Transkript
KRYPTORCHISMUS
«Hodenhochstand frühzeitig operieren»
Ein Interview mit der Kinderchirurgin Dr. med. Valérie Oesch
Etwa 3 bis 6 Prozent der neugeborenen Knaben haben einen Hodenhochstand, bei den meisten von ihnen deszendieren die Hoden in den ersten Lebensmonaten. Kryptorchismus findet sich im Alter von einem Jahr noch bei 1 bis 2 Prozent der Knaben. Wir sprachen mit der Kinderchirurgin Dr. med. Valérie Oesch über die Indikation und den richtigen Zeitpunkt einer Operation.
F rau Dr. Oesch, werden Knaben mit Kryptorchismus in der Schweiz rechtzeitig diagnostiziert und operiert? Dr. med. Valérie Oesch: Ja, für die meisten Knaben in der Schweiz trifft das sicher zu. Natürlich gibt es immer wieder Eltern, die mit ihren Kindern nicht zu den regulären, empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen kommen. Es kann also durchaus auch vorkommen, dass ein Kryptorchismus erst bei der Schuluntersuchung festgestellt wird.
Wie hoch ist der Anteil an Knaben mit Hodenhochstand, die mit einer solch erheblichen Verspätung zu Ihnen kommen? Oesch: Das ist wirklich sehr selten, es sind schätzungsweise weniger als 5 Prozent unserer Fälle. In der Regel sind es Säuglinge und Kleinkinder, die uns wegen Kryptorchismus zugewiesen werden.
Wann sollte operiert werden? Oesch: Früher hiess es, dass man mit der Orchidopexie bis zum 2. Geburtstag warten könne. Das hat sich mittlerweile geändert. Man empfiehlt heute, möglichst früh, ab dem 6. Lebensmonat, zu operieren. Wenn der Hodenhochstand im Alter von 6 Monaten noch besteht, sollte man das Kind zur Abklärung an einen Kinderchirurgen überweisen und, bei entsprechender Indikation, möglichst bald operieren.
Welche Rolle spielt hierbei der Kinderarzt? Oesch: Eine ganz entscheidende. Glücklicherweise sind die Kinderärzte in der Schweiz bei diesem Problem sehr aufmerksam und achten bei den Knaben sorgfältig auf einen allfälligen Hodenhochstand. Die meisten Kinder werden im Alter von 1 Monat untersucht und in den Monaten 2, 4 und 6 bei den Vorsorgeuntersuchungen erneut gesehen. Wenn der Kinderarzt dann bemerkt, dass der Hoden immer noch nicht deszendiert ist, sollte er den Knaben an den Kinderchirurgen zuweisen. Ich möchte es auch ausdrücklich unterstützen, dass man uns die Kinder zuweist, wenn man sich nicht ganz sicher ist.
Gibt es ein Problem bei der Diagnose, mit dem die Kinderärzte nach Ihrer Erfahrung häufig zu kämpfen haben? Oesch: Wenn der Hoden palpabel ist, gibt es in der Regel kein Problem, dessen Lage zu beurteilen. Schwierig wird es, wenn der Hoden nicht palpiert werden kann. Wir sehen viele Knaben, die uns richtigerweise mit Verdacht auf Kryptorchismus überwiesen werden, aber einen sogenannten Pendelhoden haben. Hierbei ist der Hoden zwar deszendiert, wird aber durch den Cremasterreflex in den Leistenkanal hochgezogen und lässt sich nur bei optimalen Bedingungen nachweisen. In solchen Fällen besteht keine Operationsindikation, die Hodenlage muss aber im Verlauf des Wachstums nachkontrolliert werden. Es ist heute anerkannt, dass sich aus einem ursprünglichen Pendelhoden später ein bleibender Hodenhochstand entwickeln kann. Die Hodenlage muss man bei diesen Knaben regelmässig kontrollieren, das heisst einmal pro Jahr.
Gibt es ein Alter, ab dem man bei Hodenhochstand nicht mehr operiert? Oesch: Nein. Wir wissen zwar, dass die Prognose in puncto Fertilität mit zunehmendem Alter schlechter wird, aber das heisst nicht, dass zum Beispiel ein 10-jähriger Knabe mit Hodenhochstand auf alle Fälle infertil sein wird. Ausserdem ist der Verlust der Fertilität nicht das einzige Risiko, das für die Operation spricht. Das Hodenkrebsrisiko ist bei einem kryptorchen Hoden erheblich höher. Es liegt für einen nicht deszendierten Hoden bei 1:1000 bis 1:2500, während es bei normalen Hoden bei zirka 1:100 000 liegt. Auch die Entdeckung eines Tumors ist bei einem kryptorchen Hoden schwieriger und erfolgt darum häufig verspätet. Des Weiteren ist das Risiko einer Torsion bei einem kryptorchen Hoden erhöht. Es gibt also eine ganze Reihe guter Gründe für die Operation, auch wenn das Kind schon älter ist. Am besten operiert man möglichst früh, das heisst wie gesagt ab dem Alter von 6 Monaten, sobald der Hochstand diagnostiziert ist.
Dr. med. Valérie Oesch ist Kinderchirurgin am Kantonsspital Aarau.
Wenn der Hoden bis zum 6. Lebensmonat nicht deszendiert ist, sollte man zum Spezialisten überweisen.
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KRYPTORCHISMUS
Pendelhoden muss man nicht operieren, aber regelmässig kontrollieren.
Wie riskant ist die Operation? Oesch: Das Risiko der Operation selbst ist kleiner als die potenziellen Risiken, wenn man nichts tut. Für die Prognose der weiteren Hodenentwicklung nach der Operation spielt es eine Rolle, wie hoch der Hoden lag – je höher, umso grösser ist das Risiko, dass die Durchblutung infolge der Operation gestört ist und das Gewebe abstirbt. Dieses Risiko liegt unter 1 Prozent.
Wie lange dauert die Operation, und wie lange muss das Kind im Spital bleiben? Oesch: Für die am häufigsten durchgeführten Orchidopexie rechnen wir mit einer Operationszeit von 30 bis 45 Minuten. Wir führen diese Operationen in der Regel ambulant durch. Knaben mit einem sehr hoch liegenden Hoden, zum Beispiel bei intraabdominaler Lage, bleiben nach der Operation meistens 2 bis 3 Tage im Spital.
Was wird bei der Operation genau gemacht? Oesch: Der Zugang ist inguinal, wie bei der Operation einer Leistenhernie. Dann befreien wir den Hoden vom umgebenden Gewebe, ebenso die Gefässe und den Samenleiter. Häufig findet man dort Verwachsungen. Gefässe und Samenleiter werden so weit gelöst, dass man genügend Länge hat, um den Hoden in den Hodensack zu verlagern. Dort wird der Hoden in einer Tasche zwischen Haut und Tunica dartos fixiert.
Sie sagten vorhin, dass es keine diagnostischen Probleme bezüglich der Lage des Hodens gebe, sofern man ihn palpieren kann. Was tun Sie, wenn das nicht möglich ist? Oesch: Wenn wir keinen Hoden palpieren können, machen wir als Erstes einen Ultraschall. Hoden im
Leistenkanal sind in der Tat manchmal wirklich schwer zu palpieren. Wird der Hoden im Leistenkanal per Ultraschall gefunden, können wir eine Orchidopexie durchführen. Wenn der Hoden jedoch in der Bauchhöhle liegt, kann man ihn nicht palpieren und in der Regel auch im Ultraschall nicht sehen. Darum führen wir in diesem Fall zunächst eine Bauchspiegelung durch, um den Hoden zu suchen und von innen zu mobilisieren. Bei einem Knaben mit Kryptorchismus kommt es aber auch vor, dass Hoden, Nebenhoden und Samenleiter infolge einer Entwicklungsstörung überhaupt nicht vorhanden sind. Auch eine intrauterine Torsion kann zu einem fehlenden Hoden führen: In diesem Fall finden wir in der Regel noch einen Samenstrang, der sozusagen ins Nichts führt. Finden wir bei der Bauchspiegelung einen Hoden, führen wir die Orchidopexie in der gleichen Narkose durch, manchmal auch in zwei Etappen. Finden wir laparoskopisch keinen Hoden in der Bauchhöhle, brechen wir ab, denn das heisst, dass der Knabe auf der betroffenen Seite definitiv keinen Hoden hat. Ich möchte an dieser Stelle auch noch auf einen wichtigen Punkt hinweisen: Wenn ein Neugeborener beidseits keine palpablen Hoden hat und weitere genitale Auffälligkeiten aufweist, wie zum Beispiel eine Hypospadie, muss man an eine mögliche Störung der Entwicklung der Geschlechtsorgane denken. Dann sind weitere genetische und endokrinologische Abklärungen notwendig. Es könnte sich zum Beispiel um ein Mädchen mit kongenitalem adrenogenitalem Syndrom handeln.
Frau Dr. Oesch, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Dr. Renate Bonifer.
Die postoperative Hormontherapie bei Kryptorchismus – eine Kontroverse
Während der Kryptorchismus von vielen Ärzten in erster Linie als anatomische Fehlstellung betrachtet wird, welche rein chirurgisch zu beheben sei, wird seit den 1970er Jahren diskutiert (1), ob eine zusätzliche Hormontherapie nach der Operation sinnvoll ist oder nicht, so kürzlich auch im «European Journal of Pediatrics» (2–4). Die Befürworter einer postoperativen Hormontherapie argumentieren, dass diese die spätere Fertilität fördere. Das Infertilitätsrisiko liesse sich anhand von Hodenbiopsien beurteilen, die während der Orchidopexie genommen werden können. Bei hohem Infertilitätsrisiko sei eine 6-monatige Behandlung mit einem LH-RH-Analogon nach der Operation sinnvoll, da die Fertilitätsrate dadurch erheblich gesteigert werden könne. Indikator für das Infertilitätsrisiko ist demnach die Anzahl von Ad-Spermatogien («d» steht für «dunkel», da diese histologisch dunkel erscheinen) in der Hodenbiopsie. Normalerweise sollte die Transformation von fötalen Gonozyten zu Ad-Spermatogonien im Alter von 2 bis 3 Monaten stattfinden. Finden sich in der Biopsie jedoch keine oder nur wenige Ad-Spermatogonien, so spreche dies für ein hohes Infertilitätsrisiko im Erwachsenenalter. In einer Studie konnte man zeigen, dass die postoperative Gabe eines LH-RH-Analogons bei kryptorchen Knaben mit hohem Infertilitätsrisiko (keine Ad-Spermatogonien zum Zeitpunkt der Operation) in 86 Prozent der Fälle zu einer normalen Spermienzahl im Erwachsenenalter führte, während dies bei keinem der Knaben in der retrospektiv ausgewählten Kontrollgruppe der Fall war (5). Die Gegner der postoperativen Hormontherapie führen ins Feld, dass die Einschätzung eines späteren Infertilitätsrisikos anhand der beschriebenen histologischen Befunde fraglich, nicht reproduzierbar und auch nicht überall verfügbar sei. Man bezweifelt
überdies, dass der unilaterale Kryptorchismus tatsächlich eine wesentliche Ursache
späterer Infertilität sei.
Die Fachgesellschaften der verschiedenen Länder sind sich in ihrer Einschätzung der
postoperativen Hormontherapie nach einer Orchidopexie nicht einig. Während man
sich an Workshops der European Society of Pediatric Urology vor 3 bis 4 Jahren dafür
aussprach, empfiehlt man sie in Skandinavien und der Schweiz definitiv nicht. Die
deutschen Kinderchirurgen sprachen bis 2008 noch davon, dass man mangels Daten
keine allgemeine Empfehlung geben könne, raten nun aber, trotz der oben genannten
Studie, davon ab.
RBO
Literatur: 1. Hadziselimovic F, Girard J, Herzog B: Treatment of cryptorchidism by synthetic luteinising-hormone-releasing hormone. Lancet 1977; 2 (8048): 1125. 2. Ludwikowsky B, González R. The controversy regarding the need for hormonal treatment in boys with unilateral cryptorchidism goes on: a review of the literature. Eur J Pediatr 2012; DOI 10.1007/s00431-012-1711-y 3. Hadziselimovic F. Correspondence. The controversy regarding the need for hormonal treatment in boys with unilateral cryptorchidism goes on: a review of the literature. Eur J Pediatr 2012; DOI 10.1007/s00431-012-17401746. 4. González R, Ludwikowsky B. Response to the letter by F. Hadziselimovic. Eur J Pediatr 2012; DOI 10.1007/ s00431-012-1741-5 5. Hadziselimovic F. Successful Treatment of Unilateral Cryptorchid Boys Risking Infertility with LH-RH Analogue. Int Braz J Urol 2008; 34 (3): 319–328.
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