Transkript
Enuresis und Inkontinenz
Von der Definition zur Diagnose und Therapie
SCHWERPUNKT
Blasenfunktionsstörungen im Kindesalter sind ein häufiger Anlass, den Pädiater oder Hausarzt aufzusuchen. Die meisten Kinder werden vor dem Beginn der Schulzeit trocken. Kinder, denen dies nicht gelingt, leiden darunter erheblich, und die psychozialen Einflüsse sind nicht zu unterschätzen. Enuresis und/oder Inkontinenz am Tage können nicht nur für die Kinder, sondern auch für deren Eltern und mitunter auch ihren Pädiater zu einem grossen Problem werden!
Von Alexandra Wilhelm-Bals1, Jacques Birraux2, Hassib Chehade3, Elsa Gonzalez1, Paloma Parvex1 und Eric Girardin1
W elche Untersuchungen sind bei Blasenfunktionsstörungen notwendig? Welche Behandlung ist empfehlenswert? Warum ist eine Therapie nicht immer wirksam? Um diese Fragen zu beantworten und eine optimale Behandlung zu ermöglichen, muss man sich über die verschiedenen Formen der Inkontinenz im Klaren sein; diese werden im folgenden Artikel vorgestellt. Sie erfordern unterschiedliche Abklärungswege und Therapien. Die Begriffe «Inkontinenz» und «Enuresis» sind erst bei Kindern ab einem Alter von 5 Jahren anwendbar, da derartige Symptome bei jüngeren Kindern noch physiologisch sind. Die International Children’s Continence Society hat 2006 eine neue Definition publiziert (1), wonach der Begriff Enuresis nur noch für nächtlichen unwillkürlichen Harnabgang verwendet werden soll (Tabelle 1).
Einige epidemiologische Daten
Zuerst wird die Kontinenz tagsüber, danach auch während der Nacht erreicht. Mädchen sind früher kontinent als Knaben. Die Entwicklung der Kontinenz wird nicht durch vorzeitiges Training und Auf-denTopf-Setzen beeinflusst (2). Im Alter von 3 Jahren sind 84 Prozent der Mädchen und 53 Prozent der Knaben tagsüber trocken. Im Alter von 4 Jahren steigt der Anteil auf 98 beziehungsweise 88 Prozent, und im Alter von 6 Jahren sind es 96 und 94 Prozent (2). Die Häufigkeit der Inkontinenz am Tag steigt erneut nach dem
1Unité universitaire romande de néphrologie pédiatrique, Département de l’Enfant et de l’Adolescent, Hôpital des Enfants, 6 rue Willy-Donzé, 1211 Genève. 2Service de Chirurgie Pédiatrique, Hôpital des Enfants, 6 rue Willy-Donzé, 1211 Genève. 3Département médico-chirurgical de pédiatrie, Site CHUV, Rue du Bugnon 46, 1011 Lausanne.
Alter von 5 Jahren mit dem Auftreten einer sekundären Inkontinenz. Man spricht von einer sekundären Inkontinenz, wenn ein Kind bereits seit mindestens 6 Monaten trocken war. Bei den Kindern über 6 Jahre tritt bei 4 bis 6 Prozent der Knaben und 3 bis 6 Prozent der Mädchen eine sekundäre Inkontinenz auf (3).
Wann spricht man von einer unreifen Harnblase?
Das Erreichen der Kontinenz ist von der Reifung des zentralen Nervensystems abhängig. Diese verläuft in drei Abschnitten (4, 5): 1. Die kindliche, automatische Blasenfunktion, bei der
die Dehnung der Blasenwand zu einem volumengesteuerten Kontraktionsreflex führt. 2. Die physiologisch unreife Blase mit Detrusorhyperaktivität und Phasen von Dranginkontinenz und Pollakisurie aufgrund fehlender kortikaler Hemmung. 3. Die ausgereifte Blasenfunktion, bei der eine kortikale Hemmung der Blasenhyperaktivität erfolgt. Falls die vesikale Unreife persistiert, spricht man von einer hyperaktiven Blase. Hyperaktive Blasen manifestieren sich in zwei unterschiedlichen Formen: in erster Linie als Pollakisurie (Detrusorhyperaktivität) oder als verzögerte Miktion mit übermässiger Sphinkterkontraktion. Sobald die Blasenfunktion ausgereift ist, steht der normale Miktionszyklus unter der Kontrolle des Nervensystems. Das sympathische Nervensystem erlaubt die druckabhängige Blasenfüllung durch Inhibition des Detrusormuskels und Erhöhung der muskulären Aktivät in Blasenhals und proximaler Urethra. Während der Blasenentleerung bewirkt das parasympathische System eine Kontraktion der Blase und eine Relaxation des Blasendreiecks (Trigonum vesicae) durch vorübergehende Inhibition des Sympathikus.
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Die Begriffe «Inkontinenz» und «Enuresis» sind erst ab einem Alter von 5 Jahren anwendbar, weil das Erreichen der Kontinenz von der ZNSReifung abhängig ist.
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SCHWERPUNKT
Tabelle 1: Definitionen
Inkontinenz
Enuresis primär oder sekundär kontinuierlich oder intermittierend
Eine normale Miktion erfordert darum ein intaktes, reifes Nervensystem sowie eine normale muskuläre und anatomische Entwicklung der Harnwege.
Die detaillierte Anamnese ist wichtig
Die Anamnese ist der Schlüssel zu einer erfolgreichen Therapie, denn sie erlaubt das Erkennen der jeweils vorliegenden Inkontinenzform. Die ersten Fragen sollten folgenden Aspekten gelten: • Kommt die Inkontinenz nur am Tag, nur in der
Nacht oder gemischt vor? • Handelt es sich um eine primäre oder sekundäre
Inkontinenz? Im Gespräch sollte man generellen anamnestischen Fragen nach typischen die Inkontinenz begünstigenden Faktoren nachgehen und auch nach potenziellen organischen Ursachen fahnden: • Liegt eine Polyurie-Polydipsie vor? • Kommen febrile Episoden ohne Hinweis auf eine In-
fektion vor? • Ist das Kind obstipiert? Enkopresis? • Ist das Kind hyperaktiv mit Aufmerksamkeitsdefizit? • Was wurde bis anhin unternommen? Der zweite Teil der Anamnese besteht in einer detaillierten Analyse des Miktionsverhaltens (Tabelle 2). Die Schlüsselfrage lautet: Handelt es sich um eine Inkontinenz am Tag, eine isolierte Enuresis oder eine gemischte Symptomatologie? Aus der Antwort auf diese Frage ergibt sich die jeweils passende Therapie.
Intermittierende Inkontinenz am Tag
Die meisten Miktionsstörungen können in Störungen des Harnhaltens oder des Harnlösens unterteilt werden. Bei manchen Patienten findet man eine Kombination beider Mechanismen (4). Bei der Entwicklung von Blasenfunktionsstörungen kann sich die Symptomatik jedoch verändern. So kann sich eine hyperaktive Blase zu einer harnverhaltenden Blase entwickeln und dann eine Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination (DSD) entstehen. Terminales Stadium ist das HinmanSyndrom, welches einer DSD mit Dekompensation des Detrusors entspricht. Typisch hierfür sind vesikoureteraler Reflux, rezidivierende Harnwegsinfektionen sowie eine häufige Assoziation mit erheblichen Störungen der Darmentleerung. Die am häufigsten anzutreffenden Symptome werden in Tabelle 3 aufgeführt.
intermittierender, unwillkürlicher Harnabgang über den Tag hinweg Der Begriff Enuresis diurna sollte nicht mehr verwendet werden. intermittierender, unwillkürlicher Harnabgang im Schlaf Man spricht von sekundärer Inkontinenz, wenn das Kind zuvor bereits mindestens 6 Monate lang trocken war. kontinuierlicher oder intermittierender, unwillkürlicher Harnabgang
Bei einem Kind mit unbeabsichtigtem Harnabgang tagsüber handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine funktionelle Miktionsstörung. Es ist jedoch wichtig, an mögliche Differenzialdiagnosen zu denken (Tabelle 4), um auf der Grundlage von Anamnese und klinischer Untersuchung über die Notwendigkeit zusätzlicher Abklärungen zu entscheiden.
Komplikationen
Häufig sind persistierende Blasenfunktionsstörungen im Schulalter für das Kind eine starke Belastung und können zu Konflikten mit den Eltern führen. Man konnte zeigen, dass Kinder, die über längere Zeit Inkontinenzperioden erleben, ein geringeres Selbstwertgefühl entwickeln (5). Organisch betrachtet kann sich eine hyperaktive Blase zu einem DSD mit sekundärem vesiko-ureteralem Reflux und rezidivierenden Harnwegsinfekten entwickeln. Eine Blasenentzündung erhöht die bereits vorhandene vesikale Aktivität und führt zu einem Teufelskreis (6). Auf längere Sicht erhöht sich das Risiko für die Entwicklung einer sekundären Niereninsufffizienz aufgrund rezidivierender Infektionen und Refluxnephropathie.
Klinische Untersuchung und weitere Abklärungen
Zunächst wird eine abdominale und suprapubische Palpation durchgeführt, dabei ist auch auf allfälligen Stuhl achten. Dann folgt eine vorsichtige Untersuchung des Genitale: Phimose? Hypospadie? Labiensynechie? ektopische Urethra (Harnträufeln)? Auch die neurologische Untersuchung von Wirbelsäule und Becken mit der Überprüfung der Sensibilität von Damm und Beinen gehört dazu. Bei allen Kindern sollen folgende Abklärungen durchgeführt werden: • Zuerst erfolgt die Untersuchung des Urins mittels
Streifentests und die Bestimmung der Dichte. Bei symptomatischen Patienten wird eine Urinkultur angelegt, bei Patienten mit Polyurie ist das KalziumKreatinin-Verhältnis zu bestimmen. • Ein Miktionstagebuch über 48 Stunden ist unerlässlich. Es erlaubt die Bestimmung der Flüssigkeitsaufnahme, der Miktionsfrequenz und die Schätzung des maximalen Miktionsvolumens, um die altersabhängige Blasenkapazität (BK) nach folgender Formel zu berechnen: Blasenkapazität (ml) = (Alter x 30) + 30. • Mittels Ultraschall wird eine allfällige Verdickung der Blasenwand sichtbar, und sie erlaubt die Bestimmung von Blasenkapazität und Restharn. Ausserdem können damit den Beschwerden zugrunde liegende pathologische organische Veränderungen nachgewiesen werden (urolog. Lithiasis, Ureterozele, …). Folgende Untersuchungen sind im Einzelfall mit dem Spezialisten zu diskutieren: • Miktionszystourethrografie: Vor allem bei jungen Knaben zum Ausschluss von Urethralklappen oder sekundärem vesiko-ureteralem Reflux. • Szintigrafie: Bei rezidivierenden febrilen Harnwegsinfekten zum Nachweis von Narben im Nierengewebe. • Uroflowmetrie: Die Darstellung der Miktion und des
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SCHWERPUNKT
Gesamtvolumens der Harnblase als Kurve über die Zeit liefert Informationen über die zugrunde liegende Miktionsstörung; durch das gleichzeitige Anlegen von Hautelektroden werden EMG und Flussmessung kombiniert. • Urodynamische Untersuchung: Dies ist eine invasivere Methode, welche das Platzieren einer vesikalen und einer rektalen Sonde sowie von Elektroden auf dem Abdomen und perianal erfordert. Diese Untersuchung ist komplexen Situationen unter Aufsicht des Spezialisten vorbehalten.
Therapie bei Inkontinenz tagsüber
Verhaltensmassnahmen sind die für den Erfolg unerlässliche Basisbehandlung. Es ist äusserst wichtig, die Kinder zu ermuntern, auf ihre Blase zu achten und diese regelmässig zu entleeren (mindestens 6-mal pro Tag). Das Kind soll sich auf der Toilette Zeit nehmen. Es darf keinesfalls pressen, um zu urinieren, sondern soll im Gegenteil lernen, sich zu entspannen. Die Sitzposition ist genauso wichtig. Ein korrekt sitzendes Kind soll seine Füsse mit gespreizten Beinen auf beiden Seiten der WC-Schüssel auf den Boden stellen können. Leider sind Toiletten meist zu hoch für Kinder; sie urinieren schnell, ohne Bodenkontakt und mit angezogenen Beinen, was eine vollständige Blasenleerung beeinträchtigt. Die tägliche Trinkmenge soll dem Gewicht des Kindes angepasst werden und nicht zu hoch sein, um eine gute Ausreifung der Blasenfunktion zu fördern. Zu den Verhaltensmassnahmen zählen gleichermassen eine intensive Behandlung einer allfälligen Obstipation durch gesunde Ernährung und, falls nötig, medikamentöse Therapie. Ohne die Beseitigung der Obstipation ist das Erreichen der Kontinenz nicht möglich. Ein weiterer, essenzieller Teil der Behandlung ist die Physiotherapie (Biofeedback), welche bei allen Kindern versucht werden sollte, die dafür alt genug sind. Sie fördert eine bessere Kontrolle des Damms und eine gute Entspannung während der Miktion. Im Allgemeinen werden sechs physiotherapeutische Sitzungen empfohlen, die alle drei bis sechs Monate wiederholt werden können. Für Patienten mit DSD oder einer stark harnverhaltenden Blase ist Biofeedback oft der Schlüssel zum Erfolg.
Tabelle 2: Detaillierte Miktionsanamnese
• Trinkmenge, kohlensäurehaltige Getränke, Getränke mit Koffein? • Dysurie: Probleme bei der Miktion? • Algurie: Schmerzen bei der Miktion? • Harndrang? • Haltemanöver (z.B. Überkreuzen der Beine, Fersensitz)? • Probleme, mit dem Wasserlassen zu beginnen? • Miktionsfrequenz? Harnmenge? • Wie ist der Harnstrahl? Stossweise? Unterbrochen? • Wie stark wird eingenässt: Ein paar Tropfen in der Unterhose? Komplett nass?
Durchnässte Hose? • Nachtröpfeln? (Hinweis auf vaginalen Reflux bei Mädchen)
Eine medikamentöse Therapie erfolgt in der Regel erst in zweiter Linie, nach Verhaltensmassnahmen und Physiotherapie; in seltenen Fällen kann sie aber auch gleichzeitig begonnen werden. Bei hyperaktiver Blase wirken Anticholinergika sehr gut, indem sie die Detrusoraktivität hemmen. Oxybutynin (Ditropan®) kann in zwei bis drei Dosen pro Tag bei guter Verträglichkeit gegeben werden. Um den oben beschriebenen «Teufelskreis» zu unterbrechen, wird für Patienten mit rezidivierenden Harnwegsinfekten bei hyperaktiver Blase eine Antibiotikaprophylaxe für drei bis sechs Monate empfohlen. Für Patienten mit schwerer Harnverhaltung oder bei Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination wird von Anticholinergika abgeraten, weil sie eine Dekompensation der Harnblase verursachen können. Daher ist es äusserst wichtig, bei Patienten mit einem gewissen Grad an Dysurie mit der Physiotherapie zu beginnen und die Medikamente allenfalls in einem zweiten Schritt zu verabreichen. Bei Patienten mit Blasenentleerungsstörungen (sog. faule Blase; Lazy-bladder-Syndrom) kann man AlphaAntagonisten wie Alfuzosin (Xatral®) versuchen. Diese bewirken eine Entspannung des Blasenhalses, verbessern damit die Entleerung und reduzieren den Restharn. Alfuzosin kann eine nicht zu vernachlässigende Hypotonie verursachen, sodass die Anwendung durch einen Spezialisten begonnen werden sollte. Bei Patienten mit einer gemischten Inkontinenz (am Tag und in der Nacht) wird empfohlen, zunächst die Symptomatologie am Tag anzugehen und diese für eine Dauer von wenigstens sechs Monaten zu stabilisieren, bevor man beginnt, etwas gegen die nächtliche Enuresis zu unternehmen (s. unten). Es ist nicht möglich, das Bettnässen mit hyperaktiver Blase zu stoppen. Auch muss man bei Patienten mit Enkopresis zunächst die gastrointestinalen Störungen behandeln. Zu guter Letzt soll man in allen Fällen von Blasenfunktionsstörungen immer auf allfällige spontane Reifungsprozesse achten, welche eine weitere Behandlung überflüssig machen (7).
Wann zum Spezialisten?
Das Vorgehen in der Praxis des Pädiaters bei Inkontinenz tagsüber sowie bei gemischter Inkontinenz ist in Abbildung 1 dargestellt. Alle Patienten, die bei der Erstuntersuchung einen auffälligen Urin aufweisen, sollen für eine Abklärung an einen Nephrologen oder Urologen überwiesen werden. Das Gleiche gilt für Patienten mit einer therapierefraktären Inkontinenz tagsüber.
Isolierte Enuresis
Die Enuresis (Bettnässen, Enuresis nocturna) ist durch einen intermittierenden unwillkürlichen Harnabgang ausschliesslich in der Nacht charakterisiert; dieser kann primär oder sekundär auftreten, kommt aber nicht am Tag vor. Es handelt sich hierbei nicht um eine Krankheit, sondern um ein häufiges Phänomen, welches in der Regel sistieren wird. Trotzdem darf man es nicht banalisieren, denn je älter die Kinder werden, umso mehr wird die Enuresis als Behinderung mit dadurch bedingten Problemen in der Familie
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SCHWERPUNKT
Abbildung 1
Abbildung 2
erlebt. Eine Enuresis kann primär oder sekundär (das Kind war bereits seit über 6 Monaten trocken) auftreten. 10 bis 20 Prozent der 5-jährigen Kinder haben eine Enuresis. Pro Jahr sistiert die Enuresis bei zirka 15 Prozent von ihnen, und im Alter von 15 Jahren sind 99 Prozent der Jugendlichen trocken (8).
Ursachen der Enuresis
Die Ursachen einer isolierten Enuresis sind nicht völlig klar. Es gibt verschiedene Hypothesen und Risikofaktoren: • Genetische Veranlagung: Wenn ein Elternteil an
Enuresis litt, beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind ebenfalls enuretisch ist, 45 Prozent. Waren Vater und Mutter betroffen, steigt die Wahrscheinlichkeit bis auf 77 Prozent (9, 10). Oft sistiert die Enuresis im gleichen Alter wie bei dem betroffenen Elternteil. • eine zirkardiane Anomalie der ADH-Synthese (antidiuretisches Hormon, Vasopressin), die zu einer Harnüberproduktion in der Nacht führt (primär oder sekundär?) • Reifungsverzögerung • psychische Faktoren. Die Anamnese ist bis auf einige zusätzliche Fragen (Tabelle 5) die gleiche wie oben für die Inkontinenz tagsüber beschrieben. Bei der Erstuntersuchung beschränken sich die zusätzlichen Abklärungen auf eine Urinkultur und einen Urin-Streifentest mit Bestimmung der Dichte.
Therapie bei isolierter Enuresis
In erster Linie gilt es, das Kind und seine Eltern zu beruhigen. Enuresis ist häufig, aber nicht gefährlich, und sie wird letztlich sistieren. Einige Kinder schämen sich, sodass man ihnen die Schuldgefühle nehmen muss: Sie können nichts für ihre Enuresis. Zunächst werden Verhaltensmassnahmen ergriffen: Die Trinkmenge über den Tag hinweg soll dem Gewicht des Kindes angepasst und am Abend reduziert werden. Das letzte Getränk soll spätestens eine Stunde vor dem Zubettgehen genommen werden. Unmittelbar vor dem Schlafengehen wird die Blase entleert. Es ist besser,
keine Windel anzuziehen. Das Kind selbst ist im Heilungsprozess der wichtigste Akteur, sodass es gilt, das Kind zur Mitarbeit zu motivieren. In diesem Sinn kann man mit ihm die zur Verfügung stehenden Hilfsmittel für eine «trockene Nacht» besprechen. Das Kind kann mithelfen, indem man mit ihm einen Miktionskalender anlegt, in welchem es die Resultate einträgt. Zu den spezifischeren Therapien gehören Alarmsysteme und Medikamente. Die Alarmsysteme (Rapidosec®, YNA®, VibraMeth®) bestehen aus einem Sensor, der in der Pyjamahose platziert wird. Es klingelt oder vibriert, sobald Harn verloren wird, sodass das Kind
Tabelle 3: Klassifikation der Blasenstörungen
Probleme beim Harnhalten hyperaktive oder unreife Blase
harnverhaltende Blase
Probleme beim Harnlösen Lazy-bladder-Syndrom
Detrusor-SphinkterDyskoordination
Charakteristika
häufig sekundär bei Mädchen zu Beginn der Schulzeit; vesikale Hyperaktivität mit Sphinkterkontraktion, um Harnabgang zu vermeiden; geringe Blasenkapazität sieht man bei Kindern, die lieber weiterspielen und die Miktion hinauszögern; in erster Linie Sphinkterkontraktion; Blase vergrössert sich
sehr grosse Blase mit Dehnung des Detrusors (Kontraktion vermindert)
häufig das Endstadium der oben beschriebenen Symptome; Verlust der Koordination zwischen vesikaler Kontraktion und Sphinkterrelaxation; Balkenblase
Symptome
Harndrang (pathognomonisch) mit Überkreuzen der Beine etc.; Pollakisurie; Kauern, um Harnabgang zu verhindern; nur geringer Harnabgang unvollständige und seltene Miktionen; Harndrang, unwillkürlicher Harnabgang in grossen Mengen; Verlust der Empfindsamkeit für Blasenfüllung und Harndrang
sehr seltene Miktionen; Dysurie; schwacher Harnstrahl; Abdomenpresse zum Auslösen der Miktion in erster Linie Dysurie; stossweiser Harnstrahl; rezidivierende Harnwegsinfektionen; erworbener vesiko-ureteraler Reflux; Refluxnephropathie
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SCHWERPUNKT
Tabelle 4: Differenzialdiagnose bei Blasenfunktionsstörungen
dann über drei Monate hinweg fortgeführt. Erst danach kann man einen ersten Absetzversuch durchführen (Abbildung 2).
• Harnwegsinfektion • vaginaler Reflux • neuropathische Blase • ektopisch mündender Ureter • Diabetes mellitus, Diabetes insipidus • Urethralklappen, Ureterozele, Urolithiasis)
Tabelle 5: Enuresis: Zusatzfragen* bei der Anamnese
• Isolierte Enuresis oder mit Inkontinenz am Tag assoziiert? • Primäre oder sekundäre Enuresis? • Polyurie? • Familienanamnese? • Werden in der Nacht Windeln getragen? • Psychische Faktoren? • Hyperaktivitäts- und/oder Aufmerksamkeitsstörungen? • Was wurde bis anhin unternommen?
*Weitere Fragen sind in Tabelle 2 aufgeführt.
aufwacht und zur Toilette gehen kann. Diese Methode ist mit 70 Prozent der Fälle am erfolgreichsten, Rückfälle sind weniger häufig. Sie ist allerdings auch die aufwendigste Therapie, welche Kindern wie Eltern (sie werden oft zuerst vom Alarm geweckt) eine hohe Motivation abverlangt. Um eine Wirksamkeit zu erreichen, soll man diese Alarmsysteme jede Nacht über einen Zeitraum von drei bis vier Monaten anwenden. In der Regel ist diese Technik älteren, hoch motivierten Kindern vorbehalten. Als medikamentöse Therapie kommt orales Desmopressin (Minirin®, Nocutil®) infrage, welches mit Verhaltensmassnahmen kombiniert werden kann. Desmopressin ist ein synthetisches ADH-Analogon (wirkt nur auf V2- und nicht auf V1-Rezeptoren), das die Enuresis durch eine Verminderung der nächtlichen Harnproduktion beeinflusst. Die Erfolgsrate erreicht annähernd 60 bis 70 Prozent bei sehr guter Verträglichkeit. Diese Behandlung ist bei jüngeren Kindern einfacher durchführbar, aber die Rezidivrate nach Absetzen des Medikaments ist nicht unerheblich (4). Der Arzt muss sich des Hyponatriämierisikos bewusst sein und die Familie darauf hinweisen, dass eine übermässige Flüssigkeitsaufnahme zu vermeiden ist. Oft wird Desmopressin bevorzugt kurzfristig angewendet, um unangenehme «Unfälle» in besonderen Situationen zu verhindern (Schulausflug, Wochenende ausser Haus). Die Wirkung des Desmopressins ist dosisabhängig. In der Schweiz ist orales Desmopressin zur Behandlung der Enuresis als Sublingualtablette (MinrinMelt®) und als Tablette (Nocutil®) erhältlich. Da die Sublingualtablette für jüngere Kinder einfacher zu nehmen ist, empfehlen wir die Therapie mit MinirinMelt® zu beginnen (120 μg vor dem Schlafengehen). Falls diese Dosis nicht ausreicht, kann man sie auf 240 μg erhöhen. Die Behandlung wird
Fazit
Die 2006 publizierte Definition der International Children’s Continence Society (1) ermöglicht eine exakte Klassifikation von Blasenfunktionsstörungen bei Kindern, woraus sich das angemessene Vorgehen für jeden Patienten ableiten lässt. Die intermittierende Inkontinenz am Tag und die Enuresis erfordern folglich sehr unterschiedliche Abklärungsund Behandlungsmassnahmen, obgleich beide Formen gleichzeitig bei einem Patienten vorkommen können. Bei diesen gemischten Formen der Inkontinenz gilt es vordringlich die Symptome am Tag in den Griff zu bekommen und diese für mindestens sechs Monate zu stabilisieren, bevor man mit der Behandlung der Enuresis beginnt. In jedem Fall muss man an potenzielle Differenzialdiagnosen denken und organische Anomalien ausschliessen, auch wenn die meisten Blasenfunktionsstörungen des Kindes funktioneller Natur sind. Letztlich ist es oft sinnvoll, sich selbst und die Eltern daran zu erinnern, dass es eine spontane Ausreifung der Blasenfunktion gibt und dass die meisten Symptome mit der Zeit verschwinden werden.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Alexandra Wilhelm-Bals Cheffe de Clinique Unité universitaire romande de néphrologie pédiatrique Hôpital des Enfants 6 rue Willy Donzé, 1211 Genève 14 E-Mail: Alexandra.Wilhelm-Bals@hcuge.ch
Es handelt sich um die aktualisierte Version eines Beitrags mit dem Titel «Troubles mictionnelles de l’Enfant», der erstmals in «Paediatrica» 2010, Vol 2, No 5 publiziert wurde (Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion «Paediatrica»). Der Artikel wurde in Französisch verfasst, die Übersetzung erfolgte durch Dr. Renate Bonifer, Redaktion PÄDIATRIE.
Literatur: 1. Neveus T, von Gontard A, Hoebeke P et al. The standardization of terminology of lower urinary tract function in children and adolescents:report for the standardization committee of International Children’s Continence Society. J Urol 2006; 176: 314–324. 2. Largo RH, Molinari L, von Siebenthal K, Wolfensberger U. Does a profound change in toilet-training affect development of bowel and bladder control? Dev Med Child Neurol 1996; 38 (12): 1106–1116. 3. Largo RH, Gianciaruso M, Prader A. Die Entwicklung der Darm- und Blasenkontrolle von der Geburt bis zum 18. Lebensjahr. Schweiz Med Wochenschr 1978; 108 (5): 155–160. 4. Girardin E: Enurésie et troubles mictionnels chez l’enfant. Forum Med Suisse 2002; 26: 631–636. 5. Bael An, Winkler P, Lax H, Hirche H, Gabel E, Vijverberg M, Van Zon R, Van Hoecke E, Van Gool J. Behavior Profiles in Children with functional Urinary Incontinence Before and After Incontinence treatment. Pediatrics 2008; 121: e1196–e1200. 6. Hjalmas K, Arnold T, Bower W, Caione P, Chiozza LM, von Gontard A, Han SW, Husman DA, Kawauchi A, Lackgren G, Lottmann H, Mark S, Rittig S, Robson L, Walle JV, Yeung CK. Nocturnal enuresis: an international evidence based management strategy. J Urol 2004; 171 (6 Pt 2): 2545–2561. 7. Saedi N, Schulman S. Natural history of voiding dysfonction. Pediatr Nephrol 2003; 18: 894–897. 8. Graham K, Levy J. Enuresis. Pediatr Rev 2009; 30: 165–173. 9. Schmitt BD. Nocturnal enuresis. Pediatr Rev 1997; 18: 183–191. 10. Neveus T, Eggert P, Evans J, Macedo A, Rittig S, Tekgül S, Walle JV, Yeung CK, Robson L. International Chidren’s Continence Society: Evaluation of and treatment for monosymptomatic enuresis: a standardization document from the International Children’s Continence Society. J Urol 2010; 183(2): 441–447.
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