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SCHWERPUNKT
Süchtig nach Computer und Internet?
Interventionen bei pathologischem Mediengebrauch in der Adoleszenz
Bei Jugendlichen ist die intensive Nutzung verschiedener elektronischer Medien eher die Regel als die Ausnahme. Wie in anderen Bereichen scheinen die Übergänge zwischen adoleszentärem Verhalten im Rahmen üblicher sozialer Normen und beginnender entwicklungseinschränkender Pathologie fliessend. Dennoch gibt es klinisch beobachtbare Warnzeichen für eine ungünstige Entwicklung.
Von Oliver Bilke-Hentsch
Die flächendeckende Ausstattung von Haushalten und Kinderzimmern mit modernen interaktiven Medienträgern sowie die Verfügbarkeit mobiler Kommunikationsmittel hat seit 2000 zu einer deutlichen Veränderung des Medienverhaltens bei Kindern und Jugendlichen geführt. Smartphones, iPads und interaktive PC-Spiele prägen mittlerweile die mediale Wirklichkeit von Kindern bereits ab dem zweiten Lebensjahr (1). Während der schädigende Einfluss sehr frühen Fernsehgebrauchs empirisch belegt ist, fehlen für den sich rasant entwickelnden Bereich der computeranimierten Spiele, insbesondere der Online-Rollenspiele, aussagekräftige prospektive empirische Daten. Im klinischen Zusammenhang dagegen bestimmen Patienten mit Medienauffälligkeiten im weitesten Sinne und einzelne schwer Betroffene mit klar diagnostizierbarem Internetmissbrauch beziehungsweise pathologischem Mediengebrauch das Bild (2). Weder eine empirisch nicht fundierte Aufregung über eine neue Suchtgefahr noch eine Verharmlosung ist aus ärztlicher Sicht zu befürworten. Auf dem Boden der bestehenden und weiterentwickelten Klassifikationssysteme und Handlungsansätze sind Diagnostik und Therapie einzelner Betroffener sowie eine kritische Begleitung des öffentlichen Diskurses im gesamten Bereich der Verhaltenssüchte angezeigt (3).
Klinische Klassifikation
Die klinisch-praktische Problematik des pathologischen Mediengebrauchs liegt in der Unschärfe der Gesamtbegrifflichkeit. Begriffe wie pathologische Internetbenutzung, multiple Medienabhängigkeit (4), Online-Rollenspielsucht, Internetsucht (5) oder Computersucht benennen jeweils einen Aspekt der individuellen und gesellschaftlichen Thematik (6). Befragungen unter intensiv spielenden Jugendlichen mit offenen Fragestellungen bringen einen hohen Anteil
an sogenannten «Süchtigen» hervor. Dagegen ist eine klinische Diagnostik im Einzelfall bei wegen sogenannten pathologischen Mediengebrauchs vorgestellten Patienten eher fokussiert auf (ggf. unerkannte) komorbide Störungen und nicht auf die eigentliche fragliche Suchterkrankung (7). In diesem Kontext ist auch der Suchtbegriff kritisch zu sehen, da die Selbstbezeichnung «süchtig» auch unter jugendsprachlichem und sozialem Aspekt differenziert zu werten ist. Das Wort «süchtig» steht häufig in der Jugendsprache für eine intensive Benutzung oder intensive Faszination in einem bestimmten Lebensbereich und kann daher nur in operationalisierter Form als hilfreich gelten (8). Das Aufkommen der neuen Medien und der damit verbundenen Abhängigkeitspotenziale hat nicht nur im Bereich der Pädiatrie sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, sondern auch in der Suchtforschung und Suchttherapie eine aktuelle Diskussion über den Suchtbegriff ausgelöst. Die Rückbesinnung auf traditionell empirisch fundierte Definitionen und Begriffe, wie sie zurzeit in DSM-IV und ICD-10 niedergelegt sind und sicher zunächst in den Forschungskriterien aktualisiert in DSM5 (vgl. [9]) und ICD-11 wieder auftauchen werden, stellt eine gute Basis für seriöse, klinisch-praktische Diagnostik dar. Überträgt man die ICD-10-Kriterien des schädlichen Gebrauchs beziehungsweise der Abhängigkeit bei Kindern und Jugendlichen auf pathologischen Mediengebrauch, so wird man leicht diejenigen komplexen Fälle identifizieren, die einer spezifischen Beratung und Therapie zuzuführen sind.
Normale oder pathologische Mediennutzung?
Entwicklungspsychiatrisch und technologisch gesehen ist moderne Mediennutzung bei Jugendlichen heute derartig vielfältig, dass unter Missbrauchs- oder
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Weder eine übertriebene Aufregung noch die Verharmlosung dieser neuen Suchtgefahr ist angemessen.
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im Einzelfall Suchtaspekt eine differenzierte Betrachtungsweise für breitere und jüngere Gruppen vonnöten ist (10). Während Befunde bei Erwachsenen häufiger auf die intensive Nutzung von «Cybersex» (sexuell getönte oder pornografische Aktivitäten im Internet wie Sexting) hinweisen, stehen im Kinderund Jugendbereich das exzessive vielstündige pathologische Rollenspiel wie zum Beispiel «World of Warcraft» mit extern angeregter Fantasie und multiplen Rollenangeboten sowie sogenannte «Ego-shooter»Spiele im Vordergrund (11, 12). Auch das stundenlange Nutzen sozialer Netzwerke sowie das scheinbar sinnlose Recherchieren beziehungsweise Surfen sind nicht immer harmlos, sondern können auch Teil einer entwicklungshemmenden Konflikt- und Leistungsvermeidung sein. Durch die technologischen Fortschritte und die Einsatzmöglichkeiten moderner Smartphones, die weit über das Telefonieren hinausgehen, ist die konsekutive und abwechslungsreiche Nutzung verschiedener elektronischer Medien eher die Regel als die Ausnahme bei Jugendlichen. Das Chatten, SMS-, MMSund E-Mail-Verschicken, das Spielen als solches in verschiedenen Varianten, die Bearbeitung von Hausaufgaben und das Recherchieren im Internet verschränken sich zu einem komplexen, letztlich mobilen Gesamtgeschehen (sog. «mobile boost»). Die Übergänge zwischen adoleszentärem Verhalten im Rahmen üblicher sozialer Normen und beginnender entwicklungseinschränkender Pathologie scheinen fliessend, dennoch gibt es klinisch beobachtbare Warnzeichen für eine ungünstige Entwicklung (Tabelle 1). Unterschiedliche Komponenten dieses Geschehens haben ein unterschiedliches Suchtpotenzial, wobei die bereits 1996 entwickelte Klassifikation nach Young in einer modernisierten und adaptierten Form deutlich macht, welche praktisch-klinisch relevanten Untertypen es gibt (Tabelle 2). Diese Patienten sind vom sogenannten «Nerd» zu differenzieren, der sich von früher Kindheit an intensiv für Computer und ihre Funktionsweise interessiert, mathematisch, physikalisch, kybernetisch oder ingenieurtechnisch begabt ist und früh seine Talente im Informatik- und elektronischen Arbeitssektor erkannt hat (2). Mögen diese Jugendliche auch gewisse so-
Tabelle 1: Frühe Zeichen bei pathologischem Mediengebrauch
• In der Peergroup/Partnerschaft/Familie beginnt es zu kriseln. • Es kommt zu überhöhten Telefon- bzw. Providerrechnungen (sofern keine Flatrate). • Interesse an realer Geselligkeit lässt deutlich nach. • Jeglicher Besuch wird lästig, weil man viel lieber am Computer sitzt. • In der Schule beziehungsweise am Ausbildungs-/Arbeitsplatz lassen Elan und Enga-
gement stark nach. • Schlafstörungen bis zur Tag-Nacht-Umkehr treten auf. • Man ist nicht mehr in die Familie integriert und eher Aussenseiter. • Man hat das Gefühl, von Freunden, Kollegen, der Familie nicht mehr verstanden zu
werden.
nach Bilke und Spitzcok von Brisinski 2009 (8)
ziale Defizite zeigen, pflegen sie doch ihre Talente und können später erfolgreich beruflich beispielsweise als Spieleentwickler, Programmierer oder IT-Berater tätig sein. Sowohl die Fähigkeit zur Selbstreflexion und -distanzierung als auch ihre soziale Funktionalität unterscheiden diese Menschen von Jugendlichen mit Verhaltenssüchten.
Komorbidität und Konsummuster
Sowohl in den Praxen niedergelassener Kinder- und Jugendpsychiater als auch in den Versorgungskliniken und ebenso bei den Pädiatern zeigen sich seit etwa 2003 regelmässig Patienten, bei denen im Rahmen der allgemeinen Diagnostik eine hochgradig intensive bis abhängige Beschäftigung mit verschiedenen elektronischen Medien im Vordergrund steht (2). Darüber hinaus gibt es einzelne Fälle, die explizit wegen dieser Fragestellung vorgestellt werden. Da zum jetzigen Zeitpunkt klinisch-empirische Studien in diesem Bereich nicht zuletzt wegen methodischer Probleme weitgehend fehlen, sind praktische Mitteilungen und Einzelbeobachtungen im Sinne eines heuristischen Erkenntnisgewinns in diesem Bereich vorherrschend. Typische Anzeichen eines beginnenden pathologischen Mediengebrauchs werden seit längerer Zeit definiert (8) (Tabelle 1). Verkomplizierend kommt hinzu, dass im deutschsprachigen Raum einheitliche standardisierte und objektive Fragebogenmethoden noch in der wissenschaftlichen Entwicklung sind, sodass eine eindeutige und vergleichbare klinisch-praktische Diagnostik von Verhaltenssüchten im Kindes- und Jugendalter aussteht (13). Die Orientierung an der ICD-10 beziehungsweise dem multiaxialen Klassifikationsschema für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter (MAS, Tabelle 3) ist wichtig und kann die Einheitlichkeit im klinisch-praktischen Bereich voranbringen, wird aber letztlich vom Expertenurteil des einzelnen Klinikers und seiner persönlichen Kenntnis des Themenbereichs des pathologischen Mediengebrauchs beeinflusst. Allein die erhöhte Aufmerksamkeit auf diesen Bereich und einzelne Schulungen sowie die exemplarische Darstellung von Einzelfällen können die Diagnostikund Erkennungsquote deutlich erhöhen. Besonderes Augenmerk im entwicklungspädiatrischen Kontext ist auch Patienten mit Teilleistungsstörungen und diskrepantem Intelligenzprofil zu schenken, die gegebenenfalls ohne psychiatrische Diagnose (1. Achse MAS) ein komplexes entwicklungsretardierendes Störungsbild bieten, das multiple schulische, soziale und familiäre Probleme bedingt. Sowohl für das Kind unangenehme Teilleistungsstörungen als auch den schulischen Erfolg schmälernde diskrepante Intelligenzprofile lassen sich bei intensiver Beschäftigung mit Computerspielen weitgehend ausblenden. Schwierigkeitsgrade, Rollen und Levels werden vom Spieler dahingehend eingestellt, dass individuelle Einschränkungen nicht erfolgsrelevant werden und damit ein Gesamtproblem «spielerisch» verschleiert wird.
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SCHWERPUNKT
Welche Jugendliche sind aus klinisch-praktischer Sicht gefährdet?
Der hohe Motivations- und Belohnungscharakter moderner interaktiver Computerspiele und insbesondere der Online-Rollenspiele stellt für depressive, sozialphobische, generell ängstliche oder auch Patienten aus dem Autismusspektrum eine einzigartige Möglichkeit dar, sich in einer selbstgestalteten virtuellen sozialen Situation darzustellen, zu bewähren und jederzeit an jedem Ort relevante individuelle Belohnung zu erlangen (7). Bei den internalisierenden Störungen zuzuordnenden Patientengruppen liegt die Anziehungskraft der Computerspiele weniger in einem spezifischen «Kick» des Suchtmittels als modernes Medium, sondern in der Möglichkeit, im Alltag als einschränkend und kränkend erlebte Verhaltensweisen durch Mediengebrauch kompensieren zu können und eine virtuelle Identität aufzubauen (14) . Bei einer zweiten Gruppe von Patienten, die eher dem Bereich der Störung des Sozialverhaltens und der Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörungen sowie unter Umständen der Borderlinestörung zuzuordnen sind, geht es stärker um eine schnelle Gratifikation, zügige Belohnung bei hohem direktem Einsatz und vor allem Belohnung für Schnelligkeit und Reagibilität, sodass «Ego-shooter»-Spiele und kurzfristige «Browser Games» sehr beliebt sind. Hier finden sich Patienten, die im Rahmen ihrer Primärerkrankung vor allem in den Bereichen Hyperaktivität und Impulsivität (sog. «novelty seeking»), aber auch in anderen Kontexten auffällig sind. Eine dritte, bisher kaum beachtete Gruppe besteht aus Patienten, die im Rahmen einer langfristigen familiendynamischen Entwicklung gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern in komplexe Rollenspiele (z.B. Adaptationen der Familie Sims etc.) eingebunden sind, die neben ihrer sonstigen Realität eine auch familiär unterstützte Nebenrealität entwickelt haben, um gegebenenfalls als unerträglich empfundenen sozialen Einschränkungen und Konflikten auszuweichen. Das Suchtlernen allerdings ist bei allen Gruppen in einen Kontext eingebunden, weshalb es die Fragen nach dem «Warum» und «Woher» zu beantworten gilt, um eine potenzielle Suchtentwicklung anamnestisch und verstehend herzuleiten. Die Frage nach der Funktionalität des Verhaltensmusters, also dem «Wozu», ist meist wesentlich zielführender. In den meisten Fällen sind stoffungebundene Süchte in den Kontext der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben des Jugendalters eingebunden. So kann die Mediennutzung eine wichtige Rolle bei der Begegnung mit dem anderen Geschlecht spielen, der Konstruktion von Dazugehörigkeit zur Gleichaltrigengruppe in Social Media (bei gleichzeitiger virtueller Loslösung vom Elternhaus) dienen (15) oder Teil der jugendlichen Identitäts- und Autonomieentwicklung sein. Im Sinne der Selbst-MedikationsHypothese kann stoffungebundenes Suchtverhalten der Bewältigung diverser entwicklungsbedingter psychopathologischer Phänomene dienen (2).
Therapieansätze und Interventionen
Zum jetzigen Zeitpunkt erscheint aus klinisch-praktischer Sicht multimodale kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung auf dem Boden des multiaxialen Klassifikationsschemas sinnvoll. Dies ist das aktuelle Vorgehen der meisten niedergelassenen und klinisch tätigen Kinder- und Jugendpsychiater und engagierten Pädiater (zur grundlegenden Orientierung siehe Tabelle 4). Die individuellen Entwicklungen sind klinisch sehr unterschiedlich, weswegen eine weitere Kenntnis der Potenziale technologischer Veränderungen vonnöten ist: Ähnlich wie der Therapeut bei stoffgebundenen Suchtformen über neue Stoffformen, Darreichungsformen, Toxizität, Pharmakokinetik et cetera Bescheid wissen sollte, um eine adäquate Therapie zu planen, ist es auch im Bereich der modernen elektronischen interaktiven Medien sinnvoll, die einzelnen «Darreichungsformen» sowie die Gefahrenpotenziale genauer zu kennen. Hierzu ist es unvermeidbar, sich mit den einzelnen Spielen und ihren Inhalten auseinanderzusetzen. Dabei geht es weniger um eine detaillierte Kenntnis und persönliche Erfahrung, sondern um ein prinzipielles Verstehen der Mechanismen, der Psychodynamik und der Belohnungsdynamik derartiger Spiele (16). Insbesondere unter geschlechtsspezifischen Aspekten sind die technische oder die interaktionelle Faszination der einzelnen Spiele beziehungsweise ihrer Sequenzen zu erfassen, um für Jungen und Mädchen unterschiedliche Therapieprogramme zu entwickeln. Auch der Altersaspekt spielt eine entscheidende Rolle, denn es besteht ein erheblicher klinisch-praktischer Unterschied zwischen jemandem, der sich von klein auf intensiv mit interaktiven Medien auseinandersetzt und sehr regelmässig spielt, und demjenigen, der im höheren Adoleszenzalter zur Lösung anderweitiger psychischer Probleme moderne Medien für sich entdeckt. Zeigt sich dagegen, dass das symptomatische Verhalten nicht (bzw. nicht mehr) operant gesteuert wird, sondern quasi automatisch im Sinne einer autonomen Handlungskontrollstörung erfolgt, sind therapeutische Strategien aus dem Bereich substanzbezogener Störungen indiziert und der Suchtspezialist mit einzubeziehen.
Ein Therapeut muss sich auch selbst mit den Spielen und ihren Inhalten befassen.
Tabelle 2: Typologie des pathologisches Mediengebrauchs
1. pathologisches Online-Sex-Verhalten und Online-Pornografie 2. pathologisches Chatten, E-Mail-/SMS-/MMS-Schicken 3. pathologisches Online-Rollenspiel 4. pathologisches Online-Glücksspiel 5. pathologisches Computerspielen mit Spielen hochaggressiven und destruktiven
Inhalts (sog. «Ego-shooter»-Spiele) 6. pathologisches E-Mail-Checken und zwanghaftes Recherchieren im Internet 7. pathologisches Kaufen und Ersteigern 8. Polymediomanie/multiple Medienabhängigkeit
modifiziert nach Young, 1996 (5)
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SCHWERPUNKT
Tabelle 3: Multiaxiales Klassifikationsschema seelischer Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter
Achse 1: psychiatrische Störung Achse 2: Teilleistungsstörungen Achse 3: Intelligenzprofil Achse 4: körperliche Erkrankungen Achse 5: abnorme psychosoziale Umstände Achse 6: Schweregrad
Ob als Therapieziel zeitweise notwendige Abstinenz (heute schwer durchsetzbar) oder Reduzierung auf kontrolliertes Verhalten anzustreben ist, wird im Einzelfall anhand folgender Kriterien entschieden: 1. Ausmass körperlicher Schädigung bei Fortführung
des Verhaltens; 2. soziale Unerwünschtheit beziehungsweise Straf-
bewehrung des Verhaltens (z.B. bei pädophilen Aspekten im Rahmen eines pathologischen OnlineSexualverhaltens); 3. soziale Notwendigkeit einer normalen Verhaltensausübung (z.B. bei pathologischem E-Mail-Schicken); 4. Fähigkeit, das Verhalten in einer quantitativ und qualitativ unproblematischen Form in Selbstkontrolle zu überführen und 5. motivationale Aspekte des Patienten. Die gängigen Behandlungsstrategien bestehen aus verhaltenstherapeutischen Techniken, die der Internetnutzung zeitliche und inhaltliche Grenzen setzen, jedoch nicht völlige – und heute letztlich unrealistische – Abstinenz verlangen. Durch die klare Beschreibung der Phänomenologie des Suchtverhaltens im Medienbereich und Herausarbeitung von komorbiden Störungen, Teilleistungsstörungen, Intelligenzschwierigkeiten und psychosozialen Rahmenbedingungen wird ein multimodaler individueller Therapieplan entwickelt, in dem pathologischer Mediengebrauch zumeist eine Problematik unter mehreren darstellt (13, 17).
Tabelle 4: Pathologischer Medienkonsum? Empfehlungen für Haus- und Kinderärzte
1. Es findet ein grundsätzlicher gesellschaftlicher und technologischer Wandel statt, der sich mit medizinischen Kategorien nur begrenzt beschreiben lässt.
2. 80 bis 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben ein entwicklungsfördendes, kritisches und positiv-kreatives Verhältnis zu modernen Medien.
3. 10 bis 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben ein Risiko, durch und wegen moderner Medien und deren pathologischer Nutzung seelische und körperliche Probleme zu entwickeln.
4. Die primäre Verantwortung der Familie für die Medienerziehung ist in Kombination mit der Schule und dem Kindergarten zu betonen und zu unterstützen.
5. Die eigene Beschäftigung mit aktuell bedeutenden Spielen und Freizeitaktivitäten ist unspezifisch hilfreich zum Verständnis der Kinder und Jugendlichen.
6. Eine genaue Beobachtung einzelner Entwicklungsphasen (schlechte Angewohnheit, vorübergehende Intensivbenutzung) ist angezeigt.
7. Allgemeine Empfehlungen, zum Beispiel Stundenzeiten etc., sind im Einzelfall wenig hilfreich, da die unterschiedliche Vulnerabilität, Funktionalität und Risikoproblematik des Kindes eine wichtige Rolle spielen.
8. Die spezifischen seelischen Störungen Depression, Angst, ADHS und soziale Phobie können im Einzelfall Prädiktoren für pathologischen Mediengebrauch sein.
9. Das frühzeitige genaue Erfassen seelischer und körperlicher Auffälligkeiten bei pathologischem Medienkonsum ist im Grundsatz eine kinder- und hausärztliche Aufgabe.
10. Bei Auftauchen ernsthafter Komorbidität wie Depression und erheblichem sozialem Rückzug ist eine fachärztliche Betreuung anzuraten.
nach Bilke und Spitzcok von Brisinski 2009 (8)
Klinisch-empirische Forschungsund Interventionsansätze
Im Bereich des pathologischen Mediengebrauchs sind national wie international weiterhin dringend koordinierte klinisch-epidemiologische und klinisch-therapeutische Forschungsarbeiten notwendig. Diese sind an den Gegebenheiten und Notwendigkeiten der Interventionsplanung ebenso wie an den technologischen Veränderungen zu orientieren. Nicht nur die breite Erfassung der Computer- und Internetverfügbarkeit und -nutzung sowie Studien über den Spielcharakter, sondern auch Profile von Hochrisikogruppen, geschlechtsspezifische Aspekte und letztlich alle für andere Suchtformen zutreffenden Fragestellungen sind auch im Bereich des pathologischen Mediengebrauchs zu klären. Nur durch Massnahmen auf verschiedenen Ebenen, die nicht konkurrierend, sondern komplementär geplant und eingesetzt werden, wird die Problematik klarer, und es lassen sich entsprechende Interventionen planen. Dem Kinder- und Jugendarzt wie dem Hausarzt kommen hierbei wichtige Funktionen in der Früherkennung von Störungen und der allgemeinen Beratung zu.
Zusammenfassung
• Moderne elektronische Medien, die seit etwa der Jahrtausendwende in steigender Zahl von Kindern und Jugendlichen genutzt werden, stellen neben interessanten Entwicklungsmöglichkeiten auch eine Gefahr für Risikogruppen dar.
• Ähnlich wie bei stoffgebundenen Süchten gibt es vulnerable Jugendliche mit prämorbiden Störungen, die bei sorgfältiger multiaxialer Diagnostik klassische Suchtverhaltensweisen zeigen.
• Für diese Untergruppe sind Therapieformen auf dem Boden adäquater Klassifikationssysteme zu entwickeln, sodass das praktische Problem bei noch unzureichender Forschungslage weder verharmlost noch dramatisiert wird.
• Ein enger interdisziplinärer Austausch zwischen Kinder- und Jugendärzten, Schulen, Kinder- und Jugendpsychiatern und Eltern sichert die Früherkennung und Intervention bei besonders schweren Fällen.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Oliver Bilke-Hentsch, MBA Schweizer Zentrum für Suchtfragen im Kindesund Jugendalter (SZSKJ) Zürich, Modellstation SOMOSA Zum Park 20, 8404 Winterthur E-Mail: oliver.bilke-hentsch@somosa.ch
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