Transkript
LESERMEINUNG
Auf welchem Auge blind?
Replik zu «Enuresis und Inkontinenz» in «Pädiatrie» 3/13
A lexandra Wilhelm-Bals et al. publizierten in «Pädiatrie» 3/13, wie auch in «Paediatrica» 5/2010 (Vol. 2, Nr. 5), einen Übersichtsartikel zum Thema Enuresis und Inkontinenz. Autorin und Mitautoren sind Nephrologen respektive Kinderchirurgen (-urologen). Dieser Artikel enthält wichtige medizinische Informationen und ist klar und ansprechend geschrieben. Was entscheidend fehlt, ist die Sichtweise des praktizierenden Arztes oder Pädiaters, des Entwicklungspädiaters und des Kinderpsychiaters! Der Artikel beginnt gut, erwähnt er doch implizit die Daten der Zürcher Longitudinalstudien, die eine grosse Variabilität im Erreichen der Blasenkontrolle beschreiben. Spätestens bei der detaillierten Anamnese stockt der erfahrene Praxispädiater jedoch: ... «Ist das Kind hyperaktiv mit ADS?» Wird hier der Begriff der «hyperaktiven Blase» missbräuchlich expandiert? Oder wie soll die Hyperaktivität mit der Kontinenz verbunden werden?
Spätestens bei der «Therapie bei Inkontinenz tagsüber» lehnt sich die Autorin weit über den Toilettenrand: «Die tägliche Trinkmenge soll dem Gewicht des Kindes angepasst werden und nicht zu hoch sein ...» Wie viel trinkt denn ein gesundes Kind? Wie gross ist hier die Variabilität? Und: Wenn die Flüssigkeitsmenge nicht zu hoch sein soll, muss man achtgeben, dass das Kind die Flüssigkeitseinschränkung nicht als Strafe erlebt! Mindestens 6-mal soll ein Kind auf die Toilette (so, so!), aber zur Behebung der Obstipation, die der Behandlung der Inkontinenz richtigerweise vorausgeht, wird nicht auf den wichtigen Aspekt von «genügend» Flüssigkeit hingewiesen. In der Praxis, und das ist der Ort, wo ein Kind mit Inkontinenz oder Enuresis als Erstes behandelt wird, ist der Ablauf einfach, anders als von der Autorin beschrieben und die Mehrheit der Kinder mit Enuresis und Inkontinenz betreffend: Bei der isolierten primären Enuresis handelt es sich «immer» um eine Reifungsverzögerung, die vor allem Beratung braucht. Bei fortgeschrittenem Alter (Schulalter) sind allenfalls Überbrü-
ckungsmassnahmen bei sozialen Treffen (Lager etc.) notwendig. Dies, vorausgesetzt, dass das Miktionsverhalten tagsüber unauffällig ist. Die primäre Inkontinenz gehört meist ins gleiche Kapitel. Bei den sekundären Formen besteht immer der primäre Verdacht auf eine Überforderungssituation. Diese kann zwar selten auch organisch bedingt sein, verlangt aber sicher eine ganzheitliche Beurteilung der Situation des Kindes, zum Beispiel nach dem Fitkonzept. Dazu gehört neben der (meist einfachen) somatischen Kontrolle (inkl. Urinstatus) eine genauso umfassende Entwicklungsabklärung, die leistungsbezogene, soziale und emotionale Aspekte miteinbezieht. Nur so kann man dem Kind gerecht werden und mögliche Ursachen angehen, die sich im nicht somatischen Bereich bewegen.
KD Dr. med. Sepp Holtz, Zürich FMH Kinder- und Jugendmedizin Schwerpunkt Entwicklungspädiatrie
KURZ & BÜNDIG
Gefährdet Sonnenschutz die Vitamin-D-Versorgung?
Seit Vitamin D in den Fokus des medizinischen Interesses geraten ist, macht man sich darüber Gedanken, ob rigide Sonnenschutzmassnahmen die ausreichende Bildung dieses wichtigen Vitamins in der Haut im Sommer verhindern könnten. In der Tat konnte in Studien belegt werden, dass die konsequente Anwendung von Sonnenschutzmitteln zu einer Verminderung des Vitamin-DSpiegels führt, schreiben die Schweizer Autoren eines kürzlich publizierten Artikels. Allerdings dürfe man nicht vergessen, dass das ein Befund
ist, der unter streng kontrollierten Bedingungen ermittelt wurde – mit der Situation im Alltag dürfte das wenig zu tun haben. Normalerweise sei demnach nicht mit einem Vitamin-D-Mangel aufgrund von Sonnenschutzmassnahmen im Alltag zu rechnen. Ausnahmen sind Patienten mit Xeroderma pigmentosum oder okulokutanem Albinismus, für die maximaler Sonnenschutz unabdingbar ist. Bei ihnen können Vitamin-D-Kontrollen sinnvoll sein. Die Ansicht, dass man zur Sicherung der Vitamin-D-Versorgung täglich einmal kurzzeitig
ungeschützt in die Sonne gehen sollte, lehnen die Autoren des Artikels strikt ab; UV-Strahlung sei ein wichtiges Karzinogen, sodass allenfalls der Vitamin-D-Supplementation der Vorzug zu geben sei.
RBO
Theiler M, Suber C, Weibel L: Kinderhaut braucht Sonnenschutz – Empfehlungen für die Praxis. Paediatrica 2013; 24 (2): 13–15.
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KURZ & BÜNDIG
Migräneprophylaxe bei Kindern
E ine medikamentöse Migräneprophylaxe wird für Kinder nur selten erwogen. Falls doch, stellt sich die Frage, welche Substanz den grössten Erfolg verspricht. In einer kürzlich publizierten Metaanalyse verglich man die vorliegenden Daten aus kontrollierten Studien zu Topiramat, Trazodon, Clonidin, Flunarizin, Pizotifen, Propranolol und Valproat (1). Bei Erwachsenen sind all diese Substanzen mehr oder weniger wirksam in der Migräneprophylaxe. Bei Kindern scheint das nicht der Fall zu sein. Wie in vielen Studien zu Kopfschmerz und Migräne ist bereits ein Plazebo sehr wirksam. Allein durch das Scheinmedikament verringerten sich die Migräneattacken statistisch signifikant im Durchschnitt von 5,6 auf 2,9 Attacken pro Monat. Ebenfalls eine statistisch signifikante
Wirksamkeit fand sich für Topiramat und Trazodon. Für die anderen Substanzen fanden sich in plazebokontrollieren Studien keine statistisch signifikanter Wirksamkeitsunterschiede, wohl aber Unterschiede in Head-to-head-Vergleichen. So erwies sich Flunarizin als wirksamer als Piracetam, aber nicht als besser als Acetylsalicylsäure, Dihydroergotamin oder Propranolol. Da die Studienlage insgesamt unbefriedigend sei, seien definitive Aussagen nicht möglich, so die Autoren. Sie erinnern daran, dass ein fehlender statistisch signifikanter Wirksamkeitsnachweis nicht notwendigerweise eine tatsächlich fehlende Wirksamkeit bedeutet. Die Schweizerische Kopfwehgesellschaft schreibt in ihren Empfehlungen (2), dass eine Migräneprophylaxe bei Kindern nur sehr selten indiziert ist (bei unwirksamer Attackentherapie
und/oder häufiger Beeinträchtigung wie 3 bis 4 Schul-/Freizeitausfällen/Monat) und, wenn überhaupt, mehrheitlich bei Adoleszenten infrage kommt. Man empfiehlt Flunarizin 1 bis 2 Tabletten à 5 mg/Tag (cave: depressive Verstimmung möglich, Gewichtszunahme und Somnolenz häufig, abendliche Gabe wird empfohlen) oder bei Übergewichtigen Topiramat 50 bis maximal 100 mg/Tag (Cave: bei höherer Dosierung neurokognitive Nebenwirkungen) sowie als Alternativen Magnesium (9 mg/kg/Tag in 2 bis 3 Einzeldosen) oder Riboflavin (200 bis max. 400 mg/Tag in 2 Einzeldosen).
RBO
1. El-Chammas K et al. Pharmacologic Treatment of Pediatric Headaches. A Meta-analysis. JAMA Pediatr 2013; 167 (3): 250–258. 2. Schweizerische Kopfwehgesellschaft, Therapieempfehlungen 2012; www.headache.ch
Asthma und Heuschnupfen: SLIT bei Kindern genauso gut wie SCIT
I n einer Metaanalyse verglich man die Resultate von insgesamt 13 Studien mit 920 Kindern, die mit einer subkutanen Hyposensibilisierungstherapie (SCIT) behandelt wurden, mit denjenigen aus 18 Studien mit 1583 Kindern, die eine orale Hyposensibilisierung (SLIT) oder eine Standardtherapie erhalten hatten. In drei Studien wurden SCIT und SLIT direkt miteinander verglichen. Die Autoren kommen zu folgenden Schlüssen: SCIT vermindert Asthma- und Rhinitissym-
ptome (Evidenz mittel) sowie Konjunktivitissymptome und den Gebrauch an Asthmamedikamenten (Evidenz niedrig). SLIT vermindert Asthmasymptome (Evidenz hoch) sowie Rhinitis- und Konjunktivissymptome (Evidenz mittel), und sie vermindert den entsprechenden Medikamentengebrauch (Evidenz mittel). Dass die Evidenz ein wenig mehr für die SLIT spricht, kann schlicht auch daran liegen, dass es weniger SCIT-Studien gibt, die sich ausschliesslich mit Kindern befassen, und dass es kaum
Head-to-Head-Studien bei Kindern gibt. Alles in allem könne man darum sowohl SLIT als auch SCIT für die Behandlung von Kindern mit Asthma oder Heuschnupfen empfehlen, so die Autoren.
RBO
Kim JM, Lin SY, Suarez-Cuervo C et al.: Allergen-Specific Immunotherapy for Pediatric Asthma and Rhinoconjunctivitis: A Systematic Review. Pediatrics 2013;131:1155–1167.
Nicht unbedingt gleich Antibiotika bei akuter Sinusitis
Die American Academy of Pediatrics (AAP) hat eine Aktualisierung ihrer 12 Jahre alten Guideline zu Diagnose und Therapie bei Sinusitis vorgelegt. Zu den wesentlichen Änderungen gehört als zusätzliches Diagnosekriterium eine Verschlechterung im Verlauf sowie die Option, Kinder zunächst für drei Tage zu beobachten, bevor Antibiotika gegeben werden. Bis anhin empfahlen die US-Pädiater sofort Antibiotika bei Sinusitis, obgleich diese grösstenteils nicht von Bakterien, sondern Viren verursacht wird. Als weitere Neuerung wird die Bildgebung bei unkomplizierter, akuter bakterieller Sinusitis als überflüssig bezeichnet.
Drei Symptome charakterisieren demnach die akute Sinusitis: • persistierende Erkrankung, das heisst Nasen-
laufen oder Husten am Tag oder beides seit mehr als 10 Tagen ohne Besserung • Verschlechterung der Symptome und/oder Fieber nach scheinbarer Besserung • schwere akute Erkrankung (≥ 39 ºC) und purulenter Nasenschleim seit mindestens drei aufeinanderfolgenden Tagen. Bildgebende Verfahren zur Unterscheidung bakterielle/virale Sinusitis sind überflüssig. Ein kontrastverstärktes CT der paranasalen Höhlen kann allenfalls sinnvoll sein, wenn orbitale oder ZNS-Komplikationen vermutet werden.
Antibiotika sind indiziert bei schwerer akuter Erkrankung oder bei Verschlechterung im Verlauf. In allen anderen Fällen kann man wie bisher Antibiotika gleich geben oder drei Tage abwarten. Amoxicillin mit oder ohne Clavulanat (Augmentin® und Generika) sind die erste Wahl bei akuter bakterieller Sinusitis.
RBO
Wald ER et al.: Clinical Practice Guideline for the Diagnosis and Management of Acute Bacterial Sinusitis in Children Aged 1 to 18 Years. Pediatrics 2013; 132: e262–e280.
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