Vinh, Praxis in Onex
Dr. med. Oliver Adam, Praxis in Solothurn
PD Dr. med. Oskar Jenni, Kinderspital Zürich
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