Transkript
ERNÄHRUNG
Beikost: wann und wie?
Ein Interview mit Dr. George Marx, Ostschweizer Kinderspital St. Gallen
Schon lange ist klar, dass Stillen für Säuglinge in vielerlei Hinsicht das Beste ist. Und dann? Kürzlich fand in St. Gallen das dritte KIG-Symposium (Kinder im Gleichgewicht) statt. Eines der zentralen Themen: die Einführung von Beikost bei Babys. Der Pädiater und Kinderernährungsexperte Dr. med. George Marx erklärt, warum es so wichtig ist, früh mit zusätzlicher Nahrung zu beginnen.
P ÄDIATRIE: Herr Dr. Marx, woran erkennt man, dass ein Kind für die Beikost bereit ist? Dr. med. George Marx: Es muss Signale geben, dass es an zusätzlicher Nahrung interessiert ist. Es nimmt Gegenstände in den Mund, oder seine Hände spielen mit dem Essen. Es meldet sich aktiv und will das Gleiche essen wie die Eltern oder die Geschwister. Solche Zeichen zeigen, dass ein Kind für die Beikost bereit ist.
In welchem Alter ist das ungefähr? Marx: Das kommt auf das Kind an. Wenn es Zeichen gibt, dann kann Ende des vierten, Anfang des fünften Monats damit begonnen werden. Die Mutter sollte aber durchaus weiter stillen. Das langsame Zufüttern hat in dieser Phase mit dem Stillen nichts zu tun. Spätestens am Ende des sechsten Monats sollte bei jedem Kind mit der Beikost begonnen werden.
Was darf in der Beikost enthalten sein? Marx: Dazu gibt es unterschiedliche Philosophien. Manche beginnen mit Gemüse, andere mit Früchten. Man sollte anfangs aber nicht zu viel auf einmal ausprobieren, sondern zuerst einzelne Dinge testen, beispielsweise Karotten oder Kartoffeln oder bei den Früchten Äpfel, Birnen oder Bananen. Am Anfang sind es sowieso nur sehr kleine Portionen, dann hat das Kind kein Interesse mehr.
Wie sieht es mit Fleisch aus? Marx: Beim Fleisch gelten die gleichen Richtlinien. Generell ist man heute viel grosszügiger mit dem Einführen verschiedener Nahrungsmittel. Es ist viel mehr erlaubt, also auch Fleisch. Ich würde allerdings nicht gerade mit Fleisch beginnen, sondern würde zum Beispiel mit Gemüse aufbauen und dann etwas später Fleisch dazugeben. Ausserdem ist die Zubereitung von Fleisch für die Babys nicht immer ganz einfach.
Da sind Fertiggläschen einfacher … Marx: Eine Weile wurden solche Fertigprodukte verpönt. Heute ist man aber der Ansicht, dass die Gläs-
chen durchaus eine gute Alternative sind. Die Gesetzgebung zur Herstellung solcher Produkte ist so streng, dass man sich auf sie verlassen kann.
Viele Mütter wollen wissen, wie sie verhindern können, dass ihr Kind eine Allergie entwickelt. Was sagen Sie ihnen? Marx: Zumeist sind das Eltern, die selbst unter einer Allergie leiden oder einen Allergiker in der Familie haben. Sie sorgen sich, dass auch der Nachwuchs eine Allergie entwickeln könnte. Solche Kinder profitieren von einer möglichst langen Stillzeit. Im Hinblick auf die Ernährung besitzt einzig das Stillen respektive die Muttermilch einen nachgewiesenen allergieprotektiven Effekt. Wenn die Mutter nicht stillen kann, steht eine hypoallergene (HA-)Milch zur Verfügung. Sie scheint gewisse Allergie-protektive Eigenschaften zu haben, allerdings ist das nicht zweifelsfrei nachgewiesen. Laut den neuen Ernährungsempfehlungen soll früh mit der Konfrontation mit potenziell allergen wirkenden Nahrungsmitteln, wie zum Beispiel Eiern oder Milchprodukten, begonnen werden. So kann sich eine Toleranz entwickeln.
Gerade bei den Ernährungsempfehlungen für Kinder wurde in den vergangenen Jahren also eine bemerkenswerte Kehrtwende vollzogen, von der völligen Vermeidung bis hin zum möglichst frühen Kontakt mit potenziellen Allergenen … Marx: Ja, das war ein wichtiger Punkt der Podiumsdiskussion am dritten KIG-Symposium. Eine Hebamme berichtete, dass alle Beteiligten, die Therapeuten, die Hebammen, die Mütter- beziehungsweise Väterberatungen und natürlich auch die Eltern, ziemlich durcheinander sind. Wer mehrere Kinder hat, dem wurden beispielsweise beim zweiten oder dritten Kind ganz andere Dinge empfohlen als beim ersten – teilweise sogar das genaue Gegenteil. Das führt natürlich zur Verwirrung. Heute ist die immunologische Forschung deutlich weiter. Sie sagt, dass die Toleranzentwicklung, zum Beispiel gegenüber glutenhaltigem Getreide, zwischen Ende des vierten und Anfang
Dr. med. George Marx
Mit der Beikost spätestens am Ende des sechsten Monats beginnen.
2/13 31
ERNÄHRUNG
Es soll früh mit potenziell allergen wirkenden Nahrungsmitteln begonnen werden, damit sich eine Toleranz entwickeln kann.
des siebten Monats stattfindet. Deshalb sollte man in diesem Zeitfenster das System auch belasten.
Liegt die Ursache der berühmten Dreimonatskoliken eigentlich auch in der Ernährung? Marx: Eine Dreimonatskolik ist keine Diagnose, sondern eine Beschreibung. Das Wort Kolik wird im Volksmund häufig gebraucht, wir in der Klinik verwenden es aber nicht so gerne, weil dahinter sehr viele verschiedene Dinge stecken können. Das kann durchaus eine Nahrungsmittelunverträglichkeit sein, aber auch Reflux, Verstopfung, Regulationsstörungen oder Interaktionsprobleme zwischen Mutter und Kind werden darunter subsumiert. Häufig tritt so etwas eben in einer kritischen Zeit nach drei Monaten auf. Da die Kinder alle ähnliche Symptome mit Schmerzen zeigen und das Spektrum der Differenzialdiagnosen riesengross ist, fällt es manchmal schwer, das Richtige zu erkennen. Häufig entstehen aus primären Dingen auch sekundäre Interaktionsproblematiken. Das heisst, erst durch eine schmerzhafte Kolik und den daraus resultierenden Schlafmangel wird eine ursprünglich intakte Mutter-Kind-Beziehung gestört.
Es gibt heute relativ viele dicke Kinder. Wird das schon im Säuglingsalter angelegt? Marx: Das ist eine sehr interessante Sache. Wie immer spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Sicher existiert ein genetischer Hintergrund, aber natürlich verstärken auch äussere Einflüsse massiv das Auftreten von Übergewicht. Der Fötus ist also dem genetischen und epigenetischen Programm unterworfen, aber auch die Prägung über die Ernährung der Mutter und später mit Muttermilch ist essenziell. Das ist derzeit ein ganz grosses Thema. Heute weiss man, dass zum Beispiel der Eiweissgehalt in den Schoppenflaschen im Vergleich zur Muttermilch zu hoch ist. Kinder, die in den ersten Lebensmonaten mit dem gehaltvollen Schoppen ernährt werden, tragen ein höheres Risiko, übergewichtig zu werden, als gestillte Kinder. Aber wie gesagt, das ist nur ein Faktor unter vielen.
Es gibt ja ausgesprochen gierige Babys, die nicht genug bekommen können. Sind die stärker gefährdet, dick zu werden? Wie geht man mit solchen Kindern um? Marx: Ein Kind, das durch seine Anlagen tendenziell zum Übergewicht neigt, muss man auf einen guten Mix aus gesunden Nahrungsmitteln, also unterschiedlichem Gemüse und faserreicher Nahrung, einstellen. Man sollte einen gewissen Rhythmus des Essens einhalten, es sollte also nicht dauernd irgendetwas gegessen werden. Und man muss auch ab und zu Nein sagen. Eigentlich ist es ganz einfach: Das Übergewicht ist nichts anderes als ein Ungleichgewicht zwischen Einnahme und Verbrauch. Ohne Kalorien wird man nicht dick, auch wenn man die Anlage dazu hat. Gleichzeitig muss man bei Kleinkindern die Bewegung fördern.
Wie geht das am besten? Marx: Ganz wichtig ist die Limitation des Medienkonsums. Gleichzeitig sollte man mit den Kindern nach draussen gehen und sie spielen lassen. Jedes Kind hat einen natürlichen Drang zur Bewegung. Wenn es dann älter ist, sind auch Sportvereine sinnvoll. Es ist aber auch eine Einstellungssache, und zwar vor allem der Eltern. Wir haben hier in St. Gallen eine Adipositasgruppe für Kinder, die treffen sich einmal in der Woche zu einer sportlichen Aktivität. Wenn es aber schneit, kommt niemand, obwohl man ja im Schnee wunderbar Schlitten fahren könnte. Das ist eine Mentalität, die von den Eltern an die Kinder weitergegeben wir.
Ist das bei Süssigkeiten auch so? Marx: Ich würde da mit gesundem Menschenverstand vorgehen. Etwas Süsses als kleines Dessert oder als Bettmümpfeli – natürlich vor dem Zähneputzen – ist okay. Es muss aber im Rahmen bleiben. Schädlich sind die Süssigkeiten nebenbei. Also diese hochkalorischen Schokoriegel zwischendurch. Auch Süssgetränke zählen zu den Süssigkeiten. Ich würde meinen Kindern Süssigkeiten nicht verbieten, aber ich würde genau definieren, wann man Süssigkeiten nehmen darf und wann nicht. Auch da sind die Eltern gefordert.
Und bei den ganz kleinen Kindern? Marx: Im ersten Jahr überhaupt keine Süssigkeiten, im zweiten Jahr – wenn überhaupt – sehr limitiert. Wenn ein Dreijähriges dann mal ein Gummibärchen oder ein Stückchen Schokolade nimmt, ist das schon in Ordnung.
Was erwarten Sie hinsichtlich der Säuglingsernährung für die Zukunft? Marx: Was die Allergieprävention angeht, werden wir in den kommenden Jahren sicher mehr wissen. Wir werden Evidenz bekommen, was nützlich ist, was weniger nützlich ist und was keine Rolle spielt. Das andere grosse Thema wird die Rolle der Pro- und Präbiotika bei der Allergieprävention sein.
Da ist man ja im Augenblick eher zurückhaltend … Marx: Man ist zurückhaltend, weil man bis anhin hinsichtlich des Nutzens solcher Produkte noch keine gute Evidenzen hat. Man besitzt aber auch keine guten Belege dafür, dass es nichts bringt oder dass es gar schädlich ist. Das ist aber im Augenblick überhaupt das Problem bei vielen Ernährungstipps: Es fehlt noch die Evidenz. Mit dieser Gratwanderung müssen wir im Alltag zurechtkommen.
Das Interview führte Dr. Klaus Duffner.
Dr. med. George Marx, FMH Kinder- und Jugendmedizin und pädiatrische Gastroenterologie, ist wissenschaftlicher Beirat der PÄDIATRIE und leitender Arzt der pädiatrischen Gastroenterologie und Ernährung am Ostschweizer Kinderspital. Er war Mitorganisator des Symposiums «Kinder im Gleichgewicht» (KIG), das Anfang März in St. Gallen stattfand. Der diesjährige Themenschwerpunkt war «Ernährung in den ersten 1000 Lebenstagen». In einer der kommenden Ausgaben der PÄDIATRIE werden wir über diese Tagung berichten.
32 2/13