Transkript
KONGRESSHEFT
Forschung und Praxis
Interessante Poster und Fallberichte am SGP-Kongress in Genf
Angesichts interessanter Vorträge und der gern genutzten Gelegenheit zum Kollegengespräch in der Pause wird den Postern an Tagungen oft nur wenig Aufmerksamkeit zuteil. 144 Poster wurden am SGP-Kongress in Genf präsentiert, einige von ihnen stellen wir im Folgenden vor, ergänzt durch Notizen aus Vorträgen.
Schwangere gegen Grippe impfen
Vorsicht bei Dosiserhöhung von Methylphenidat
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Zyklisches Erbrechen: Riboflavin als Prophylaxe
Das zyklische Erbrechen (CVS; cyclic vomiting syndrome) ist eine vor allem bei Kindern vorkommende Form der Migräne. Eine der Hypothesen zur Entstehung der Migräne geht von einer mangelnden Energiereserve in den Mitochondrien aus. Da Riboflavin (B2) als Kofaktor in der mitochondrialen Elektronentransportkette mitwirkt, gilt es in der Prophylaxe der Migräne als (nicht evidenzbasierte) Option. In den Empfehlungen der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft wird folgende Dosis für Kinder angegeben: Riboflavin (Vit. B2) 200 bis 300 (max. 400) mg/Tag in 2 Einzeldosen. Die Posterautoren schildern drei Fälle mit erfolgreicher Riboflavintherapie. Der erste war ein 13-jähriger Knabe mit 24- bis 36-stündigen Attacken von Übelkeit, Erbrechen und Kopfschmerzen alle 2 Wochen; mit Riboflavin keine Attacken mehr seit 4 Monaten. Der zweite Fall war ein 12-jähriges Mädchen mit monatlichen Attacken von 2 bis 4 Tagen seit ihrem 10. Lebensjahr; mit Riboflavin keine Attacken mehr seit 4 Monaten. Der dritte Fall war ein 4-jähriges Mädchen mit 24- bis 36-stündigen Attacken alle 2 bis 3 Wochen; sie wurde ein Jahr lang mit Riboflavin behandelt und hatte seitdem, nach 5 Jahren Follow-up, keine Attacken mehr.
Frauen wiesen im Nabelschnurblut seroprotektive Antikörperspiegel gegen Grippe auf (HAI-Titer ≥40). Bei den Kindern nicht geimpfter Frauen fanden sich seroprotektive Spiegel nur bei rund einem Drittel der Kinder. Selbst wenn die Impfung der Schwangeren erst einen Monat vor der Geburt erfolgte, war der Titer immer noch besser als ohne Impfung.
Blanchard-Rohner G et al. Influenza Vaccination in Pregnant Woman: Better late than never. Swiss Med Wkly 2013; 143 (Suppl 197): 52S.
Paracetamol statt NSAID bei Zoster
Es ist bekannt, dass NSAID bei Zosterpatienten mit einem höheren Risiko schwerer Haut- und Bindegewebsschädigungen einhergeht, wie Phlegmone, Abszess, Fasziitis oder Nekrose. Die Posterautoren schildern den Fall eines 5-jährigen Knaben mit Zoster und Diclofenac, bei dem es zu einer grossflächigen Entzündung von Haut und Subkutis kam. Sie haben den Verdacht, dass dies an dem Diclofenac gelegen haben könnte, und empfehlen, bei Kindern mit Zoster Paracetamol zu geben.
P25: Munst A et al. Severe skin and soft tissue complication during varicella disease. Swiss Med Wkly 2013; 143 (Suppl 197): 18S.
P51: Martinez-Esteve Melnikova A et al. Riboflavin in cyclic vomiting: efficacy in 3 patients. Swiss Med Wkly 2013; 143 (Suppl 197): 26S und Therapieempfehlungen der Schweizer Kopfwehgesellschaft: www.headache.ch
Grippeimpfung für Schwangere
«Besser spät als nie» ist das Resümee der Autoren zur Grippeimpfung bei Schwangeren. Schwangere und Neugeborene haben ein erhöhtes Risiko für Komplikationen im Fall einer Influenza. Die Impfung Schwangerer schützt nicht nur die Mutter, sondern auch das Kind, weil mütterliche Antikörper über die Plazenta auf das Kind übergehen. Die Studie umfasste 188 Frauen, von denen 101 während der Schwangerschaft gegen Grippe geimpft worden waren. Rund 85 Prozent der Kinder der geimpften
Zu viel Methylphenidat
Tachykardie, Benommenheit und erhöhter Blutdruck sind bekannte Nebenwirkungen des Methylphenidats, welches häufig Kindern mit ADHS verordnet wird. Die Autoren des Posters erinnern anhand eines Fallberichts an die Notwendigkeit, bei Kindern unter Methylphenidat auf kardiovaskuläre Symptome zu achten und die Nebenwirkungen einer Dosiserhöhung zu bedenken. Sie schildern den Fall eines 8-jährigen Knabens, der mit einer hypertensiven Krise, ausgelöst durch zu hoch dosiertes Methylphenidat, notfallmässig ins Kantonsspital Luzern kam. Die Behandlung mit Methylphenidat war einige Monate zuvor mit 60 mg pro Tag begonnen und im weiteren Verlauf mangels
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Antibiotikaallergie ist eher selten.
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Erfolgs auf 90 mg pro Tag gesteigert worden. Diese Dosiserhöhung hatte der Knabe noch relativ gut verkraftet, mit 2 Tagen vorübergehendem Kopfschmerz. Eine Woche vor dem Notfall hatte man die Dosis nochmals erhöht, auf 120 g pro Tag (3 x 40 mg; entsprechend 5,2 mg/kg KG). Die letzte Einnahme lag bei Eintritt ins Spital 26 Stunden zurück. Die Symptome: Erbrechen, periumbilikale Abdominalschmerzen und leichtes Fieber. Sein Blutdruck betrug 168/111 mmHg bei normalem Puls (65/min). Die Laborbefunde waren normal, der Urin wies eine Mikrohämaturie, aber keine Proteinurie auf. Das Methylphenidat wurde abgesetzt (Halbwertszeit: 2 h). Der Blutdruck sank innert 38 Stunden auf 111/82 mmHg ohne blutdrucksenkende Mittel, und der Knabe erholte sich vollständig.
sowie die In-vitro-Verfahren Lymphozytentransformationstest (LTT; hierbei wird die Proliferation der Patientenlymphozyten auf das Antigen in vitro gemessen) und Basophilenaktivierung (BAT). Verglichen wurden 14 Kinder mit mittels oralen Provokationstests bestätigter Antibiotikatherapie und 82 negative Kontrollen. Die verschiedenen Testverfahren lieferten keine übereinstimmenden Resultate. Sowohl der Hauttest als auch die beiden In-vitro-Verfahren haben bei Abklärung einer Betalactamallergie nur eine sehr begrenzte Aussagekraft. Die Autoren empfehlen darum den oralen Provokationstest.
P97: Caubet JC et al. Oral provocation test is the most important test to diagnose betalactams allergy in children. Swiss Med Wkly 2013; 143 (Suppl 197): 38S.
P17: Berthold S, Neuhaus TJ. Hypertensive urgency after methylphenidate (MPH) overdose in a 8-year old boy. Swiss Med Wkly 2013; 143 (Suppl 197): 16S.
Frühgeborene mit bronchopulmonaler Dysplasie auch im späteren Leben gefährdet
Wenn Frühgeborene mit einer bronchopulmonalen Dysplasie (BPD) überleben, sind sie trotzdem auch später noch gefährdet. Dies spiegelt sich in der Empfehlung wider, im ersten Lebensjahr nicht in die Berge zu fahren und auch nicht zu fliegen. Die Entwicklung eines Lungenödems ist bekanntermassen bereits ab 1800 bis 2500 Metern Höhe möglich. Wie das Risiko Jahre später für diese Kinder aussieht, ist unklar. Es gibt hierfür keine Richtlinien. In ihrem Fallbericht schildern die Autoren die Geschichte eines Knaben, der in der 27. Schwangerschaftswoche mit BPD geboren worden war. Im Alter von 13 Jahren ging er in Skiferien auf 2000 Meter Höhe. Am zweiten Tag bekam er nach einer durch schweren Husten gestörten Nachtruhe nachmittags starke Atembeschwerden mit einem rosafarbenen, schaumigen Sputum. Nach Konsultation des Praktikers vor Ort und notfallmässigem Transfer ins Universitätsspital Basel benötigte er eine intensive Therapie mit Bronchodilatatoren, Diuretika und Beatmung. Er erholte sich innert 24 Stunden vollständig. Die Autoren vermuten, dass die BPD-bedingte Vorschädigung epithelialer und kapillärer Funktionen zusammen mit der Atemwegsinfektion (Husten!) und dem Aufenthalt auf 2000 Meter Höhe zu dieser gefährlichen Situation führte.
P99: Wuest A et al.: A dangerous night at Lauchernalp. Swiss Med Wkly 2013; 143 (Suppl 197): 38S
Wirklich eine Antibiotikaallergie?
Bei Ausschlag nach Gabe eines Betalactams sollte später immer nachgeprüft werden, ob es tatsächlich eine Allergie war oder der Ausschlag Folge der Erkrankung war. Letzteres sei häufiger der Fall, so die Autoren dieses Posters. Nur in 10 Prozent der Fälle stecke eine Allergie hinter den Urtikaria-ähnlichen oder makulopapulären Ausschlägen. In ihrer Studie gingen die Genfer Autoren der Frage nach, welches Testverfahren am besten ist: oraler Provokationstest (OPT) oder intradermaler Hauttest (IDT)
Neurologische Komplikationen bei Sinusitis
Auch wenn neurologische Komplikationen bei Sinusitis sehr selten sind, raten die Genfer Autoren dieses Posters zu erhöhter Wachsamkeit. Grund für ihre Sorge ist die Erfahrung mit 2 Fällen, in denen es nach Sinusitis zu schweren neurologischen Komplikationen kam. Es handelte sich um einen 9-jährigen Knaben, der mit hohem Fieber, Fokalzeichen, Hemiparese links und schwerem frontalem Syndrom ins Spital kam, sowie um einen 15-jährigen Jugendlichen mit Fokalzeichen und Anzeichen einer Hirnhautentzündung. Sie wurden erfolgreich mit chirurgischer Drainage und intravenösen Antibiotika behandelt. Beide Patienten erfreuten sich zuvor guter Gesundheit und waren vor einigen Tagen wegen Sinusitis mit oralen Antibiotika behandelt worden.
P52: Martinez-Esteve Melnikova A et al. Severe neurological complications of sinusitis in 2 children. Swiss Med Wkly 2013; 143 (Suppl 197): 26S.
Juckreiz als Anzeichen für toxischen Schock
Das durch Bakterientoxine veursachte Syndrom des toxischen Schocks (TSS; toxic shock syndrome) manifestiert sich charakteristischerweise als Fieber, eine sich rasch zu einer sonnenbrandähnlich entwickelnden Rötung am ganzen Körper, Blutdruckabfall und Beeinträchtigung mehrerer Organfunktionen. Am Ospedale Regionale di Locarno La Carità beobachtete man kürzlich den Fall eines 7-jährigen Knaben, der – in einem sehr guten Allgemeinzustand – nach einer Nasenoperation plötzlich starken Juckreiz mit einer nur leichten Hautrötung hatte. Dies wurde als allergische Reaktion interpretiert und mit oralen Antihistaminika behandelt, die auch etwas halfen. Am nächsten Tag jedoch zeigten sich alle Symptome des TSS. Dies sei, so die Autoren des Posters, der erste bekannte Fall, in welchem sich ein TSS als starker Juckreiz angekündigt habe.
P117: Haueter B, Giuliani S. Pruritus as presenting sign in Toxic Shock Syndrome. Swiss Med Wkly 2013; 143 (Suppl 197): 43S.
Oleandervergiftung
Der beliebte Oleander (Nerium oleander) ist eine der giftigsten Zierpflanzen. Alle Teile der Pflanze enthalten
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das Glykosid Oleandrin, und etwa 15 bis 20 Gramm frische Oleanderblätter eine für den Menschen tödliche Dosis. Die Autoren schildern den Fall eines 3-jährigen Mädchens, das glücklicherweise nur wenige Blätter verschluckt hatte. Es kam asymptomatisch auf die Notfallstation des Hôpital du Valais, CHVR, Sion. Die Behandlung bestand aus 1 g/kg KG Aktivkohle und der Spitalaufnahme zur Beobachtung, was in diesem Fall ausreichend war. Die Standardbehandlung bei derartigen Vergiftungen besteht aus der mehrfachen Verabreichung von Aktivkohle, welche die Glykoside im Darm bindet. Bei instabilem Kreislauf kommen Infusionen zur hämodynamischen Unterstützung sowie Anti-DigitoxinAntikörper zum Einsatz.
P131: Reynaud S et al. Green leaves are not always healthy. Swiss Med Wkly 2013; 143 (Suppl 197): 46S.
Nach Bleichcreme fragen
Im Workshop Adoleszentenmedizin berichtete Dr. med. Christina Pizzagalli, Universitätskinderspital beider Basel, von dem Fall einer jungen Tamilin, die wegen unklarer, chronischer Müdigkeit in die Sprechstunde kam. Nach gründlicher Abklärung bestand Verdacht auf eine zentrale Nebenniereninsuffizienz, doch war deren Ursache unklar. Die junge Patientin verneinte chronischen Kortisongebrauch, bejahte aber auf Nachfrage den ständigen, täglichen Gebrauch einer «Bleichcreme» (Pigmanorm®), die ihr der Hautarzt verordnet habe. Diese Creme enthält unter anderem das Kortikosteroid Dexamethason; gemäss Fachinformation ist sie ausdrücklich nur für den kurzfristigen, nicht grossflächigen Gebrauch bei lokaler Hyperpigmentierung gedacht. Pizzagalli riet dazu, bei dunkelhäutigen Frauen und Mädchen mit unklaren Beschwerden immer auch nach dem Gebrauch von Bleichcremes beziehungsweise Hautbleichmitteln aller Art zu fragen, da solche Produkte relativ häufig verwendet würden.
WS Adoleszentenmedizin: Diese ach so müden Jugendlichen! SGP-Jahrestagung Genf, 20. Juni 2013.
Adrenalin bei Anaphylaxie
Man muss bei der Adrenalingabe unterscheiden zwischen der Notfallbehandlung durch den Patienten oder Angehörige – hier nur Autoinjektor! – und der Notfallbehandlung durch den Arzt. Ärzte, die sich für die intramuskuläre Gabe von unverdünntem Adrenalin nicht geübt genug fühlen, sollten 2 Adrenalinpens à 0,3 mg im Notfallkoffer haben.
Ausserdem gilt: Adrenalin nie subkutan! Adrenalin intravenös nur verdünnt!
Anaphylaxie Erwachsene
Anaphylaxie Kinder
Adrenalin unverdünnt (1 mg/ml 1:1000) Adrenalin unverdünnt (1 mg/ml 1:1000)*
intramuskulär
intramuskulär 0,1 ml/10 kg KG
mindestens 0,3–0,5 ml
KG 60 kg
0,5–0,6 ml
KG 10 kg 0,1 ml
KG 70 kg
0,5–0,7 ml
KG 20 kg 0,2 ml
KG 80 kg
0,5–0,8 ml
KG 30 kg 0,3 ml
KG höher 0,6–0,8 ml
KG 40 kg 0,4 ml
Bei ungenügender Wirkung nach 3 bis 5 Minuten wiederholen.
*Nur bei Kindern unter 10 kg KG – ein Fall, der in der Praxis kaum vorkommen dürfte – müsste das Adrenalin auch für die i.m.-Gabe verdünnt werden (1 ml Adrenalin + 9 ml NaCl 0,9%), weil unter 0,1 ml nicht aufgezogen werden kann. Von diesem verdünnten Adrenalin (0,1 mg/ml 1:10 000) wären es dann i.m. 0,1 ml pro kg KG (bei 7 kg KG also 0,7 ml).
Diese Tabelle wurde von Prof. Arthur Helbling, Bern, für ARS MEDICI 12/2013 erstellt und von dort übernommen.
Adrenalin wird bei Anaphylaxie zu selten eingesetzt
Karin Haltinner und Dr. med. Alice Köhli führen zurzeit eine Studie zu Risikofaktoren und Behandlung bei Anaphylaxie von Kindern in der Region Zürich durch. Am Kongress berichteten sie vorab, dass die meisten Anaphylaxien durch Nahrungsmittel ausgelöst werden, danach folgen Insektenstiche und Medikamente. Meist wird mit Antihistaminika und Kortikosteroiden behandelt, während das Adrenalin zu selten eingesetzt werde. Grund genug für uns, die Anwendung von Adrenalin in der Praxis in einer Tabelle für Sie zusammenzufassen (s. Kasten).
Immer gut gefüllt: das Auditorium am SGP-Kongress in Genf.
CL35: Haltinner K, Köhli A: Anaphylaxis in children – data from Zurich. Swiss Med Wkly 2013; 143 (Suppl 197): 11S
Renate Bonifer
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