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SCHWERPUNKT
Immer feucht, wie weiter?
Inkontinenz im Kindesalter – im Zentrum steht die Blase
Kinder klagen öfters über feuchte Unterhosen. Handelt es sich nun um vaginalen Ausfluss, um eine Vulvitis oder um eine Inkontinenz? Der anogenitale Bereich mit dem Zusammentreffen dreier Organsysteme bietet immer wieder diagnostische Schwierigkeiten. Insbesondere bei Kindern, die ihre Symptome nicht klar beschreiben können, ist oft schon die Anamnese schwierig. Um die Differenzierung zu vereinfachen, wird hier in einem kleinen Exkurs das Thema der Inkontinenz bei Kindern besprochen.
Von Sandra Shavit und Ruth Draths
D ie Blasenfunktion basiert auf einem komplexen Zusammenspiel von Innervation und Motorik, das einem Reifeprozess unterliegt. Während der Säugling die Blase reflexartig entleert, entwickelt sich mit zirka 3 Jahren die Willkürmotorik des Blasenverschlussmuskels, und mit etwa 4 Jahren hat das Kind dann Kontrolle über die Blaseninnervation mit Vergrösserung der Blasenkapazität und Abnahme der Miktionsfrequenz. Kinder erreichen Urinkontinenz tagsüber im Durchschnitt im Alter von 31/2 Jahren, Mädchen früher als Knaben; mit 6 Jahren sind fast alle kontinent (1, 2). Nachts dauert es etwas länger, durchschnittlich im Alter von 4 bis 5 Jahren werden die Kinder auch nachts trocken. Meist besteht ein Intervall von zirka 4 Monaten zwischen dem Erreichen der Kontinenz am Tag und in der Nacht. Die Funktion der Blase umfasst die Speicherung und die koordinierte Entleerung von Urin. Bei beiden Aufgaben können Störungen auftreten, oder die Störung kann beide gleichzeitig betreffen. Zur suffizienten Speicherung muss in der Blase ein Niederdruck be-
Tabelle 1: Abklärungen bei kindlicher Inkontinenz
• ausführliche Anamnese • Miktionsprotokoll • internistischer Status inklusive neurologischer Evaluation • Genitalstatus • Urinanalyse • Sonografie der Nieren und ableitenden Harnwege • Uroflowmetrie (+ EMG-Ableitung) mit Restharnbestimmung • Invasive Abklärungen wie das Miktionszystogramm, eine Zystoskopie und die uro-
dynamische Untersuchung erfolgen nur bei spezieller Indikationsstellung.
stehen, sie muss dehnbar sein und sich «ruhig verhalten». Die Entleerung erfolgt unter Koordination von Detrusor und Sphinkter mit Entspannung des Sphinkters und des Beckenbodens.
Inkontinenz
Gemäss der Definition der ICCS (International Children’s Continence Society) bedeutet Inkontinenz einen unwillkürlichen Urinabgang, der intermittierend oder kontinuierlich auftritt. Etwa 1 bis 2, nach einigen Schätzungen sogar bis 6 Prozent der 7- bis 12-jährigen Kinder leiden unter einer Inkontinenz. Davon weisen 50 Prozent eine Urgesymptomatik auf. Pro Jahr kommt es bei 14 Prozent zu einer Spontanheilung (4).
Genese der Inkontinenz beim Kind
Anders als bei Erwachsenen geht es bei der Inkontinenz des Kindes in erster Linie um eine Störung im Reifeprozess. Das Zusammenspiel zwischen Detrusor und Sphinkter unterliegt einem Entwicklungsprozess, der störanfällig ist. Störungen entstehen vor allem in der Erlernphase der Kontinenz im Alter von 3 bis 5 Jahren und äussern sich in einer Entleerungsproblematik. Bei der überaktiven Blase wird die Genese kontrovers diskutiert. Es ist bis anhin nicht geklärt, ob es sich um eine eigenständige Pathologie oder um eine Unreife der kortikalen Detrusorinhibition handelt (5).
Abklärungen
Die notwendigen Abklärungen (3) der kindlichen Inkontinenz sind in der Tabelle 1 zusammengefasst und werden nachfolgend erläutert.
Anamnese Zur Anamnese gehört nebst der Erfragung, wann und in welchen Situationen die Unterhosen oder Hosen
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SCHWERPUNKT
feucht sind, eine ausführliche Miktions- und Stuhlanamnese. Manchmal ist es hilfreich, die Miktionen, die Stuhlentleerungen und die Symptome detailliert zu protokollieren (Miktionsprotokoll). Die Miktionsanamnese (Tabelle 2) umfasst die Erfragung nach der Speicherung (Miktionsfrequenz, Blasenkapazität), nach der Entleerung (Harnstrahl, Miktion) und nach der Sensibilität (Harndrang, Haltemanöver).
Abbildung 1: Normale Miktion mit eingipfligem Kurvenverlauf
Uroflowmetrie mit EMG-Ableitung (3, 6) Die Uroflowmetrie ist eine hervorragende Screeningmethode bei Dysfunktion der unteren Harnwege. Sie registriert den Urinfluss als Funktion der Zeit, das Urinvolumen sowie die Beckenboden- und Abdominalaktivität und sollte mit einer Restharnbestimmung kombiniert werden. Die Uroflowmetrie ist nicht invasiv und kann bei Kindern problemlos durchgeführt werden. Hierfür sitzt das Kind möglichst entspannt auf einer Toilette mit vorgängig aufgeklebten Elektroden. Aus der Aufzeichnung des Urinflusses können Rückschlüsse auf die Beckenbodenaktivität gezogen werden (Abbildung 1 bis 4).
Abbildung 2: Verlängerte Miktion mit abgeschwächtem Harnstrahl; flacher Kurvenverlauf mit vermindertem Fluss, z.B. bei Obstruktion der Urethra organisch oder funktionell bedingt.
Die organische Inkontinenz
Von der Miktionsstörung mit Inkontinenz funktioneller Art ist die organisch bedingte Inkontinenz zu unterscheiden. Diese liegt beispielsweise vor bei einer Doppelniere mit ektop, zum Beispiel in die Vagina mündendem Harnleiter mit ständigem Harnträufeln, bei posterioren Urethralklappen (nur bei Knaben) oder bei einer Vulvasynechie, die zu einem vaginalen Reflux führen kann. Dies zeigt sich oft durch postmiktionelles Nachtröpfeln.
Darmentleerungstörungen
Eine Obstipation wirkt sich negativ auf die Blasenfunktion aus, indem eine Detrusoraktivität ausgelöst oder gehemmt wird. Bei Miktionsstörungen ist immer auf eine regelmässige Stuhlentleerung zu achten. Unkontrollierter Abgang von flüssigem Stuhl kann auf eine Enkopresis hindeuten und muss unbedingt an erster Stelle der Behandlung stehen. Ist eine Inkontinenz mit einer Enkopresis kombiniert, spricht man von einem «Dysfunctional Emptying Syndrome».
Abbildung 3: Fraktionierte Miktion mit aktiver Bauchpresse; unterbrochene Miktion mit Aktivität abdominal, z.B. bei minderaktiver Blase. Die Miktion erfolgt mithilfe der Bauchpresse.
Abbildung 4: Stakkatomiktion mit aktivem Beckenboden; ondulierender Verlauf der Miktion mit Aktivität im Bereich des Beckenbodens, die die Miktion jeweils fast unterbricht, z.B. bei dysfunktioneller Miktion.
Die Therapie
Bei allen Miktionsstörungen bedarf es eines Blasentrainings mit regelmässiger Entleerung der Blase. Anzustreben ist ein Miktionsintervall von 2 bis 3 Stunden. Bei Kindern ist auf eine möglichst gute Entspannung des Beckenbodens zu achten. Dies kann erreicht werden, indem das Kind auf der Toilette die Beine auf einem Schemel abstützen kann. Eine Störung der Blasenspeicherung (die überaktive Blase) wird anticholinergisch behandelt. Das meistgebrauchte Medikament bei Kindern ist das Oxybutynin (Ditropan®) in einer Dosierung von 0,5 mg/kg Körpergewicht, verteilt auf 2 bis 3 Dosen pro Tag. Bei bestehender Obstipation sollte auf diese Medikation verzichtet werden. Ferner ist zu beachten, dass die Abbauprodukte des Oxybutynins die Blut-HirnSchranke passieren und zu Wahrnehmungsstörungen, vermehrter Aggressivität und Unruhe führen
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können, sodass die Indikation bei ADH-Kindern streng gestellt werden sollte. Als Alternative bietet sich Tolterodin L-tartrat (Detrusitol® retard) in einer Dosierung von 2 mg (bei unter 35 kg Körpergewicht) beziehungsweise 4 mg (über 35 kg Körpergewicht) an. Eine weitere Variante ist die transkutane Neuromodulation. Hierbei wird über dem S3-Dermatom mit einem TENS-Gerät (transkutane elektrische Nervenstimulation) mit 10 bis 20 Hertz und 150 bis 200 μs einmal pro Tag stimuliert und somit die Blase beruhigt. Entleerungsstörungen werden mittels Biofeedbacktherapie behandelt. Die Kinder lernen unter Anleitung und mithilfe von Übungen, den Beckenboden während der Miktion zu entspannen. Diese Schulung wird an verschiedenen Zentren von speziell ausgebildeten Kinderphysiotherapeutinnen und -therapeuten angeboten. Tabelle 3 gibt einen Überblick über die Miktionsstörungen (3, 6) und die entsprechenden therapeutischen Optionen.
Korrespondenzadressen: Dr. med. Sandra Shavit FMH Kinderchirurgie Spitalfachärztin Kinderchirurgie Kinderspital Luzern Spitalstrasse, 6000 Luzern 16 E-Mail: sandra.shavit@luks.ch
Dr. med. Ruth Draths FMH Gynäkologie und Geburtshilfe Leitende Ärztin Neue Frauenklinik Luzern Spitalstrasse, 6000 Luzern 16 E-Mail: ruth.draths@luks.ch
Referenzen: 1. Largo RH, Gianciaruso M, Prader A. Die Entwicklung der Darm- und Blasenkontrolle von der Geburt bis zum 18. Lebensjahr. Schweiz Med Wochenschr 1978; 108 (5): 155–160. 2. Jansson UB, Hanson J, Sillén U, Hellström AL. Voiding pattern and acquisition of bladder control from birth to age 6 years - a longitudinal study. J Urolo 2005; 174: 289–293. 3. The standardization of terminology of lower urinary tract function in children and adolescents: report from the standardization committee of the international children’s continence society (ICCS) http://i-c-c-s.org/standardisation-documents/ (Neurourology and Urodynamics 2007; 26: 90–102. 4. Nijman RJM. Classification and treatment of functional incontinence in children. BJU International 2000; 85 (Suppl 3): 37–42. 5. Sillén U. Bladder function in healthy neonates and its development during infancy. J Urol 2001; 166: 2376–2381. 6. The management of dysfunctional voiding in children: a report from the standardization committee oft the international children’s continence society. J Urol 2010; 183: 1296–1302. 7. Sonographic measurements of the normal bladder wall in children. AJR 1987; 149: 563–566.
Tabelle 2: Miktionsanamnese
1. Sphinkter/Entleerung Harnstrahl: • In einem Zug? • Schwach? • Stotternd? • Ständig träufelnd?
Miktion: • Mit Bauchpresse? • Schnell und vollständig? • Initiales Warten?
2. Sensibilität • Plötzlicher starker
Harndrang (Urge)? • Harndrang vorhanden? • Harndrang unter-
drückbar? • Muss zur Toilette gerannt werden?
Benutzen von Haltemanövern: • Beine zusammenpressen? • Fersensitz?
Tabelle 3: Miktionsstörungen und therapeutische Optionen (3, 6)
Miktionsfrequenz (Norm: 4–8 x/Tag) Miktionsvolumen (Norm: Alter x 30 + 30) Inkontinenz Enuresis Haltemanöver imperativer Harndrang Bauchpresse (Norm: keine; im EMG nachweisbar) Harnwegsinfekte vesikouretraler Reflux Blasenwand verdickt (Norm < 5 mm) (7) Flow (Norm: eingipflig) Restharn (Norm: max. 10% der Blasenkapazität, unter 20 ml) Beckenbodenaktivität (Norm: keine; im EMG nachweisbar) Therapie überaktive Blase hoch klein (< 65%) ja ja ja ja nein Miktionsaufschub tief dysfunktionelle minderaktive Miktion Blase normal tief hoch (> 150%) normal bis hoch hoch (> 150%)
häufig nein häufig ja nein
gelegentlich gelegentlich nein nein nein
gelegentlich gelegentlich nein nein ja
gelegentlich gelegentlich gelegentlich
eingipflig nein
häufig selten nein
häufig häufig ja
eingipflig
stakkato
gelegentlich ja
häufig selten nein
fraktioniert ja
in der Füllung keine
während der Miktion
keine
Blasentraining Anticholinergika
Blasentraining Blasentraining Biofeedback ev. Antibiotikaprophylaxe
Katheterisierung Antibiotikaprophylaxe
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