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Schulverweigerung und Schulphobie
PSYCHOLOGIE
Der Artikel beschreibt anhand einiger Fallbeispiele das Phänomen schwerer Schulverweigerung. Ein Behandlungsansatz, der die kindliche Entwicklung in den Mittelpunkt rückt, wird skizziert. Dadurch lassen sich grosse seelische Nöte und ökonomische Kosten vermeiden.
Von Christian Ziegler
In meiner 25-jährigen Berufstätigkeit als Kinderpsychiater sind immer wieder Kinder und Jugendliche nach einer langen Odyssee und in grosser Not bei mir gelandet, weil sie sich weigerten, zur Schule zu gehen. Nicht nur ihre Not stach hervor, sondern auch die Schwierigkeit, ihnen zu helfen, denn sie und ihre Familie verhielten sich gleichsam wie Ertrinkende, die wild um sich schlagen. Diese Kinder und Jugendlichen gehen nicht oder nur mit grösster Mühe zur Schule. Es ist in der Regel nicht zu eruieren, ob sie sich weigern, in die Schule zu gehen, oder ob sie Angst davor haben – jedenfalls findet sich kein eindeutiger Angstauslöser, dessen Beseitigung das Problem beheben würde. Es gibt aus dem angelsächsischen Raum Einteilungen zur Schulverweigerung, die sich nach dem Brennpunkt der Schwierigkeiten richten: im Schulunterricht, in der Pause, in der Familie, im Freundeskreis oder beim Betroffenen selbst. Und je nachdem, in welchem Bereich das Vermeidungsverhalten am ausgeprägtesten ist, soll man therapeutisch ansetzen. Nach meiner Erfahrung gehen diese verschiedenen Bereiche jedoch oft ineinander über, oder sie sind nicht klar zu definieren. Auf jeden Fall sollten ungünstige Verstärker beseitigt werden: Vor allem darf das Kind zu Hause nicht mit vergnüglichen Dingen unbeabsichtigt «belohnt» werden, wenn es den Weg in die Schule nicht gefunden hat. Diese Gefahr besteht insbesondere, wenn das Kind angesichts eines «Termins» mit der Schule scheusslich leidet, ihm es auf wundersame Art und Weise jedoch schnell wieder blendend geht, sobald der Termin «geplatzt» ist.
Leitsymptome und Abgrenzung anderer Schulprobleme
Leitsymptome der Schulverweigerung sind periumbilikale Bauchschmerzen und Übelkeit vor Schulbeginn. Zudem strahlen die Kinder eine Aura der «Unwirklichkeit» aus, sie sind nicht im Hier und Jetzt. Daneben
besteht ein zweites Problem in Form depressiver Stimmung, allgemeiner Ängstlichkeit oder wiederkehrender funktioneller Körperschmerzen. Differenzialdiagnostisch wird die Schulphobie selbstverständlich unterschieden von organischen Bauchbeschwerden. Psychologisch ist sie abgegrenzt vom Schulschwänzen, das heimlich durchgeführt wird, und von den vielfältigen Schulängsten, bei denen eine Ursache wie Schwierigkeiten mit dem Schulstoff, den Kameraden oder den Lehrern gefunden werden kann.
Entwicklungspsychologische Aspekte
Entwicklungspsychologisch befinden sich die Kinder bei Schuleintritt im Übergang von der impulsiven zur selbstgenügsamen Entwicklungsphase (1). Wenn dieser Übergang gelingt, werden die Kinder schulreif und stören den Unterricht nicht mit ihren Impulsen. Piaget hat den Unterschied zwischen diesen beiden Phasen auf der kognitiven Ebene mit seinem berühmten Experiment schön gezeigt: Wird vor den Augen des Kindes eine Flüssigkeit von einem hohen schmalen Glas in ein breites niedriges Glas geleert, sagen die Kinder, die sich in der impulsiven Phase befinden, dass im hohen Glas mehr Flüssigkeit war als im niedrigen, obwohl sie das Umleeren selbst beobachtet haben. Die Kinder der selbstgenügsamen Phase geben dann die richtige Antwort. In der impulsiven Phase SIND die Kinder noch in ihrer Wahrnehmung gefangen, danach HABEN sie eine Wahrnehmung und können diese steuern. Kinder mit Schulverweigerung sind in ihrer Entwicklung unsicher und fallen unter Stress vermehrt in die impulsive Phase zurück. Die impulsive Phase ist aber nicht dafür geeignet, für eine geplante Tätigkeit selbstständig das Elternhaus zu verlassen. Unter Stress sind alle Menschen, auch Erwachsene, in Gefahr, in kindlichere Phasen zurückzufallen, aber es kommt eben auf das Ausmass an. Auch darf man sich bei den schulverweigernden Kindern nicht davon irri-
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Das Kind darf zu Hause nicht unbeabsichtigt «belohnt» werden, wenn es der Schule fernbleibt.
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Schulverweigernde Kinder fallen unter Stress vermehrt in die impulsive Phase zurück.
tieren lassen, wenn sie gleichzeitig in anderen Bereichen pseudoerwachsen oder altklug erscheinen. Ich möchte ein paar eindrucksvolle Fallbeispiele kurz streifen, die im Kasten nachzulesen sind. Immer waren die vielen vorgängigen, erfolglosen Behandlungsversuche, die aufgeheizte Stimmung und die Schwierigkeit der Behandlung das Thema.
Oft betrifft die Verweigerungshaltung nicht nur die Schule
Bevor der in den Fallbeispielen genannte Drittklässler den Weg zu mir fand, hatte er «nur» eine erfolglose Behandlung mit antidepressiven Medikamenten hinter sich. Die Mutter kam unter anderem zu mir, um sicher zu sein, die Antidepressiva gefahrlos wieder absetzen zu dürfen, was sie dann auch tat. Der Sohn blühte vorübergehend auf, was die Mutter wiederum euphorisch stimmte, doch auch sie musste erkennen, dass ein nachhaltiger Erfolg so einfach nicht zu erreichen ist. Als Probleme gab die Mutter zu Beginn an, dass der Bub schlecht einschlafen könne, eine geringe Frustrationstoleranz habe und aufgrund seiner Sensibilität eine Sonderbehandlung bekomme, was seine Geschwister nicht schätzten. Längere Episoden von Freud- und Lustlosigkeit waren an der Tagesordnung, dann war er sehr abweisend, verschlossen und schlecht gelaunt. Da die Mutter ihren Sohn in Schutz nahm und ihn schonen wollte, war schon die Ana-
Fallbeispiele für Schulverweigerung und Schulphobie aus meiner Praxis
Ich erinnere mich an den 16-jährigen Gymnasiasten, der in der ersten Sitzung bei mir davonlief, dann nach einem Jahr stationärem Aufenthalt aber weiter zu mir in die Therapie kommen wollte. Er erzählte mir, was ihm in seinem Leben am meisten geholfen habe: In einem Lager in Frankreich nahm ihn am Lagerfeuer eine gute Kollegin zur Seite und hielt ihm eine zweistündige Standpauke in dem Sinn, dass er aus seinem Leben etwas machen müsse. Da war dieser 14-jährige Jugendliche, der wegen akuter Bauchbeschwerden mindestens ein halbes Dutzend Mal auf der Notfallstation des Spitals gelandet war. Als er seine Selbstverantwortung erkannte und merkte, dass er nicht das Opfer einer geheimnisvollen körperlichen Krankheit war, konnte er wieder in die Schule gehen. Es gab dieses 14-jährige Mädchen, das seinen Platz in der Schule nicht fand, als die Familie von Übersee in die Schweiz zurückkehrte. Ein Schulhauswechsel und das Erlernen von Selbstverantwortung liess sie ihren Platz in der Schule finden. Ein Drittklässler ging seit Monaten nicht mehr zur Schule. Nach ein paar Wochen
Therapie wünschte er, dass ihn die Eltern zur Schule bringen. Er heulte Rotz und Wasser im Auto, schaffte es aber dann und bedankte sich am Abend bei seinen Eltern. Ein Fünftklässler sollte von der Schulpflege aus in die stationäre Kinderpsychiatrie gebracht werden, nachdem er im Zusammenhang mit einer verschleppten Mononukleose lange nicht mehr zu Schule gegangen war. Die drohende Einweisung in die Psychiatrie brachte ihn in die Schule zurück. Er suchte bei mir vor allem den Schutz, damit er nicht in die Klinik musste, und zudem lernte er einige Entspannungstechniken. Die Eltern waren erbost, dass man sie in der Schule sogar der Vernachlässigung oder des Missbrauchs verdächtigte. Ein Zweitklässler mit italienischen Eltern versprach immer, «domani» gehe er zur Schule. Domani war, auch morgen dann, immer noch der Tag danach. In diesem Fall brauchte es ein Machtwort des Schulinspektors, der ihn in eine Kleinklasse versetzte.
mneseerhebung schwierig. Erst im Laufe der Behandlung, und weil ich es direkt ansprach, kamen die verschiedenen Verweigerungshaltungen zur Sprache, die längst nicht nur die Schule betrafen: beim Essen, beim Zähneputzen, bei Ämtli und eben auch am Morgen, wenn er in die Schule gehen sollte – dann hatte er Bauchweh und litt unter Übelkeit. Bis jetzt hatte er es mithilfe der Mutter meistens doch in die Schule geschafft. Die Mutter berichtete der Lehrerin von den Schwierigkeiten. Diese glaubte der Mutter aber nicht und meinte, das könne nicht sein, denn in der Schule laufe alles rund mit dem Bub. Hier sah man deutlich eine der Schwierigkeiten im Umgang mit der Verweigerung, indem diese das Gegenüber infrage stellt. Auch wird in diesem Beispiel klar, dass die permanente Hilfestellung der Mutter das Problem des Jungen nicht zu lösen vermochte, sondern möglicherweise eher noch verfestigte.
Was gibt es zu tun?
Anders als bei der Anorexia nervosa, die ebenfalls eine Verweigerungsproblematik enthält, hat es sich bei der Schulverweigerung bewährt, von einer schweren Krankheit wie von einer «schweren Grippe» zu sprechen. Bei der Anorexia nervosa hilft es zwar oft, von einer Selbstfindung zu reden, doch in der obligatorischen Schulzeit ist das Fernbleiben von der Schule ein Gesetzesverstoss, den man im Auge behalten muss. Wenn der Therapeut hier von «Selbstfindung» spricht, hält er schnell den Schwarzen Peter in der Hand: Bald fragen die Eltern, warum es das Kind «immer noch nicht in die Schule schafft». Dahinter steckt der Wunsch der Beteiligten, sich quasi in der Warteschlaufe auszuruhen, bis der Therapeut das Problem für sie gelöst hat. Doch wie schon die Mutter des oben genannten Drittklässlers schmerzhaft erfahren musste, kann sie nicht für das Kind in die Schule gehen – und der Therapeut kann es auch nicht stellvertretend tun. Das liegt in der Natur des Selbstständigwerdens. Ich biete der Familie darum das Bild eines «Verweigerungsvirus» an, das sich im Hirn des Kindes wie auf einer Computerfestplatte befindet und vom Kind mittels aktiver und passiver Rehabilitation «hinaus»-gearbeitet werden muss.
Eltern müssen dem Kind das Problem «überlassen»
Die Aufgabe der Eltern (passive Rehabilitation) besteht unter anderem darin, dass sie dem Kind gegenüber eine dem nötigen Entwicklungsstand angepasste, differenzierte Haltung einnehmen: das Problem beim Namen nennen und das Problem locker dem Kind überlassen, ähnlich wie bei Schulaufgaben: «Du weisst, da führt kein Weg daran vorbei. Du hast ja, wenn es nicht anders geht, bis zum Abend Zeit, aber besser, du machst vorwärts.» Falls sich beispielsweise die Mutter bis anhin meistens überengagiert und emotional für die Schulaufgaben eingesetzt hat, fragt sie typischerweise: «Ja, soll es mir denn egal sein?» Dann antworte ich, dass dies nicht die Lö-
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sung sei, sondern dass man das Problem mit der Einstellung «den Sünder lieben, aber die Sünde hassen» anpacken solle.
Das Kind muss neue Beruhigungstechniken lernen
Die Aufgabe des Kindes (aktive Rehabilitation) ist es, sich neue Beruhigungstechniken anzueignen. Die Rolle positiver und negativer Feedbackschlaufen für die Selbstregulation wurde bereits in einem früheren Artikel im Detail erörtert (2). Bei der Schulverweigerung besteht die bisherige Beruhigungstechnik des Kindes darin, mittels positiver Feedbackschlaufen (z.B. feindselig oder verächtlich sein) die Schule als notwendiges Übel zu «brauchen», um dann seine Beruhigung im Ignorieren zu finden. Wenn dem Kind dann die Schule entgleitet, weil es sie verweigert, gibt es auch nichts mehr zu ignorieren, und die Beruhigung entfällt, was sich als akute Symptomatik manifestiert, bevor die Schule anfängt. Mit «Herunterfahren», ruhiger Vorbereitung und imaginativen Beruhigungstechniken (alle sind negative Feedbackschlaufen) kann das Kind einen geregelten Schultag einfacher bewältigen. Es muss sich diese Techniken aber zuvor aneignen.
Weniger kann mehr sein
Diese Kinder sind noch zu sehr «im Aussen», das heisst zu wenig bei sich selbst, sogar wenn sie zurückgezogen wirken. Falls nun «im Aussen» eine riesige Maschinerie von Massnahmen in Gang gesetzt wird, werden diese das Kind noch mehr davon abhalten, sich auf eigene Stärken zu besinnen. Viele dieser Massnahmen sind nicht nur sehr teuer, sondern auch kontraproduktiv. Ein Therapeut, der sich mit systemischer Familientherapie oder im Umgang mit Verweigerung auskennt, ist hier sicher die bessere Lösungen. Auch darf man nicht vergessen, dass es viele leichte Formen der Schulverweigerung gibt, die schnell wieder verschwinden; diese Fälle können in der Schule oder zu Hause gelöst werden.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Christian Ziegler Frutigenstrasse 16 3600 Thun E-Mail: hitchz@bluewin.ch
Literatur: 1. Robert K. Die Entwicklungsstufen des Selbst. ISBN 978-3925412004, Kindt Buchhandlung und Verlag 1994. 2. Ziegler C. Das Rätsel Anorexia nervosa. Pädiatrie 2011; 5: 29–33.
«Den Sünder lieben, aber die Sünde hassen.»
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