Transkript
MEDIZINGESCHICHTE
Zur Kulturgeschichte der Beschneidung im Säuglingsalter
In der Debatte um die Beschneidung von Knaben wurden die Würde des Säuglings, seine Gesundheit, sein Wohlbefinden und sein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben häufig nicht berücksichtigt. Offensichtlich hat die Gesellschaft weder die Bedeutung des grundlegenden Wandels in der Haltung der Fachleute zum Umgang mit Säuglingen noch die Stärkung der Rechte des Kindes während der letzten Jahrzehnte zur Kenntnis genommen.
Von Friedrich Manz
In vielen Kulturen ist die Genitalbeschneidung Bestandteil von Riten der Initiation, der Fruchtbarkeit, der Kontrolle der Sexualität und des Gemeinschaftslebens (2). Man unterscheidet die Entfernung der Vorhaut, die Zirkumzision (islamische Völker, Juden), das Einschneiden der Vorhaut, die Inzision (Indonesien, Ozeanien, Amerika) und das Aufschneiden der Harnröhre, die Subinzision (Australien). In der jüdischen Gesellschaft werden gesunde männliche Neugeborene am 8. Lebenstag beschnitten. Auch einige islamische Gesellschaften beschneiden Säuglinge. In Deutschland ist die Beschneidung eine seit über tausend Jahren gängige Praxis. Sie spielte als Argument im antisemitischen Diskurs der christlichen Mehrheitsgesellschaft keine zentrale Rolle.
Die Beschneidung im Alten und im Neuen Testament
Die Beschneidung wird im Alten Testament in verschiedenen Zusammenhängen erwähnt. Abraham erhält den Auftrag, «alles, was männlich ist», zu beschneiden als «Zeichen des Bundes» zwischen Gott und ihm sowie seinen Nachkommen (3a). Ismael, sein Sohn, ist zu diesem Zeitpunkt 13 Jahre alt (3b). Weitere Nachkommen, wie Isaak, sollen im Alter «von acht Tagen» beschnitten werden (3a). Auf Jakobs Flucht sind die Männer von Sichem bereit, mit Jakobs Sippe eine gemeinsame Sippe zu bilden, und beschneiden sich deshalb (3c). Über lange Zeit scheinen Neugeborene jedoch nicht oder nur sehr unregelmässig beschnitten worden zu sein. Moses beschnitt die Israeliten vor dem Auszug aus Ägypten (3d), und Josua tat dasselbe vor dem Einzug in das gelobte Land, «denn die Kinder Israels wandelten 40 Jahre in der Wüste» und «waren auf dem Wege nicht beschnitten» worden (3e). Umstritten ist die Aussage der folgenden Beschneidungsszene: «Und als er (Moses) unterwegs
in der Herberge war, kam ihm der Herr entgegen und wollte ihn töten. Da nahm Zippora (Moses’ Frau) ein Stein(-messer) und beschnitt ihrem Sohn die Vorhaut, und rührte ihm seine Füsse an und sprach: Du bist mir ein Blutbräutigam» (3f). Seltsam hört sich ferner folgender Bericht an: David überbringt Saul die Vorhäute von 200 gefallenen Philistern und erhält darauf Sauls Tochter Michal zur Frau (3g). In der Spätbronzezeit waren Brandopfer der Erstgeborenen im südöstlichen Mittelmeerraum weit verbreitet. Auch die Könige Ahas (741–725 v. Chr.) und Manasse (696–642) von Juda liessen ihre Söhne «durchs Feuer gehen» (3h). Ähnlich lautet es auch im zweiten Buch Mose: «Den Ertrag deines Feldes und den Überfluss deines Weinberges sollst du nicht zurückhalten. Deinen ersten Sohn sollst du mir geben. So sollst du auch tun mit deinem Stier und deinem Kleinvieh. Sieben Tage lass es bei seiner Mutter sein, am achten Tage sollst du es mir geben» (3i). Religionshistoriker betrachten die Beschneidung der neugeborenen Jungen im Judentum am achten Lebenstag seit der Zeit der babylonischen Gefangenschaft im sechsten Jahrhundert vor Christus als ritualisierte Minderform des Kindesopfers. Paulus, der Begründer des Christentums als Weltreligion, mass der Beschneidung keine Bedeutung zu: «Denn in Christo Jesu gilt weder Beschneidung noch Vorhaut etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist» (3j). Allerdings zählte die Vorhaut Christi im Mittelalter zu den wichtigsten Reliquien, und der 1. Januar, der Tag der Beschneidung Christi, war ein wichtiger Feiertag (4).
Die religiöse Beschneidung in der Moderne
Im Trend der Aufklärung wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch innerhalb des Judentums erste
38 1/13
MEDIZINGESCHICHTE
kritische Stimmen zur Beschneidung laut. In der Folge verzichteten verschiedene jüdische Familien auf die Beschneidung ihrer Söhne. Das bekannteste Beispiel ist Sigmund Freud (5). Neuerdings gibt es auch in Israel eine Bewegung, die die Beschneidung ablehnt. Derzeit sollen etwa 2 Prozent der israelischen Jungen unbeschnitten sein (6). Insgesamt hat die Kritik an der Beschneidung die Akzeptanz derselben in der jüdischen Bevölkerung bisher nicht wesentlich berührt. Allerdings sieht das Beschneidungsritual heute anders aus als vor 200 Jahren (5). Damals lag es ausschliesslich in der Hand der nicht ärztlichen Beschneider, der Mohelim. Heute wird die Beschneidung zunehmend von Ärzten ausgeführt. Damals saugte der Mohel das Blut aus der Wunde, um die Blutung zum Stehen zu bringen (Mezizah). Mitte des 19. Jahrhunderts wurden jedoch einzelne Fälle der Ansteckung des Neugeborenen mit Syphilis beziehungsweise Tuberkulose durch den Mohel bekannt. Diese Praxis wurde deshalb 1844 in Frankreich und dann auch in den meisten deutschen Ländern verboten. Heute wird die Ansteckung mit Herpesviren besonders befürchtet, da eine Herpesinfektion beim Neugeborenen häufig tödlich verläuft. Dennoch wird die Mezizah auch heute noch in einzelnen Regionen praktiziert.
Indikationen, Kontraindikationen und Komplikationen
Die wichtigste Indikation zur Beschneidung bei Säuglingen als Heilbehandlung ist die Phimose. Häufig reicht bei diesen Patienten jedoch schon die lokale Anwendung einer hormonhaltigen Salbe. Die vorzeitige mechanische Lösung der Verklebungen der Eichel mit der Vorhaut, die bis in die Siebzigerjahre häufig praktiziert wurde, wird heute allgemein abgelehnt, da sich die Verklebungen in den ersten Lebensjahren spontan lösen und die dabei oft gesetzten Verletzungen Ursache für eine sekundäre Phimose sein können. Medizinische Kontraindikationen gegen eine Beschneidung sind anatomische Besonderheiten (u.a. Hypo- und Epispadie, Torsionen des Penis, intersexuelles Genitale) und besondere Erkrankungen (u.a. Blutgerinnungsstörungen, akute Erkrankungen). Die Stanford School of Medicine klärt die Eltern über folgende 18 Komplikationen auf (7). Etwa 2 Prozent der Patienten weist eine beziehungsweise mehrere dieser Komplikationen auf. Blutungen sind besonders häufig. Gefürchtet ist insbesondere eine Verletzung der Arteria frenularis. In dem nur sehr schwer trocken und sauber zu haltenden Genitoanalbereich besteht eine erhöhte Infektionsgefahr. Eine Sepsis mit einem Klinikkeim wie dem Methicillin-resistenten Staphylococcus aureus (MRSA) kann rasch tödlich enden. Ferner sind die Entfernung von zu viel oder zu wenig Vorhaut, Hautbrücken, Zysten, Narbenbildungen, Entzündungen und Stenosen an der Urethramündung, Harnrückstau, Phimosen, Penisverbiegungen, Hypound Epispadie, Fisteln, Penisnekrosen, eine Amputation der Glans penis und der Tod zu befürchten. Leider fehlen seriöse Angaben über die Häufigkeit der
Beschneidung Christi; Flügelretabel Brabant, um 1480 (Foto: Andreas Praefcke).
Im Mai 2012 beurteilte das Landgericht Köln die Beschneidung bei einem 4 Jahre
alten Knaben, einem Kind muslimischer Eltern, als rechtswidrige Körperverletzung (1).
In der anschliessenden Debatte wurden dem Urteil Fremdenfeindlichkeit unterstellt
sowie die Missachtung des Elternrechtes und der Religionsfreiheit. Im Dezember 2012
wurde in Deutschland die Beschneidung von Knaben gesetzlich neu geregelt. Trotz er-
heblicher Proteste, unter anderem auch von den deutschen Pädiatern, wurde ein Ge-
setz verabschiedet, wonach die Beschneidung von Knaben in Deutschland erlaubt
bleibt. Sie soll von einem Arzt vorgenommen werden, darf jedoch in den ersten sechs
Lebensmonaten auch durch religiöse Beschneider erfolgen.
Auch in der Schweiz ist die Beschneidung von Knaben erlaubt. Eine gesetzliche Rege-
lung gibt es dafür aber nicht. Im Zusammenhang mit der Diskussion in Deutschland
gab es an manchen Spitälern in der Schweiz einen vorübergehenden Stopp der Be-
schneidung von Knaben, sofern keine medizinische Indikation dafür vorlag. Dieser
Stopp ist mittlerweile wieder aufgehoben. Es ist gängige Praxis – und an manchen
Spitälern ausdrücklich vorgeschrieben –, dass in einem eingehenden Beratungsge-
spräch mit den Eltern versucht wird, sie zu einer Verschiebung des Eingriffs zu bewe-
gen, bis der Knabe im Alter von 12 Jahren selbst zustimmungsfähig ist. Prinzipiell soll
der Eingriff in einem Spital mit entsprechender Erfahrung durchgeführt werden.
Die Beschneidung von Mädchen und Frauen ist in der Schweiz, wie auch in Deutsch-
land und anderen europäischen Ländern, als schwere Körperverletzung strengstens
verboten; sie wird strafrechtlich verfolgt.
RBO
1/13 39
MEDIZINGESCHICHTE
Komplikationen. Die häufig zitierte Angabe von etwa 100 Todesfällen unter den jährlich etwa 1,2 Millionen beschnittenen männlichen Neugeborenen in den USA beruht auf einer fragwürdigen Schätzung (8). Müssig scheint derzeit auch ein Vergleich der Komplikationsraten von Mohelim und Ärzten zu sein, da die Beschneidung durch Ärzte häufig von jungen, unerfahrenen Assistenten zu «Lehrzwecken» ausgeführt wird.
Nicht religiöse Motive
für die Beschneidung
Seit Anbeginn der modernen Chirurgie im 19. Jahr-
hundert wurde die Beschneidung auch zunehmend
aus nicht religiösen Motiven durchgeführt (2). Das
erste nicht religiöse, angeblich medizinische Motiv
war die Onanie. Zum Schutz vor den damals vermute-
ten zerstörerischen Folgen der Onanie wurden zahl-
reiche Jungen und auch Mädchen (!) beschnitten.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Hygiene
eine Leitwissenschaft. Plötzlich galt die Vorhaut-
tasche als ein schmutziges Reservoir gefährlicher
Keime. Die Beschneidung männlicher Neugeborener
wurde so zu einem Routineeingriff in den USA, nicht
jedoch in Europa.
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde auf immer
neue angebliche Vorteile einer Beschneidung hinge-
wiesen. In den Dreissigerjahren zeigten epidemiologi-
sche Studien, dass beschnittene Männer ein geringe-
res Risiko tragen, ein Peniskarzinom zu entwickeln. In
den Fünfzigerjahren wurde auf das reduzierte Risiko
von Ehefrauen von Beschnittenen, an Gebärmutter-
halskarzinom zu erkranken, hingewiesen und in den
Sechzigerjahren auf die geringere Infektionsrate an
Geschlechtskrankheiten. In den Achtzigerjahren zeig-
te sich, dass beschnittene Neugeborene während des
ersten Lebensjahres seltener an einem Harnwegs-
infekt erkranken, und in den Neunzigerjahren wurde
eine verminderte Ansteckungsgefahr für Aids in eini-
gen afrikanischen Gesellschaften nachgewiesen.
All diese Erkrankungen haben eine multifaktorielle
Genese. Das Urteil über den gesundheitlichen Nutzen
der Beschneidung beim männlichen Neugeborenen
hängt also nicht nur von einer
Nutzen-Risiko-Abwägung ab,
sondern auch von alternativen
Vorsorgemassnahmen. «Bei
normalen anatomischen Ver-
hältnissen haben Sauberkeit
und Genitalhygiene denselben
vorbeugenden Effekt» auf die
Entwicklung eines Peniskarzi-
noms «wie die Beschneidung»
– urteilte der wissenschaftliche
Beirat der Ärztekammer 1973
(9). Das Gebärmutterhalskarzi-
nom geht auf eine Infektion mit
Papillomaviren zurück. Seit ei-
nigen Jahren verfügen wir über
einen Schutz durch eine spezi-
fische Impfung. Kondome
Protest gegen die Pro-Beschneidungs-Statements der American
schützen nahezu vollständig
Academy of Pediatrics (AAP) gibt es schon seit Längerem; hier Protest- vor einer Infektion mit Ge-
plakate am Rand der AAP-Tagung 2005 (Foto: cc, dbking).
schlechtskrankheiten
ein-
schliesslich Aids, während die Beschneidung das Risiko der Ansteckung nur etwas senkt. Nur etwa jeder 100. unbeschnittene männliche Säugling würde durch die Beschneidung vom Schutz vor einem Harnwegsinfekt profitieren. Niemand wird ernsthaft erwägen, 99 Säuglinge zu beschneiden, nur damit einem Säugling eine Antibiotikatherapie bei einem Harnwegsinfekt erspart bleibt. Schliesslich gibt es zurzeit in den USA einen Trend zur Beschneidung aus ästhetischen Gründen auf dem Hintergrund, dass Pornodarsteller in aller Regel beschnitten sind. Bei einer Volksabstimmung in Los Angeles im November 2012 stimmte die Mehrheit für den Antrag einer «Safer-Sex»-Initiative. Danach müssen die Pornodarsteller zukünftig während der Dreharbeiten Kondome tragen (10). Ob dies auch den Trend zur Beschneidung aus ästhetischen Gründen bremsen wird?
Die umstrittene Stellungnahme der AAP
Im August 2012 bezog die American Academy of Pediatrics (AAP) ganz kurz und summarisch zur Beschneidung bei männlichen Neugeborenen Stellung: «Die gesundheitlichen Vorteile der Beschneidung überwiegen deren Risiken und rechtfertigen eine Kostenerstattung durch Dritte. (Die Vorteile) sind jedoch nicht gross genug, um eine allgemeine routinemässige Beschneidung zu empfehlen.» (11) Viele wissenschaftliche Expertengruppen ausserhalb der USA, insbesondere auch aus Deutschland, können hingegen bei den bestehenden gesundheitlichen Standards in ihren Ländern keine gesundheitlichen Vorteile erkennen, wohl aber konkrete Risiken, und sie sind in Sorge um mögliche Langzeitfolgen der Beschneidung (12). Möglicherweise haben religiöse und kommerzielle Interessen die aktuelle Stellungnahme der AAP stärker beeinflusst als die vorhergehenden, ausführlicheren und zurückhaltender formulierten Stellungnahmen (13). Immerhin ist die Beschneidung in den USA mit einer Gebühr von 160 bis 600 US-Dollar pro Eingriff ein wichtiger gesundheitsökonomischer Posten.
Der Schmerz der Säuglinge wurde verleugnet
Bis vor 30 Jahren wurden Säuglinge ohne Schmerzmittel operiert: «Was wie Schmerz aussieht, ist nur eine Reflexreaktion auf Rückenmarksebene» oder «ohne Schmerzgedächtnis können sie sich auch nicht an Schmerzen erinnern». Dies sind zwei beispielhafte Rationalisierungen für den zwischen etwa 1850 und 1970 herrschenden rohen Ton im Umgang mit Säuglingen (2). Vom ersten Lebenstag an wurden die Babys unter anderem mithilfe der streng reglementierenden Stillempfehlungen diszipliniert; man liess sie nachts durchschreien, und die Mutter-Kind-Beziehung wurde als Kampfbeziehung missverstanden. In diesem Klima schien die Beschneidung ein harmloser Eingriff zu sein. Seither hat sich die Einstellung dem Säugling gegenüber glücklicherweise grundlegend gewandelt (2). Anstelle eines tierischen, passiven, chaotischen,
40 1/13
MEDIZINGESCHICHTE
triebhaften, unbeseelten Mängelwesens betrachten wir heute den Säugling als einen in einer besonderen Entwicklungsphase stehenden, sensiblen, lernfähigen und -begierigen, beziehungsfähigen und -bedürftigen Menschen. Wichtige Meilensteine dieser Entwicklung waren: Das klassische Eltern-Kind-Rollenverhalten wurde durch eine persönliche Beziehung von Eltern und Kind abgelöst. An die Stelle von Projektionen und selbstbezogener Mitleidsbekundungen trat eine von Verständnis für die individuellen Bedürfnisse und Möglichkeiten des Babys getragene empathische Grundhaltung. Das Erschrecken über den unreflektierten allgemeinen Umgang mit Gewalt Kindern gegenüber und die weite Verbreitung von Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch bis in die Siebzigerjahre führte dazu, dass 1980 im bürgerlichen Gesetzbuch in Deutschland der Begriff elterliche Gewalt durch den Begriff elterliche Sorge und im Jahr 2000 durch das Recht des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung ersetzt wurden. Auch in der Tiermedizin hat sich einiges getan: In Deutschland ist beim Hund das Kupieren der Ohren seit 1987 und des Schwanzes seit 1998 verboten. Ab 2017 sollen auch das Kupieren der Schwänze und betäubungslose Kastrieren bei Schweinen sowie das Schnabelkürzen bei Hühnern verboten sein. In der Pädiatrie wurde die skandalöse Verleugnung kindlicher Schmerzen bis in die Achtzigerjahre durch die Vermeidung und sorgfältige Behandlung kindlicher Schmerzen abgelöst. 1994 wies der Finne Taddio nach, dass beschnittene Neugeborene noch nach mehreren Monaten bei einer Impfung länger schreien als unbeschnittene Säuglinge (14). Die Beschneidung ist also im «Körpergedächtnis» bleibend präsent. Die Traumaforschung der Achtziger- und Neunzigerjahre zerstörte den Mythos, dass traumatische Erlebnisse in den ersten drei Lebensjahren ohne Folgen blieben.
Rechtswidrige Körperverletzung?
Die Kinderchirurgen Maximilian Stehr und Hans-Georg Dietz aus München entwickelten Zweifel an der Zulässigkeit der medizinisch nicht indizierten Beschneidung bei Knaben. 2008 wiesen sie in einer gemeinsamen Publikation mit dem Kriminologen Holm Putzke in der «Monatsschrift für Kinderheilkunde» darauf hin, dass die Beschneidung von minderjährigen Knaben eine rechtswidrige Körperverletzung darstelle (15). Das Landgericht Köln stützte sich in seinem Urteil über die Beschneidung eines 4-jährigen muslimischen Jungen im Mai 2012 im Wesentlichen auf diese Rechtsauffassung (1). Die Beschneidung verletze als irreversible Körperverletzung das Recht des nicht einwilligungsfähigen Kindes auf körperliche Unversehrtheit. Die elterliche Einwilligung verstosse gegen das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung. Die Religionsfreiheit müsse zurückstehen, da sie dem Interesse des Kindes zuwiderlaufe, später selbst über seine Religionszugehörigkeit zu entscheiden. Das Urteil aus Köln löste eine lebhafte Debatte aus. Auf der einen Seite standen die Religionsgemeinschaften der Muslime und Juden, die sich auf eine jahrtausendealte Tradition, das Elternrecht und die Religionsfreiheit beriefen. Auf der anderen Seite stan-
den die Kinderärzte, Kinderchirurgen, Kinder- und Jugendpsychiater sowie Kinderrechts- und Kinderschutzverbände, die das Wohl des nicht einwilligungsfähigen Kindes betonten (12). Der deutsche Bundestag forderte in einer Resolution vom 19. Juli 2012 die Regierung auf, «unter Berücksichtigung der grundgesetzlich geschützten Rechtsgüter des Kindeswohls, der körperlichen Unversehrtheit, der Religionsfreiheit und des Rechts der Eltern auf Erziehung» einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sicherstellt, «dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässig ist». Seit dem 1. Oktober 2012 lag ein Entwurf für den neuen § 1631d des Bürgerlichen Gesetzbuches in Deutschland vor (16); dieser Entwurf wurde am 12. Dezember 2012 vom Parlament als neues Gesetz beschlossen. Dort heisst es erstens: «Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichtsund urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird.» Und zweitens: «In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen … durchführen, wenn sie besonders ausgebildet und, ohne Arzt zu sein, … vergleichbar befähigt sind.» Dieses neue Gesetz enthält verschiedene Widersprüche wie unter anderem, dass Schmerzzäpfchen und -salben nur sehr begrenzt wirken, Lokalanästhesien und Narkosen aber nur von Ärzten durchgeführt werden dürfen. Was bedeutet in diesem Zusammenhang «nach den Regeln der ärztlichen Kunst»? Was soll in diesem Zusammenhang der Hinweis auf das Kindeswohl bedeuten? Es fällt schwer, dies nicht als zynisch zu empfinden. Verschiedene Abgeordnete der Oppositionsparteien haben einen alternativen Gesetzesentwurf vorgelegt: Die medizinisch nicht erforderliche Beschneidung soll demnach nur erlaubt sein, wenn das Kind 14 Jahre alt, einsichts- und urteilfähig ist und der Eingriff von einem Arzt/einer Ärztin durchgeführt wird.
Ausblick
Ich bin davon überzeugt, dass das Beschneidungsritual bei Neugeborenen in einem Klima zunehmender Humanisierung zwischenmenschlicher Beziehungen auf die Dauer nicht bestehen kann. Allerdings sollte die Änderung eines jahrtausendealten religiösen Ritus nicht mithilfe des Strafgesetzes erzwungen werden. Hoffen wir, dass eine geduldige und taktvolle Information der Eltern über das akute Leid und die Gefahr von Nebenwirkungen der Beschneidung dazu führt, dass dieses archaische Ritual, wie schon andere vor ihm, nach und nach aufgegeben wird, denn nahezu alle Eltern wünschen ihrem Baby nur das Beste. Warum sollte ein Ritual, bei dem kein Blut fliesst, unmöglich sein? Zwischenzeitlich ist die Wissenschaft aufgerufen, ers-
1/13
41
MEDIZINGESCHICHTE
tens objektive Daten über die Häufigkeit von Komplikationen bei der Beschneidung Neugeborener zu sammeln, zweitens die Hypothese der Langzeitwirkung der körperlichen und psychischen Traumatisierung zu verifizieren – insbesondere auch die Frage nach einem möglichen Sensibilitätsverlust des Genitales (17) – und drittens die Auswirkungen der Beschneidung auf die Kultur und Religion der betreffenden Gesellschaften zu erforschen.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Friedrich Manz Bierkamp 17 D-44225 Dortmund E-Mail: fr.manz@t-online.de
Literatur: 1. Landgericht Köln, 2012, Aktenzeichen: 151 Ns 169/11; NRW 2128. 2. Manz F. Wenn Babys reden könnten! Förderergesellschaft Kinderernährung Dortmund, 2011. 3. Die Bibel (Luther). Privilegierte Württembergische Bibelanstalt Stuttgart 1905: 3a: 1. Moses 17,10–14; 3b: 1. Moses 17, 25; 3c: 1. Moses 24, 15–24; 3d: 2. Moses 12, 44, 48 ; 3e: Josua 5, 2–9; 3f: 2. Moses 4, 24–26: 3g: 1. Samuel 18, 25–27; 3h: 2. König. 16,3 und 2. König. 21,6; 3i: 2. Mose 22, 28–29; 3j: Galater 5,6. 4. von Braun C. 2012. Der Preis des Geldes. Aufbau Berlin S. 132 f.
5. Jütte R. Die Rolle der Ärzte im Diskurs über die Beschneidung – oder: Was lehrt uns die Medizingeschichte. Kinder- und Jugendarzt 2012; 43: 520–523. 6. Ahituv N. Even in Israel, more and more parents choose not to circumcise their sons. Haaretz 14. Juni 2012. 7. Stanford School of Med. http://newborns.stanford.edu/CircComplications.html 8. Bollinger D. Lost boys: An estimate of U.S. circumcision-related infant deaths. Thymos: Journal of Bodyhood Studies 2010; 4: 78–90. 9. Wissenschaftlicher Beirat der Ärztekammer. Zirkumzision bei männlichen Neugeborenen. Deutsches Ärzteblatt 1973; 70: 17. 10. mobil.stern.de/panorama/kalifornien-porno-industrie-will-gegen-Kondompflicht-klagen-1923167.html 11. American Academy of Pediatrics. Circumcision policy statement. Pediatrics 2012; 130: 585–586. 12. Kommission für ethische Fragen der Deutschen Akademie für Kinderheilkunde und Jugendmedizin. Beschneidung von minderjährigen Jungen. Monatsschrift für Kinderheilkunde 2012; 160: 996–1000. 13. Kupferschmid C. Gibt es einen «Circumcision Bias»? Kinder- und Jugendarzt 2012; 43: 588–592. 14. Taddio A, Goldbach M, Ipp M, Stevens B, Koren G. Effect of neonatal circumcision on pain response durin vaccination in boys. Lancet 1994; 344: 291–292. 15. Putzke H, Stehr M, Dietz HG. Strafbarkeit der Zirkumzision von Jungen. Monatsschrift für Kinderheilkunde 2008; 156: 783–788. 16. Bundesministerium für Justiz, 2012, www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/pdfs/ RegE%20Gesetz_ueber_den_Umfang_der_Personensorge_bei_einer_Beschneidung_des_maennlichen_Kindes.html?nn=13562881 17. Frisch M, Lindholm M, Grfnbeck M. Male circumcision and sexual function in men and women: a survey-based, cross-sectional study in Denmark. Int J Epidemiol 2011; 40: 1367–1381.
42 1/13