Transkript
MEDIZINGESCHICHTE
Immer zu wenig Schlaf?
Empfohlene und tatsächliche Schlafdauer verkürzten sich im Lauf der Zeit
Im Lauf des 20. Jahrhunderts verringerte sich die für Kinder empfohlene Schlafdauer um mehr als eine Stunde. Obwohl bis heute niemand so ganz genau weiss, wie viel Schlaf Kinder im Durchschnitt nun wirklich brauchen, war und ist man sich offenbar in einem sicher: Es ist nie genug! Seit rund 100 Jahren bescheinigt man den Kindern nämlich ein durchschnittliches Schlafdefizit von einer guten halben Stunde – unabhängig von der jeweils empfohlenen Schlafdauer.
Von Renate Bonifer
Einigen Wirbel verursachten die Gesundheitsforscher Timothy Olds, Lisa Matricciani und ihr Autorenteam von der University of South Australia, als sie dieses Jahr in der Zeitschrift «Pediatrics» ihre «Brief History of Sleep Recommandations for Children» publizierten (1). Empört unterzeichneten 79 Schlafforscherinnen und -forscher daraufhin eine von der Pädiaterin und Schlafexpertin der American Academy of Pediatrics Judith A. Owens verfasste «Verteidigung der Schlafempfehlungen»: Man habe den Kindern und Familien mit diesem Artikel einen schlechten Dienst erwiesen, indem man behaupte, die aktuellen Schlafempfehlungen seien unbegründet und übertrieben (2). Die Australier hatten in einer medizinhistorischen Fleissarbeit verfolgt, wie sich die Schlafempfehlungen für Kinder innert 115 Jahren, von 1897 bis 2009, entwickelten und wie lange die Kinder jeweils tatsächlich geschlafen hatten. Ihr Resümee: Die empfohlene Schlafdauer wurde stetig kürzer, und zu allen Zeiten war man davon überzeugt, dass die Kinder zu wenig schliefen. Die Notwendigkeit von Empfehlungen stellten Olds und Matricciani ebenso wenig in Abrede wie die Ansicht, dass Kinder heutzutage möglicherweise zu wenig schliefen. Sie bemängelten aber – und dies dürfte die Schlafforscher am meisten geärgert haben, dass es keine wirklich harten Beweise für die Notwendigkeit einer bestimmten Schlafdauer gebe. Wie vor 100 Jahren fehle es nach wie vor an echten Beweisen, warum eine bestimmte Schlafdauer nun genau die richtige sein soll.
Schlaf als Problem
Wissenschaftlich interessant wurde der Schlaf im ausgehenden 19. Jahrhundert. Damals begann man den Eltern zu empfehlen, auf ausreichenden Schlaf ihrer Sprösslinge zu achten, und Ärzte stellten zum
Babys brauchen noch sehr viel Schlaf (Foto: skpy, CC).
Teil recht detaillierte Regeln auf, wie viel Stunden Schlaf altersgerecht seien. Es scheint kein Zufall zu sein, dass die Problematisierung des Schlafes mit der technischen Revolution einherging. Die Glühbirne machte die Nacht zum Tage, bald kamen weitere potenzielle Störenfriede der Nachtruhe wie Radio oder Kino hinzu. Wie ein roter Faden zieht sich die Klage über Schlaflosigkeit wegen hektischer Zeiten seit über 100 Jahren durch die Publikationen zum Schlafbedürfnis. So hiess es bereits 1894 im «British Medical Journal»: «Die Hast und der Stress des modernen Lebens werden völlig zu Recht für das grosse Ausmass der Schlaflosigkeit verantwortlich gemacht …». Neue Erfindungen gelten also von jeher als Ursache für Hektik, Unruhe und zu wenig Schlaf – vor hundert
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Die Hektik des modernen Lebens gilt von jeher als Ursache für zu wenig Schlaf.
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Jahren die Glühbirne, in unserer Zeit Smartphones und das Internet. Folgerichtig unterscheiden sich die Tipps für Eltern seit 100 Jahren nur in technischen Details: Man gebe dem Kind nur ein Spielzeug in die Hand und verbiete mentale Aktivitäten vor dem Einschlafen, empfahl man 1916. Heute rät man dazu, TV, Computer und Gameboys aus dem Kinderzimmer zu verbannen.
Warum Kinder viel schlafen sollen
Zu Anfang des 20. Jahrhunderts glaubte man, schlafen
zu müssen, um erschöpftes Hirngewebe zu regenerie-
ren. Man stellte sich damals vor, dass Denken Hirn-
masse «verbraucht». Das moderne Leben, klagte ein
Autor um 1900, erfordere eine erhöhte Hirnaktivität,
und es sei offensichtlich, dass das Gehirn Ruhe brau-
che, um die mentale Kraft bewahren zu können. Die
Ansicht, dass Schonung die beste Therapie sei, galt
seinerzeit übrigens nicht nur für
das Gehirn, sondern beispiels-
weise auch für Herzkranke, de-
nen man – anders als heute –
strikte Bettruhe verordnete.
Während wir heute wissen,
dass unser Gehirn im Schlaf al-
les andere als inaktiv ist, galt
Schlafen als «Nicht-Denken»
damals als wichtige Vorausset-
zung zur Regeneration der Ner-
ven. Man glaubte, dass man
umso mehr Schlaf brauche, je
mehr man im wachen Zustand
denke, insbesondere sollten
kluge Kinder viel schlafen, wie
auch die «nervösen», bei denen
man heutzutage vermutlich
ADHS diagnostizieren würde.
Heute wird die Notwendigkeit
ausreichender Nachtruhe nicht
mehr mit der Regeneration des
Hirngewebes begründet, son-
dern mit einer ganzen Reihe ne-
gativer Konsequenzen, die bei
Schlafentzug drohen: Konzen-
Jugendliche schlafen immer zu wenig, das gehört fast zwangsläufig zu diesem Lebensabschnitt (Foto: Pink Sherbet Photography, CC).
trations- und Gedächtnisstörungen, psychische Störungen wie Angst, Depression oder Hyper-
aktivität, Störungen von Bewe-
gungsabläufen und Feinmotorik sowie eine allge-
meine Beeinträchtigung der Gesundheit und
immunologischen Abwehr. Auch Unfälle, Verletzun-
gen, Selbstmord und Drogen- oder Alkoholmiss-
brauch werden mit mangelndem Schlaf in Verbindung
gebracht sowie die steigende Zahl adipöser Kinder.
Zu wenig Schlaf soll demnach das Adipositasrisiko
durch die Erhöhung der Sympathikusaktivität mit hö-
heren Kortisol- und Ghrelinspiegel bei gleichzeitigem
Absinken des Leptins und/oder gestörter Glukosetole-
ranz steigern (3). Neben der reinen Schlafdauer
scheint jedoch auch der Zeitpunkt des Zubettgehens
und Aufstehens eine Rolle für das Adipositasrisiko zu
spielen. So fand man heraus, dass spätes Schlafenge-
hen und spätes Aufstehen mit dem höchsten Adiposi-
tasrisiko assoziiert sind (4). Frühes Einschlafen und frühes Aufstehen hatte hingegen im Vergleich das niedrigstes Risiko, nicht etwa die längste Schlafdauer (frühes Zubettgehen und spätes Aufstehen).
Schlafempfehlungen und tatsächliche Schlafdauer
Das Team um Olds und Matricianni fand für den Zeitraum von 1897 bis 2009 insgesamt 32 Guidelines mit 360 altersspezifischen Schlafempfehlungen. Daten zur tatsächlichen Schlafdauer gab es zu 173 dieser Empfehlungen in dazu passenden Zeiträumen und Regionen. In 144 Fällen (83%) ergab sich, unabhängig vom Alter der Kinder, ein durchschnittliches Schlafdefizit von 37 Minuten pro Tag (1). Die empfohlene Schlafdauer für Kinder und Adoleszente sank seit 1897 im Durchschnitt um 0,71 Minuten pro Jahr, praktisch parallel zur tatsächlichen Schlafdauer, die im Durchschnitt um 0,73 Minuten pro Jahr zurückging. Anders ausgedrückt: Im Durchschnitt schlafen Kinder und Jugendliche heute eine gute Stunde pro Tag weniger, aber auch die empfohlene Schlafdauer ist heute eine gute Stunde kürzer. Über alle Zeiten hinweg aber war die empfohlene Schlafdauer stets länger als die Zeit, die Kinder und Jugendliche tatsächlich schliefen. Dieser einprägsame Jahrhunderttrend sieht genau betrachtet ein klein wenig anders aus, denn die Verringerung der empfohlenen Schlafdauer betrifft vor allem die kleinen Kinder unter 9 Jahren. Hier gab es die grössten Änderungen. So empfahl man 1897, dass 1-Jährige ganze 17 Stunden pro Tag schlafen sollten, während es 2009 nur noch 13 Stunden waren; 5-Jährige sollten vor gut 100 Jahren noch 14 Stunden schlafen gegenüber 101/2 Stunden heute. Ein weiteres Detail ist die Beobachtung, dass der globale Trend zu weniger Schlaf nicht für alle Weltregionen zu gelten scheint. Die tatsächliche Schlafdauer von Kindern und Jugendlichen ist, global betrachtet, in der Tat gesunken, auch wenn an der Beweislage für diese allgemein verbreitete Ansicht von Olds und Matricianni in der Vergangenheit noch gewisse Zweifel angemeldet wurden (5). In ihrer im Juni 2012 publizierten Arbeit (3) bestätigen sie nun aber, dass die durchschnittliche Schlafdauer von Kindern und Jugendlichen im Lauf des 20. Jahrhunderts tatsächlich um mehr als eine Stunde (77 Minuten) sank. Grundlage dieser Statistik waren die Daten von 690 747 Kindern aus 20 Ländern von 1905 bis 2008. Die Veränderungen seien unabhängig von Alter und Geschlecht, aber unterschiedlich in unterschiedlichen Regionen. Demnach wäre die durchschnittliche Schlafdauer in (Mittel- und Süd-)Europa, den USA, Kanada und Asien gesunken, während sie in Australien, Grossbritannien und Skandinavien gestiegen sei. Insofern passt auch die bekannte Schweizer Studie von 2003 ins Bild (6), in welcher die Autoren feststellten, dass die Schlafdauer zwischen 1974 und 1993 sank, weil Kinder und Jugendliche immer später zu Bett gingen, aber trotzdem am Morgen zur gleichen frühen Zeit aufstehen müssten. Regionale Unterschiede bei der durchschnittlichen Schlafdauer hatte die australische Forschergruppe
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auch bereits früher publiziert (7): Adoleszente in asiatischen Ländern schlafen demnach 40 bis 60 Minuten pro Nacht weniger als US-amerikanische und gar 60 bis 120 Minuten weniger als Kinder in Europa oder Australien.
Die Frage der Evidenz
Die 32 eingangs genannten Schlafempfehlungen von 1897 bis 2009 haben drei Gemeinsamkeiten: 1. Es wird stets beklagt, dass es zu wenig Daten und
einen Mangel an Evidenz gebe. 2. Es wird stets irgendeine physiologische Begrün-
dund für eine bestimmte Schlafmenge angegeben, wobei sich die Gründe im Lauf der Zeit ändern. 3. Es wird stets irgendeine gesellschaftlich-soziale Ursache für den Schlafmangel genannt, in der Regel Reizüberflutung. Die Natur der Reize, welche die Kinder am Schlafen hindern, ändert sich je nach technischem Entwicklungsstand. Unter den 32 Empfehlungen könne sich nur eine einzige auf vergleichsweise harte Daten stützen, nämlich auf die Beobachtung von rund 500 gesunden Kindern, schrieben Olds und Matricciani. In allen anderen sei die Rede gewesen von Faustregeln, persönlichen Überzeugungen und mehr oder minder validen Beobachtungen. Insofern sei es doch erstaunlich, dass seit 100 Jahren Schlafempfehlungen publiziert würden, während man gleichzeitig zugebe, keine wirkliche Evidenz dafür zu haben. Den Einspruch der Schlafmediziner, dass wichtige neuere Studien nicht berücksichtigt worden seien, liessen die Australier nicht gelten, unter anderem weil diese Studien zu klein gewesen seien. In ihrem Institut an der University of South Australia gehören Olds und Matricciani zum Forschungsschwerpunkt «Health and the Use of Time», der den Zusammenhängen von Lebensstil und Gesundheit gewidmet ist, unter anderem auch dem Schlaf. Man wolle ja gar nicht in Abrede stellen, dass Kinder zu wenig schliefen, aber wie lange die optimale Schlafdauer nun ganz genau sei, wisse man bis heute nicht, so beharrten Olds und Matricciani auf ihrem Standpunkt und forderten flugs weitere Forschungsprojekte.
Und wie lange sollen die Kinder nun schlafen?
Ob es Tim Olds mit der Forderung nach einem genauen, evidenzbasierten Wert, dessen Fehlen sein Team so sehr beklagt, wirklich völlig ernst ist? Dem Lifestyleforscher ist nämlich, wie auch den meisten Schlafmedizinern, völlig klar, dass es die eine, optimale Schlafdauer für alle überhaupt nicht gibt: «Trauen Sie niemals Schlafexperten», sagte er dem Internetportal Medical News Today, «ein Kind funktioniert am besten nach 7 Stunden, ein anderes nach 11.» Da war er sich für einmal fast einig mit Judith A. Owens von der American Academy of Pediatrics. Sie sagte in einem Interview mit der «Chicago Tribune», dass sie selbstverständlich niemals zu den Eltern sagen würde, ihr Kind benötige genau X Stunden Schlaf. Ihrer Ansicht nach sollten es mindestens 12 Stunden Nachtschlaf für Vorschulkinder plus ein Mittags-
schläfchen sein und 10 bis 11 Stunden für Schulkinder. Bei den Teenagern hat die AAP dann aber doch recht exakte Vorstellungen, wie sie Olds und sein Team als mangelhaft wissenschaftlich begründet kritisieren. Die Jugendlichen sollten nach Vorstellung der AAP nämlich «9 bis 9¼ Stunden» schlafen, auch wenn es sicher Jugendliche gebe, die nur «8 bis 8¼ Stunden» benötigten und manche, die erst nach 10 Stunden fit seien, so Owens. Im deutschsprachigen Raum hält man sich mit derlei auf die Viertelstunde genauen Zeitangaben eher zurück: «Es gibt keine verbindliche zeitliche Norm für die Menge an Schlaf, die erforderlich ist, um seine Erholsamkeit zu gewährleisten», so die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung (8). Auch die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie betont die Individualität der Schlafdauer und schreibt in ihrer Leitlinie, dass die individuelle Gesamtschlafdauer pro Tag variiert. Anhaltswerte seien jedoch folgende Zahlen: • mit 6 Monaten zirka 12 bis 16 Stunden • mit 3 Jahren zirka 111/2 bis 131/2 Stunden • mit 6 Jahren zirka 10 bis 12 Stunden • mit 10 Jahren zirka 91/2 bis 101/2 Stunden • mit 14 Jahren zirka 8 bis 9,5 Stunden • mit 16 Jahren zirka 71/2 bis 9 Stunden. Mit 17 bis 18 Jahren sei dann das durchschnittliche Schlafbedürfnis Erwachsener (7–8h) erreicht (9).
Korrespondenzadresse: Dr. Renate Bonifer Redaktion PÄDIATRIE renate.bonifer@rosenfluh.ch
Quellen: 1. Matricciani L, Olds TS, Blunden S, Rigney G, Williams MT. Never Enough Sleep: A Brief History of Sleep Recommendations for Children. Pediatrics 2012; 129: 548–556. 2. Owens JA et al. A Letter to the Editor in Defense of Sleep Recommendations. Pediatrics 2012; e-Letter published 17 Feb 2012. 3. Matricciani L, Olds T, Petkov J. In search of lost sleep: secular trends in the sleep time of schoolaged children and adolescents. Sleep Med Rev 2012; 16 (3): 203–211. 4. Olds TS, Maher CA, Matricciani L. Sleep duration or bedtime? Exploring the relationship between sleep habits and weight status and activity patterns. SLEEP 2011; 34 (10): 1299–1307. 5. Matricciani L, Old T, Williams M. A Review of Evidence for the Claim that Children are Sleeping Less than in the Past. Sleep 2011; 34 (5): 651–659. 6. Iglowstein I, Jenni OG, Molinari L, Largo RH. Sleep duration form infancy to adolescence: reference values and generational trends. Pediatrics 2003; 111: 302–307. 7. Olds T, Blunden S, Forchino F, Petkov J. The relationschips between sex, age, geography and time in bed in adolescents: a meta-analysis of data from 23 countries. Sleep Medicine Rev 2010; 14: 371–378. 8. Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM). S3-Leitlinie: Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen. Somnologie 2009; 13: 4–160. Online: www.amwf.org, AMWF-Register Nr. 063/001. 9. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u.a. (Hrsg.). Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter; Nichtorganische Schlafstörungen (F51); S: 131–140. Deutscher Ärzte Verlag, 2007. Online: www.amwf.org, AMWF Leitlinien-Register Nr. 028/012.
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Es gibt keine verbindliche Norm für die Schlafmenge.
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