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Alkohol und Drogen in der Adoleszenz
Zwischen Ausprobieren, Risikokonsum und Missbrauch
Für die Beurteilung des Gefährdungspotenzials bei jugendlichem Risikoverhalten ist die Frage, ob jemand dieses schon an den Tag gelegt hat, weniger wichtig als die Frage nach dem «Wie». In einer konsumorientierten und relativ stark pharmakologisierten Gesellschaft erstaunt es nicht, dass sich jugendliches Risikoverhalten auch auf den Umgang mit psychoaktiven Substanzen bezieht. In diesem Beitrag werden – mit dem Fokus auf den jugendlichen Alkoholkonsum – die Grenzen zwischen Normalität und Gefährdung ausgelotet sowie Strategien und Hilfsmittel für die Praxis vorgestellt.
Von Urs Rohr
Risikobereitschaft ist auch Voraussetzung für jeden Lernprozess.
«Risikoalter Jugend»
Kindheit und Jugend sind geprägt von neuen Erfahrungen und Experimenten mit sich selbst und der Umwelt mit dem Ziel, eine eigene Identität und einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Um die anspruchsvollen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters erfolgreich zu meistern, gehen Jugendliche vielfältige Risiken für ihre körperliche, geistige und soziale Unversehrtheit ein, sei dies auf dem Sportplatz, in der Schule, im Nachtleben oder in ihren Beziehungen. Jugendliche und junge Erwachsene sind in vielen der klassischen «Risikokategorien» (Drogenkonsum, Delinquenz, Gewalt, ungeschützter Sex, Sport, Strassenverkehr, Mutproben etc.) übervertreten. Die einen – vor allem junge Männer – agieren ihr Risikoverhalten
Tabelle 1: Entwicklungsaufgaben und Funktionen von Risikoverhalten
Entwicklungsaufgaben Identitätsentwicklung
eigenes Wertesystem entwickeln
Autonomie, Ablösung von den Eltern
Aufbau von Freundschaften, Aufnahme intimer Beziehungen
Quelle: nach Raithel 2011 (2)
Funktionen des Risikoverhaltens • Ausdruck persönlichen Stils • Suche nach grenzüberschreitenden Erfahrungen
und Erlebnissen, «Bewusstseinserweiterung» • geschlechtsspezifische Stilisierung • Opposition gegen gesellschaftliche Normen und
Konventionen • Ausdruck sozialen Protests • Demonstration von Unabhängigkeit vom Elternhaus • bewusste Verletzung elterlicher Kontrolle • Missachtung elterlicher Erwartungen • Zugangserleichterung und Statuserhöhung in
Peergruppen • Kontaktaufnahme mit potenziellen Sexualpartner/innen
offensiver und auffälliger aus, die anderen zurückhaltender beziehungsweise internalisierter. Wenn vom «Risikoalter Jugend» die Rede ist, wird dies meist mit Gefährdung assoziiert. Vergessen geht dabei oft, dass «viele der jugendlichen Risikoverhaltensweisen eine positive Funktionalität für die Bewältigung von altersgerechten Entwicklungsaufgaben haben können» (1) (Tabelle 1). Tatsächlich ist Risikobereitschaft Voraussetzung für jeden Lernprozess: Wer das Risiko scheut, sich neuen Erfahrungen und Herausforderungen auszusetzen, stagniert. Wer also in der Jugend keine der «typischen» Risikoverhaltensweisen zeigt, geht allenfalls unbewusst andere Risiken für seine Zukunft ein. Verschiedene Studien liefern Hinweise darauf, dass die Zukunftsprognosen für Jugendliche, die risikoabstinent aufwachsen, keineswegs besser sind als für solche Jugendliche, die Experimente mit potenziell gefährlichen Verhaltensweisen und Substanzen machen. In der viel diskutierten Longitudinalstudie von Shedler und Block (3) wird gar postuliert, dass sich Jugendliche mit einem moderaten Experimentierkonsum von Drogen (v.a. Cannabis) gesünder entwickeln als gänzlich abstinente; Letztere seien ängstlicher, emotional gehemmter und weniger sozialkompetent. (Eine dritte Gruppe von Jugendlichen, die regelmässig Cannabis konsumierte, wird allerdings als stärker distanziert, impulsgestört und psychisch belastet beschrieben.). Bei jugendlichem Risikoverhalten ist die Frage, ob jemand dieses schon ausgeübt hat, weniger wichtig als die Frage nach dem «Wie». Angesichts der Wichtigkeit einer gewissen Experimentierfreudigkeit für die persönliche Entwicklung kann es weder ein realistisches noch ein sinnvolles pädagogisches Ziel sein, Jugendliche vor allen möglichen Risiken zu bewahren. Vielmehr wäre es ein Ziel, dass Erwachsene (Eltern, Lehrer, Beamte, Pädiater
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etc.) gewisse Leitplanken vorgeben und Unterstützung leisten, damit sich Jugendliche angesichts der vielfältigen Risiken, die das Leben mit sich bringt, bewähren können. Die Risiken des Jugendalters sind also nicht zu minimieren, sondern zu optimieren. So können die eingegangenen Wagnisse einen funktionalen Beitrag zu den Entwicklungszielen leisten, ohne die Zukunft der Jugendlichen ernsthaft zu gefährden.
Risikoverhalten Substanzkonsum
In einer konsumorientierten und relativ stark pharmakologisierten Gesellschaft erstaunt es nicht, dass sich jugendliches Risikoverhalten auch auf den Umgang mit psychoaktiven Substanzen wie Alkohol, Tabak, Cannabis und anderen Drogen bezieht, zumal dieser durchaus geeignet ist, verschiedene Funktionen von Risikoverhalten zu erfüllen (vgl. Tabelle 1). Nicht alle Jugendlichen experimentieren mit Substanzen, aber ein grosser Anteil: Ein knappes Drittel der 15-Jährigen hat bereits Erfahrungen mit Cannabis, der weitaus meistverbreiteten illegalen Substanz (4). Bei der legalen «Volksdroge Nr. 1», dem Alkohol, geben bloss 28 Prozent der 15-jährigen Jungen und Mädchen an, «nie» zu trinken (4). Knapp 20 Prozent haben mit 15 Jahren bereits einen regelmässigen Konsum von mindestens einmal pro Woche entwickelt (Abbildung), in einem Alter notabene, in dem nach Schweizer Gesetzgebung noch kein Alkohol an sie verkauft werden darf. Aufgrund der quantitativen Verbreitung des Alkohols und der individuell, aber auch gesellschaftlich anfallenden Folgeschäden wird in diesem Artikel der Fokus auf den jugendlichen Alkoholkonsum gelegt. Viele der Aussagen zu Alkohol lassen sich durchaus auf andere Substanzen übertragen, wobei bei illegalen Drogen aber immer zumindest eine zusätzliche Gefahr für Jugendliche besteht: die Illegalität und deren Begleitumstände. Man kann den adoleszenten Konsumeinstieg beklagen und den einzelnen Jugendlichen, deren Familien, der Alkoholindustrie oder «der Gesellschaft» zum Vorwurf machen. Fakt ist aber, dass es für eine Mehrheit der Jugendlichen «dazu gehört», gewisse Erfahrungen mit psychotropen Substanzen zu sammeln – für die allermeisten übrigens ohne bleibende Beeinträchtigungen. Damit soll weder der jugendliche Substanzmissbrauch verharmlost noch der Konsum von Suchtmitteln als Bedingung für eine normale Adoleszenz postuliert werden. Abstinente Jugendliche haben meist gute Gründe, auf den Konsum zu verzichten, und sollten in dieser Haltung bestärkt werden. Und nicht zu bestreiten sind auch die offensichtlichen Folgen eines verfehlten Umgangs mit Alkohol.
Zürich dokumentiert, dass zwischen 2001 und 2011 jedes Jahr durchschnittlich 5 Prozent mehr Ambulanzeinsätze wegen junger Menschen mit einer Alkoholvergiftung geleistet werden mussten (6). Wobei in diesen Studien nur ein Teil der Fälle dokumentiert sind: Nicht erfasst sind solche, die von einem Hausarzt oder gar nicht behandelt wurden. Zudem ist zu bezweifeln, dass bei Verletzungen unter starkem Alkoholeinfluss konsequent die Nebendiagnose Alkoholmissbrauch gestellt wurde. Weitere Folgeerscheinungen jugendlichen Alkoholkonsums wie gesundheitliche Beeinträchtigungen, Gewalt, Vandalismus, ungewollte Schwangerschaften et cetera sind weniger gut dokumentiert, dürften aber vergleichbar zugenommen haben wie Intoxikationen. Bemerkenswert ist, dass diese Zunahme negativer Folgen seit der Jahrtausendwende nicht mit einer generellen Zunahme der durchschnittlich getrunkenen Menge Alkohol korreliert. Eine Mehrheit der Jugendlichen scheint massvoll und risikoarm zu trinken, eine Minderheit dafür härter und schneller denn je; der jugendliche Konsum von «hartem Alkohol» hat sich seit dem Wegfall der Schutzzölle auf importierte Spirituosen (1999), der zu einer massiven Verbilligung führte, mehr als verdoppelt. Auch dies ist ein weiterer Beleg für die Wichtigkeit der Differenzierung, zwischen relativ ungefährlichem Umgang mit und schädlichem Gebrauch von Alkohol.
Aufwachsen in der «Alkoholkultur»
Wir leben in einer Gesellschaft, in der über 80 Prozent der erwachsenen Bevölkerung Alkohol konsumieren. Alkoholische Getränke gehören zu den verfügbarsten Konsumgütern, sowohl was die Dichte und die Öffnungszeiten der Verkaufsstellen als auch die Auswahl verschiedener Sorten betrifft. In einer solchen Gesellschaft muss es als Aufgabe der Adoleszenz bezeichnet werden, eine eigene Haltung und einen eigenen Umgang mit Alkohol zu entwickeln. Abstinenz als
Die Vorbildwirkung von Eltern ist trotz aller Peer-Orientierung von Adoleszenten nicht zu unterschätzen.
Folgen jugendlichen Alkoholmissbrauchs
Die augenfälligsten Folgen jugendlichen Alkoholmissbrauchs sind Alkoholvergiftungen: Im Jahr 2007 mussten laut Schweizer Krankenhausstatistik etwa 1700 Jugendliche und junge Erwachsene bis 23 Jahre mit der Diagnose Alkoholintoxikation (ICD-10, Codes F10.0, F10.1 und T51.0) hospitalisiert werden; das waren 17 Prozent mehr als 2005 (5). Eine Studie aus
Abbildung: Wöchentlicher Alkoholkonsum (mindestens einmal pro Woche) 11-, 13- und 15-jähriger Schülerinnen und Schüler im Zeitvergleich von 1986 bis 2010 (nach [4], Grafik: Sucht Schweiz www.suchtschweiz.ch/infos-undfakten/alkohol/jugendliche/)
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Je früher der Alkoholkonsum beginnt, desto grösser das Risiko, dass er problematisch wird.
einzige pädagogische Botschaft wäre realitätsfern, ja zynisch. Der Konsum von Alkohol wird heute vorwiegend in der Peergroup «erlernt» – oft im Verborgenen und unter Umgehung der geltenden Jugendschutzgesetze. Dass dies nicht unbedingt das ideale «Lernfeld» ist und dass viele der unerwünschten oder gar lebensgefährlichen Auswirkungen des Experimentierens mit Alkohol ursächlich durch dieses Setting bedingt sind, leuchtet ein. Gefragt wäre ein stärkeres Engagement von Erwachsenen mit entsprechendem Erfahrungsschatz im Umgang mit Alkohol im Sinne einer «Alkoholpädagogik», die den jugendlichen Alkoholkonsum nicht tabuisiert, sondern reflektiert. Diese Aufgabe kann nicht an eine einzelne Personen- oder Berufsgruppe delegiert werden. Damit Jugendliche einen «gesunden» Umgang mit Alkohol erlernen können, braucht es verschiedene gesellschaftliche Akteure. An erster Stelle ist hier die Familie zu nennen. Die Vorbildwirkung von Eltern, die einen risikoarmen Umgang mit Alkohol pflegen, ist trotz aller Peer-Orientierung von Adoleszenten nicht zu unterschätzen. Alkohol und andere Drogen sowie das urmenschliche Bedürfnis nach rauschhaften Zuständen sollen nicht tabuisiert, sondern altersgerecht thematisiert werden. Zudem sind die Erziehungsberechtigten die einzigen, die das Recht haben, mit unter 16-Jährigen nicht nur über Alkohol zu reden, sondern auch praktisch zu «üben». Erste Erfahrungen mit Alkohol sind im Kreis
Tabelle 2: Vier Gruppen von Konsummotiven
Positive Wertigkeit: Komplementäre Motive
Negative Wertigkeit: Kompensatorische Motive
innerhalb der Person
Verstärkungsmotive hängen mit Bedingungen in der Person zusammen und sollen positive Gefühle bringen. Beispiele: Ich trinke … … weil ich das Feeling (Gefühl) mag. … um berauscht zu sein. … weil es mir einfach Spass macht. … etc.
Bewältigungsmotive hängen mit personeninternen Bedingungen zusammen und sollen negative Gefühle mildern. Beispiele: Ich trinke … … weil es mir hilft, wenn ich niedergeschlagen oder gereizt bin. … um mich aufzumuntern, wenn ich in schlechter Stimmung bin. … um meine Probleme zu vergessen. … etc.
ausserhalb Soziale Motive
Konformitätsmotive
der Person
hängen mit der Situation zusammen hängen mit externen Bedingungen
und sollen positive Gefühle bringen. zusammen und sollen negative
Beispiele: Ich trinke …
Gefühle vermeiden.
… um eine Party besser zu geniessen. … weil es dann lustiger ist, wenn
Beispiele: Ich trinke … … um von anderen gemocht zu werden.
ich mit anderen zusammen bin. … etc.
… um mich nicht ausgeschlossen zu fühlen. … etc.
Quelle: nach Sucht Schweiz 2011 (7)
der Familie weniger gefährlich als in der Peergroup. Weitere Lebensfelder von Jugendlichen, die eine Funktion in der «Alkoholsozialisation» übernehmen können, sind Schule, Vereine oder Jugendarbeit. Hier lassen sich Informationen zu den Risiken von Alkohol vermitteln, und es kann Haltungsarbeit zu einem genussorientierten, schadensarmen Umgang mit Alkohol geleistet werden. Und, last but not least, können auch Fachleute des Gesundheitswesens dazu beitragen, dass das Aufwachsen in einer Alkoholkultur möglichst gesundheitsschonend erfolgt.
Jugendlicher Alkoholkonsum zwischen Normalität und Gefährdung
Trotz neuster Befunde, wonach auch das sprichwörtliche «Glas Wein zum Essen» mit Risiken verbunden sei, ist der Konsum von Alkohol nicht per se gesundheitsgefährdend, sondern es ist viel mehr die Art und Weise des Konsums, die zur Gefahr werden kann. Wobei sich «Art und Weise» auf die konsumierte Menge, die persönliche Verfassung und die Begleitumstände (also Dosis, Set und Setting) bezieht. Im Umgang mit Suchtmitteln existiert zwischen den beiden Extremen Abstinenz und Sucht eine grosse Bandbreite von Verhaltensmöglichkeiten. Und da die meisten Jugendlichen weder abstinent noch süchtig leben, gilt es eine differenzierte Beurteilung vorzunehmen und den Jugendlichen, je nach Konsummuster, unterschiedlich zu begegnen. Es ist ebenso verfehlt, einem risikoarm konsumierenden Jugendlichen mit der «Suchtkeule» zu drohen, wie es fahrlässig wäre, das (hoch)riskante Verhalten eines anderen Jugendlichen zu ignorieren. Um einem konsumierenden Jugendlichen adäquat zu begegnen, ist es zentral, die wichtigsten Risikodimensionen zu kennen:
Einstiegsalter Je früher der Einstieg, desto grösser das Risiko, dass der Konsum problematisch wird. Der junge Körper reagiert sensibler auf Alkohol als der adulte. Eine 16Jährige, die «mal über den Durst getrunken» hat, ist weniger gefährdet als ein 12-Jähriger, der bereits einschlägige Erfahrungen gemacht hat. Verbindliche Altersgrenzen zur Trennung von problematischem und «altersgerechtem» Konsum sind schwierig zu ziehen, da während der Adoleszenz der individuelle Entwicklungsstand nicht immer mit dem Alter korreliert. Alkoholkonsum vor dem 14. Altersjahr ist aber als zumindest bedenklich einzuschätzen.
Konsummenge und -frequenz Gemäss den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist ein täglicher Konsum von mehr als 20 Gramm reinem Alkohol für Frauen und mehr als 40 Gramm für Männer mit deutlichen Gesundheitsrisiken verbunden (chronischer Risikokonsum). Für Jugendliche fehlen entsprechende Richtlinien, die Grenzen des Unbedenklichen dürften aber deutlich tiefer liegen. Zumal bei Jugendlichen bereits «täglicher Konsum» als kritisch zu bewerten ist; die meisten Jugendlichen trinken nur am Wochenende. Als weiterer Marker für problematischen Konsum dient die Anzahl Trinkgelegenheiten mit fünf oder
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mehr Standarddrinks (ein Standarddrink entspricht 3 dl Bier, 1 dl Wein oder 4 cl Spirituosen). Ab fünf Drinks bei Männern beziehungsweise vier bei Frauen spricht man von Rauschtrinken (binge drinking), und mehr als zwei solcher Trinkerlebnisse monatlich gelten als problematisch (episodischer Risikokonsum). Nicht direkt mit der Quantität des Alkohols gekoppelt, aber doch von Bedeutung ist dessen Qualität: Die grosse Mehrheit der Jugendlichen, die eine Alkoholvergiftung erleiden, tut dies nach dem Konsum von Spirituosen. Hochprozentiger Alkohol ist schwieriger zu dosieren und führt durch den «time-lag» zwischen Konsum und Erreichen des höchsten Promillewerts viel häufiger zu Intoxikationen als Bier oder Wein. Die Unterscheidung in vergorene Getränke (Verkauf ab 16) und gebrannte Getränke (ab 18) macht also durchaus Sinn.
Konsummotive Trinkmotive können nach zwei Dimensionen unterschieden werden, nach deren Wertigkeit (positiv oder negativ) und der Motivquelle (personenintern oder -extern). Daraus ergeben sich vier Motivgruppen (Tabelle 2). Jugendliche nennen mehrheitlich die eher unproblematischen komplementären Motive für ihren Alkoholkonsum. Nur 25 Prozent geben auch Bewältigungsmotive und 5 Prozent Konformitätsmotive an, wobei auffällt, dass Mädchen häufiger kompensatorische Motive angeben als Jungen (4).
Konsumsituation Jugendliche, die auch tagsüber und/oder unter der Woche trinken, sind gefährdeter als solche, für die Alkohol ein ausschliessliches Freizeit- beziehungsweise Wochenendthema ist. Das «einsame Trinken» deutet, im Gegensatz zum «sozialen Trinken» in der Gruppe, auf erhöhte Integration des Alkohols in die persönlichen Lebensbewältigungsstrategien. Zudem gibt es auch andere «ungeeignete» Trinksituationen, die auf erhöhtes Risiko hinweisen, zum Beispiel in unsicherer Umgebung oder wenn nicht klar ist, wie man irgendwann noch nach Hause kommt …
Physische, psychische und soziale Vorbelastung Riskanter Alkoholkonsum ist oft kein isoliertes Phänomen, sondern assoziiert mit anderen Problemen. Umgekehrt ist Alkoholkonsum kritischer, wenn er mit körperlichen oder psychischen Erkrankungen oder Schwierigkeiten in Familie, Schule oder Peergroup einhergeht. Die von Jugendlichen gemachten Angaben zum Alkoholkonsum sollten also immer im Kontext ihrer Alltagssituation interpretiert werden.
Sprechstunde Alkohol
Auch wenn es nicht primäre Aufgabe der Jugendmedizin ist, Suchtprävention zu betreiben: In der pädiatrischen Praxis kann der Umgang mit Alkohol auch bei Konsultationen thematisiert werden, die nichts mit Substanzmissbrauch zu tun haben, zu einer ganzheitlichen Anamnese gehört auch der Umgang mit Suchtmitteln. Wenn der Anlass des Arztbesuchs direkt mit Alkohol verbunden ist (Unfall, Intoxikation), drängt
sich ein Ansprechen des Trinkverhaltens auf: Nie sind das Problembewusstsein und die Änderungsmotivation von Jugendlichen grösser als nach einem alkoholbedingten Unfall. Fragen zur Gefährdungseinschätzung können sich an den oben genannten Risikodimensionen orientieren. Als praxistaugliches Hilfsmittel hat sich auch der sogenannte Alcohol Use Disorders Identification Test (AUDIT) bewährt. Dieses Manual für Ärzte und Ärztinnen wurde von einem der renommiertesten Alkoholforscher, Thomas F. Babor, im Auftrag der WHO publiziert. Es ist im Internet frei verfügbar und unter Berücksichtigung des Entwicklungsstandes der Patienten durchaus in der Jugendmedizin einsetzbar (8). Mit zehn Leitfragen werden sowohl riskanter, schädlicher als auch süchtiger Konsum gescreent. Je nach diagnostiziertem Gefährdungspotenzial können weitere Interventionen ins Auge gefasst werden. Bei niedrigem Risiko sind dies vielleicht bloss einige zusätzliche Informationen zum sicheren Umgang mit Alkohol. Bei erhöhter Gefährdung empfiehlt sich zum Aufbau einer intrinsischen Motivation zur Verhaltensänderung die Methode der motivierenden Gesprächsführung (Motivational Interviewing, MI), die von Miller und Rollnick (9) begründet und seither vielfach erprobt und weiterentwickelt wurde. Zentral an MI ist die empathische und klientenzentrierte Haltung: Mit einer moralisierenden und konfrontativen Verurteilung des jugendlichen Konsumverhaltens wird eher Widerstand als Reflexion ausgelöst. Für die Anwendung von MI im medizinischen Setting hat sich der Begriff «brief intervention» (Kurzintervention) etabliert. Auch dazu existiert ein praxisorientiertes Manual der WHO von Babor (10). Wie bereits dargestellt: Pädiatrische Fachleute können einen Beitrag zum risikoarmen Umgang mit Substanzen von Jugendlichen leisten, aber sie sind weder die einzigen noch die wichtigsten Akteure in dieser Sache. Wichtig wären bei festgestelltem Alkoholmissbrauch (sofern dies mit dem Arztgeheimnis vereinbar ist) der Kontakt mit den Eltern der Jugendlichen und Schnittstellen zu Institutionen der Suchtprävention und Suchthilfe. Viele dieser regionalen oder kantonalen Fachstellen führen spezifische Angebote für Jugendliche. Eine Übersicht aller Präventions- und Beratungsstellen in der Deutschschweiz findet sich auf www.infoset.ch.
Korrespondenzadresse: Urs Rohr Bereichsleiter Familie und Freizeit Stadt Zürich Suchtpräventionsstelle Röntgenstrasse 44, 8005 Zürich E-Mail: urs.rohr@zuerich.ch
Literatur: 1. Engel U, Hurrelmann K. Was Jugendliche wagen. Eine Längsschnittstudie über Drogenkonsum, Stressreaktionen und Delinquenz im Jugendalter. Beltz-Juventa, Weinheim/München 1994; 10. 2. Raithe, J. Die Bedeutung von Risikoverhalten im jugendlichen Entwicklungsprozess. In: proJugend 4/2011; 4–7. 3. Shedler J, Block J. Adolescent Drug Use and Psychological Health: A Longitudinal Inquiry. American Psychologist 1990; 45 (5): 612–630. 4. Windlin B, Kuntsche E, Delgrande JM. Konsum psychoaktiver Substanzen Jugendlicher
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Nie ist die Änderungsmotivation Jugendlicher grösser als nach einem alkoholbedingten Unfall.
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in der Schweiz – Zeitliche Entwicklungen und aktueller Stand. Resultate der internationalen Studie «Health Behaviour in School-aged Children» (HBSC). Sucht Info Schweiz, Forschungsbericht 58. Lausanne, 2011. www.bag.admin.ch/themen/drogen (Rubrik Forschungsberichte) 5. Wicki M, Gmel G. Alkohol-Intoxikationen Jugendlicher und junger Erwachsener. Ein Update der Sekundäranalyse der Daten Schweizer Hospitäler bis 2007. Schweizerische Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme. Lausanne, 2009.www.bag.admin.ch/themen/drogen (Rubrik Forschungsberichte) 6. Holzer BM et al. Ten-Year Trends in Intoxications and Requests for Emergency Ambulance Service. In: Prehospital Emergency Care 2012; 16: 497–504. 7. Sucht Schweiz mit Unterstützung von b+g: Warum konsumiert man Alkohol? Gründe und Motive. Lausanne, 2011. www.suchtschweiz.ch/fileadmin/user_upload/DocUpload/alkohol_motive.pdf 8. Babor TF et al. AUDIT – The Alcohol Use Disorders Identification Test. Guidelines for Use in Primary Care. WHO 2001. www.who.int/substance_abuse/publications/alcohol/en/ 9. Miller WR, Rollnick S. Motivational interviewing: Preparing people to change addictive behavior. Guilford Press, New York, 1991. 10. Babor TF, Higgins-Biddle JC. Brief Intervention. For Hazardous and Harmful Drinking. A Manual for Use in Primary Care. WHO, 2001. www.who.int/substance_abuse/publications/alcohol/en/
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