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Guidelines für die Praxis
EDITORIAL
Die medizinische Versorgung unterliegt auch in der Pädiatrie einem stetigen Wandel. Dabei hat sich die pädiatrische Arbeit nicht nur dadurch geändert, dass neue Medikamente oder komplexere Behandlungsstrategien auf den Markt gekommen sind, sondern auch durch den Wandel der Krankheitsbilder, durch den verstärkten Einbezug sozialmedizinischer Rahmenbedingungen, durch die zunehmende ambulante gegenüber der stationären Versorgung kranker Kinder und Jugendlicher und durch den gleichzeitigen Wunsch nach gesteigerter wissenschaftlich basierter Qualität des pädiatrischen Handelns – all das in einem zunehmend ökonomisierten Umfeld. Diese komplexe Entwicklung findet ihren Niederschlag auch in einer steigenden Anzahl publizierter «Clinical Practice Guidelines». Mit diesen Guidelines von Expertengruppen wird versucht, auf der Grundlage der unterschiedlichen Qualität wissenschaftlicher Studien Empfehlungen zur Indikation diagnostischer Schritte oder therapeutischer Massnahmen zu entwickeln. Guidelines stellen eine häufig benutzte Informationsquelle für praktisch tätige Pädiater im stationären wie im ambulanten Setting dar. Prinzipielles Ziel der Guidelines ist es, die medizinische Versorgung zu verbessern. Dabei unterscheiden sie sich von systematischen Reviews dadurch, dass sie nicht nur die Datenlage systematisch zusammenfassen und gegebenenfalls bewerten, sondern auch den Anspruch haben, praktisch umsetzbare Empfehlungen abzuleiten. Die Evaluation der praktischen Umsetzung von Guidelines zeigt trotz der hochgesteckten Ziele, dass praktisch tätige Pädiater sich häufiger nicht, oder zumindest nur partiell, an solche Empfehlungen halten. Das liegt einerseits sicher daran, dass die Empfehlungen lokale Rahmenbedingungen nicht ausreichend berücksichtigen, andererseits erfüllen Guidelines aber auch nur zum Teil die erwünschten und zu fordernden Qualitätsbe-
dingungen. Die Vereinigung AGREE (Appraisal of Guidelines, Research and Evaluation collaboration) hat sich zum Ziel gesetzt, Instrumente zu entwickeln, mit deren Hilfe die Qualität von Guidelines beurteilt werden kann. Neben den oben genannten Aspekten werden Guidelines von klinisch tätigen Praktikern oft als zu «kochbuchartig» erlebt, da sie die Bedingungen des individuellen Falles nur begrenzt abbilden – ein wichtiger Aspekt, vor allem wenn es um Patienten mit multiplen Erkrankungen geht. Es ist zu berücksichtigen, dass Guidelines als Minimalkonsensus zu verstehen sind. Aus diesem Grund sind auch Forderungen der Kostenträger unbedingt abzulehnen, dass ärztliche Handlungen, die im Einzelfall diagnostisch oder therapeutisch diesen Minimalkonsensus überschreiten, nicht dem Wirtschaftlichkeitsgebot entsprechen: Guidelines stellen klar keine Alternative zur individualisierten Medizin dar. Weiterhin können Guidelines auch in der Ausbildung zukünftiger Pädiater nicht den guten klinischen Lehrer ersetzen, von dem neben der fachlichen Kenntnis der Literatur auch die Berücksichtigung ihrer Limitationen und die soziale Kompetenz der Betreuung des individuellen Kindes gefordert wird. In dieser vorliegenden und in der nächsten Ausgabe der PÄDIATRIE werden exemplarisch einige Guidelines verschiedener Subdisziplinen der Pädiatrie vorgestellt und im Gespräch mit Praktikern evaluiert: Inwieweit prägen diese Guidelines die ärztliche Entscheidung, und wo und warum ist es auch sinnvoll, in der Praxis davon abzuweichen?
Peter Weber, Daniel Beutler, Raoul Furlano
Literatur: Bannister SL, Raszka WV, Maloney CG: What makes a great clinical teacher in pediatrics? Lessons learned from the literature. Pediatrics 2010; 125: 863–865. Cecemore C, Savino A, Salvatore R et al.: Clinical practice guidelines: what they are, why we need them and how they should be developed through rigorous evaluation. European Journal Pediatrics 2011; 170: 831–836. Nadig J, Gähler E: Guidelines taugen nicht für Wirtschaftlichkeitsverfahren. Schweizerische Ärztezeitung 2011; 92: 1660–1662.
Prof. Dr. med. Peter Weber peter.weber@ukbb.ch
Dr. med. Daniel Beutler daniel.beutler@ukbb.ch
Dr. med. Raoul Furlano raoul.furlano@ukbb.ch
Peter Weber, Daniel Beutler und Raoul Furlano sind am Universitätskinderspital beider Basel (UKBB) tätig und Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats der PÄDIATRIE.
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