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SCHWERPUNKT
Die gynäkologische Untersuchung bei der pädiatrischen Patientin
Die gynäkologische Untersuchung beim kleinen Mädchen setzt genaue Kenntnisse der anatomischen und physiologischen Entwicklungsphasen voraus. Sie bedarf einer sanften, aber sicheren Untersuchungstechnik und immer viel Zeit, Respekt, Ruhe und Geduld.
Von Francesca Navratil
Die Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachrichtungen wie Pädiatrie, Gynäkologie oder Allgemeinmedizin werden immer wieder direkt oder indirekt mit gynäkologischen Fragestellungen oder Problemen beim neugeborenen Mädchen, bei Mädchen in der Präpubertät (hormonale Ruheperiode) sowie bei Mädchen zu Beginn der Pubertät und bei Adoleszentinnen konfrontiert. Aus diesem Grund ist es wichtig, sowohl die altersangemessene, einfühlsame Untersuchungstechnik zu beherrschen als auch die Indikation dafür zum richtigen Zeitpunkt zu stellen. Es sollte auch die Fähigkeit vorhanden sein, die erhobenen Befunde zu interpretieren, um zwischen Norm, Normvarianten und Pathologien zu unterscheiden und, falls indiziert, die entsprechenden notwendigen weiteren diagnostischen und therapeutischen Massnahmen einzuleiten. Eine Untersuchung der äusseren Geschlechtsorgane ist auch Bestandteil der pädiatrischen Vorsorgeuntersuchungen durch den Grundversorger. Sie sollte immer in der Neugeborenenperiode und mindestens einmal in der Kindheit, vor Beginn der Pubertät, durchgeführt werden.
Respekt, Ruhe und Geduld!
Respekt, Ruhe und Geduld signalisiert man bereits unbewusst, sobald das Mädchen und die Begleitperson, meistens die Mutter, das Untersuchungszimmer betreten. Selbstverständlich braucht es auch Verständnis für das Kind als eigenständige Persönlichkeit in einer ungewohnten Situation, mit eigenen Wünschen, Vorstellungen, Erwartungen, Unsicherheiten, Abwehrhaltungen und Ängsten. Häufig gilt es zunächst, Unsicherheit und Angst abzubauen, um das Vertrauen der kleinen Patientin zu gewinnen. Genitaluntersuchungen gehören immer in einen bestimmten
Rahmen und eine bestimmte Atmosphäre, man darf sie nicht «zwischendurch schnell machen». Auch darf dabei nie Zwang ausgeübt werden.
Untersuchungsschritte
Falls eine gynäkologische Untersuchung indiziert ist (siehe Tabelle), sollte immer nach der Anamnesenerhebung (Gespräch mit der Mutter und immer auch mit der Patientin!) eine pädiatrische Allgemeinuntersuchung folgen.
Genitalinspektion
Diese ist der wichtigste Teil der pädiatrischen gynäkologischen Untersuchung. Die Patientin liegt dazu auf dem Untersuchungstisch in Rückenlage mit abduzierten, in den Knien abgewinkelten Beinen oder auf Beinstützen. Ein Handspiegel kann der Patientin angeboten werden und ist oft hilfreich, um das Vorgehen bei der Untersuchung und die Befunde zu zeigen und zu erklären. Säuglinge und Kleinkinder, die Angst haben, können auf dem Schoss der Mutter problemlos untersucht werden. Eine gute Lichtquelle ist unentbehrlich, eine Lupe oder ein Kolposkop können hilfreich sein und die Interpretation erleichtern.
Untersuchungstechnik
Die Separationsmethode (Spreizen der grossen Labien) und die Traktionsmethode (Zug an den grossen Labien) (Abbildung 1) erlauben eine optimale Beurteilung der Vulva und des Vestibulums (Abbildung 2). Mit der Traktionsmethode, vor allem bei entspannter Patientin, kann man einen guten Einblick in die distale, zum Teil auch in die proximale Vagina gewinnen. Das Perineum, die Anal- und Perianalgegend sollten auch immer untersucht werden.
Abbildung 1: Die Untersuchungstechniken Separation (A) und Traktion (B)
Man darf das Kind niemals zu dieser Untersuchung zwingen!
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SCHWERPUNKT
Abbildung 2: Genitalanatomie eines Mädchens vor der Pubertät (hormonale Ruheperiode)
Abbildung 3: Fluordiagnostik: (1) Introitus, Visualisierung, (2) Einführen des Katheters und Absaugen, (3) Nativpräparat, (4) Mikrobiologie
Weitere Untersuchungen
Je nach Symptomen und Fragestellungen sind weitere Untersuchungen indiziert. Dazu gehören neben der Abdomenpalpation auch die bimanuelle Palpation (rekto-abdominal) von Uterus und Adnexgegend, welche aber oft durch die Ultraschalluntersuchung der Beckenorgane ergänzt beziehungsweise ersetzt wird, sowie Röntgen- und Laboruntersuchungen, Fluordiagnostik und die instrumentelle gynäkologische Untersuchung (Vaginoskopie).
Fluordiagnostik Nativpräparat, mikrobiologische Kultur: Absaugen von Sekret aus der Vagina (keine Vulvaabstriche!) mit dünnem Neugeborenen-Absaugkatheter, nach Visualisierung des Introitus mittels Traktionsmethode (Abbildung 3), ausnahmsweise mit dünnem, in steriler NaCl-Lösung getränktem Watteträger. Kein «blindes Einführen» in die Vagina, weil meistens die Urethralwulst/-öffnung berührt wird, die sehr schmerzempfindlich ist.
Vaginoskopie Indikationen für eine instrumentelle gynäkologische Untersuchung (Vaginoskopie) sind: • Genitalblutung • Genitalverletzung, Penetration
Tabelle: Indikationen für eine gynäkologische Untersuchung (Genitalinspektion) in der Präpubertät
• Pruritus, Brennen, Schmerzen (genital, anal) • Harnträufeln, Enuresis, Dysurie (vulväre Dysurie: keine Pollakisurie wie bei Harn-
wegsinfekt) • Fluor vaginalis • Genitalblutung
Je nach Anamnese auch bei: • Allgemeinsymptomen (Bauchschmerzen) • nicht altersgemässem Auftreten sekundärer Geschlechtsmerkmale • Verdacht auf Genitalanomalien • Verdacht auf sexuellen Missbrauch
• rezidivierende Vulvovaginitis • Verdacht auf Tumor in der Vagina. Die Vaginoskopie sollte bei Indikation und nur mit an eine Kaltlichtquelle angeschlossenem Vaginoskop (3 Grössen) durch eine erfahrene Fachperson erfolgen. Wichtig sind insbesondere folgende Punkte: • Genug Zeit einplanen! • Genaue Erklärung aller Schritte an Patientin und
Begleitperson. • Keine Versuche mit dem Gebrauch von Ohrenspie-
gel oder Trichter, weil diese zu kurz sind und damit keine sinnvolle Befunderhebung möglich sein wird. • Vaginoskopie in Narkose nur bei Indikation, das heisst bei Verletzungen, ängstlichen, nicht kooperativen und/oder traumatisierten Mädchen. • Je nach Situation kann eventuell eine Sedierung hilfreich sein. • Nie Zwang ausüben!
Stellenwert der gynäkologischen Untersuchung in der Pädiatrie
Die dem Alter angepasste und kompetent durchgeführte pädiatrisch-gynäkologische Untersuchung, die vor allem in einer genauen Inspektion der Genitoanalgegend besteht und im Rahmen der allgemeinpädiatrischen oder einer speziell kindergynäkologischen Sprechstunde durchgeführt wird, kann eine einzigartige Gelegenheit zur primären und sekundären Gesundheitsförderung und Prävention darstellen. Unter anderem ermöglicht sie: • die Information in Gesundheits-und Entwicklungs-
fragen; • die Information zur Prävention von Krankheiten und
Riskosituationen (Hygiene, Ernährung, Impfungen, Risikoverhalten); • das Erfassen von Risikosituationen in der bio-psycho-sozialen Ebene (auch Misshandlung, sexueller Missbrauch); • die Früherkennung von Normvarianten und Pathologien; • die Erkennung von Entwicklungsstörungen.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Francesca Navratil E-Mail: navratil@bluewin.ch
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