Transkript
SCHWERPUNKT
Vergiftungsnotfall beim Kleinkind
Risikoabschätzung, Erstmassnahmen und weiteres Vorgehen
Vergiftungen kommen bei Kindern recht häufig vor, verlaufen glücklicherweise aber selten schwer. Die häufige Konfrontation mit solchen Ereignissen und die Seltenheit lebensbedrohlicher Situationen bedeuten für Ärzte und Ärztinnen eine besondere Herausforderung. Es gilt, die wenigen potenziell gefährlichen Vergiftungsunfälle rasch zu erfassen, insbesondere dann, wenn das Kind noch asymptomatisch ist. Dieser Artikel soll Grundlagen vermitteln, die die Risikoabschätzung erleichtern.
Von Christine Rauber-Lüthy und Hugo Kupferschmidt
Bei Ungewissheit über die eingenommene Menge sollte man immer von der maximal möglichen ausgehen.
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Das Schweizerische Toxikologische Informationszentrum (STIZ) erhielt im Jahr 2011 über 16 000 Anfragen zu Expositionen mit Giften bei Kindern, wovon zirka 85 Prozent der Kinder unter 5 Jahren alt waren. Im gleichen Jahr wurden lediglich 118 mittelschwere und schwere Intoxikationen und kein einziger dadurch bedingter Todesfall bei Kindern registriert. Diese Zahlen illustrieren eindrücklich die Herausforderung, unter der Vielzahl der Vergiftungsnotfälle bei Kindern die potenziell gefährlichen rasch und sicher zu identifizieren. Antidote, die in der Kinderarztpraxis für den Notfall vorrätig sein sollen, sind in Tabelle 1 aufgelistet.
Ermitteln der Dosis
Kinder können meistens nicht genau angeben, welche Menge sie eingenommen haben, und auch die Betreuer sind dazu nicht immer in der Lage. Oft sind nur über den Umweg der verbliebenen Substanzmenge Rückschlüsse möglich. Sicherheitshalber muss in solchen Situationen immer von der Maximalmenge ausgegangen werden, auch wenn dadurch gelegentlich eine unnötige Hospitalisation erfolgt. Ein weiteres Problem ist, die verschüttete Menge bei Medizinalsirup und anderen Flüssigprodukten richtig einzuschätzen, um auf die effektiv eingenommene Menge schliessen zu können. Eine Studie zeigt, dass die Menge, die vom T-Shirt des Kindes aufgesaugt wird, über- und damit die Menge, die eingenommen wurde, unterschätzt wird (1). Wenn die Angabe der eingenommenen Dosis in Schlucken erfolgt, stellt sich die Frage, welcher Menge ein Schluck entspricht. Man muss in solchen Fällen mit zirka 0,5 ml/kg Körpergewicht rechnen, aber die Streubreite ist gross (2). Bei röntgendichten Noxen kann ein Röntgenbild weiterhelfen. So können zum Beispiel die Anzahl Eisen-
oder Kaliumtabletten, die eingenommen wurden, radiologisch verifiziert oder die Lage von Knopfbatterien oder Magneten eruiert werden.
Häufige und seltene Noxen
Gemäss der Kasuistik des STIZ vergiften sich Kinder am häufigsten mit Haushaltsprodukten (33% aller Anfragen), danach folgen Medikamente (31%), Pflanzen (13%) und Kosmetika (8%). Demgegenüber sind Anfragen zu gewerblichen Produkten (3%), Drogen (2,5%), Pilzen (1%) und Gifttieren (0,6%) deutlich seltener. Seit die Daten elektronisch registriert werden, wurden am STIZ über 50 000 Noxen erfasst. Es kann hier also nur ein kleiner Bruchteil dieser Noxenvielfalt angeschnitten werden. Dabei wird das Augenmerk vor allem auf Produkte gelegt, die häufig von Kindern eingenommen werden oder die besonders gefährlich sind, sodass entsprechend unverzüglich gehandelt werden muss.
Haushaltsprodukt oder gewerbliches Produkt?
Gewerbliche Produkte enthalten im Gegensatz zu haushaltsüblichen Produkten oft toxischere und höher konzentrierte Substanzen. Eine erste wichtige Abklärung nach Unfällen mit Chemikalien im Haushalt ist daher die Frage, ob es sich um ein Produkt handelt, das dem Publikum verkauft wird, oder ob es um ein gewerbliches Produkt geht. Letztere sollten eigentlich im Haushalt nicht vorhanden sein, werden aber oft vom Arbeitsplatz mit nach Hause genommen, nicht selten umgefüllt in eine Getränkeflasche. Befindet sich das Produkt noch in der Originalflasche, lässt sich der Unterschied der potenziellen Gefährdung schon an dem Gefahrensymbol erkennen. Während haushaltsübliche Produkte maximal mit «reizend» ge-
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SCHWERPUNKT
kennzeichnet sind, können auf gewerblichen Produkten die Gefahrensymbole «ätzend» oder «giftig» gefunden werden (Abbildung 1).
Tenside
Die häufigste Substanzgruppe bei Haushaltprodukten sind nichtionische und anionische Tenside. Diese waschaktiven Substanzen können im Auge eine Konjuntivitis und geschluckt eine leichte gastrointestinale Reizsymptomatik verursachen. Als Komplikation nach der peroralen Aufnahme kommt es im Rahmen des Erbrechens von Schaum selten zu einer Aspiration und zu einer chemischen Pneumonie. Der Schaumbildung kann durch die prophylaktische Gabe von Simethicon entgegengewirkt werden. Da Trinken die Schaumbildung fördert, soll dies erst nach der Gabe des Entschäumers erfolgen.
Reiz- und Ätzsubstanzen im Haushalt
Reiz-/Ätzsubstanzen im Haushalt enthalten meist schwache, niedrig konzentrierte Säuren (z.B. Amidosulfonsäure, Milch- oder Zitronensäure in Entkalkungsmittel), Laugen (z.B. Natriumsilikate in Geschirrspülmaschinenreinigern) oder korrosive Oxidationsmittel (z.B. Natriumhypochlorit in Javelwasser und Produkten gegen Schimmel). Sie führen in der Regel nur zu einer kurzzeitigen gastrointestinalen Reizung. In grösseren Mengen eingenommen, zum Beispiel wenn die Milch eines Säuglings mit dem unverdünnten Entkalker zubereitet wird, der sich noch im Wasserkocher befand, können Haushaltentkalker aber auch eine systemische Toxizität mit einer metabolischen Azidose verursachen. Gewerbliche Korrosiva (zum Beispiel Alkalihydroxide, Essigsäure, Ameisensäure in Rohr-, Melkmaschinenoder Metallreinigern) können bei Kleinkindern schon nach Ingestion eines Schluckes zu gastrointestinalen Verätzungen und zu schweren Komplikationen (Epiglotisödem, Blutungen, Perforation und Strikturen) führen. Als Sofortmassnahme soll in den ersten 30 Minuten nach Einnahme 100 bis 150 ml Wasser verabreicht werden, sofern keine Zeichen einer Perforation vorliegen. Nach Ingestion von gewerblichen Korrosiva muss das Kind in jedem Fall, auch wenn es asymptomatisch ist, 6 Stunden im Spital überwacht werden. Bei Säureingestionen mit schwerem Verlauf kann es zudem zur Hämolyse mit Niereninsuffizienz kommen. Weitere spezifische systemische Effekte sind von der Art der Ätzsubstanz abhängig; erwähnenswert ist hier die Hypokalzämie nach Flusssäureexposition. Abbildung 2 zeigt den Algorithmus bei Ingestion korrosiver Substanzen.
Alkohole und Glykole
Alkohole und Glykole werden im Haushalt zum Putzen, in Desinfektionsmitteln und als Brennflüssigkeit verwendet. Neben dem Ethanol, wie er zum Beispiel als Brennsprit zur Anwendung kommt, werden in Desinfektionsmitteln vor allem weitere Alkohole (Isopropanol, Propylalkohol) mit vergleichbarer Toxizität verwendet. All diese Alkohole stellen beim Kleinkind,
wenn in kleiner Menge eingenommen (1–2 Schlucke), kein Problem dar. Es genügt, das Kind durch die Betreuer 2 Stunden überwachen zu lassen und wegen der Gefahr der Hypoglykämie gezuckerte Getränke zu verabreichen. Bei grösseren eingenommenen Mengen ist eine Hospitalisation nötig. Anders sieht es bei den «toxischen Alkoholen» aus. Ethylenglykol (als Frostschutzmittel) und Methanol (zum Beispiel im Treibstoff von Modellflugzeugen) können schon bei Ingestion eines Schluckes zu schweren Vergiftungen führen. Die Metaboliten dieser Alkohole (Oxal- bzw. Ameisensäure) führen zu einer metabolischen Azidose und zu einer Tubulusschädigung beziehungsweise zu einer Schädigung des Nervus opticus. Hier besteht die Primärversorgung in der Verabreichung von Ethanol (bei einem 10 kg schweren Kleinkind zum Beispiel 20 ml 40%-igem Schnaps). Durch die höhere Affinität des Ethanols zur Alkoholdehydrogenase wird die Metabolisierung der toxischen Alkohole verzögert, bis im Spital weitere Massnahmen ergriffen werden können.
T = giftig T+ = sehr giftig
Xi = reizend Xn = gesundheitsschädigend
ätzend
Abbildung 1: Gefahrensymbole
Kohlenwasserstoffe
Aliphathische und aromatische Kohlenwasserstoffe sind im Haushalt weitverbreitet, unter anderem als Brennstoffe, wie Lampenöl, Heizöl, Benzin, Grill-Anzündflüssigkeiten, oder in Pinselreinigern und Möbelpolituren sowie als Bestandteile von Farben und Lacken. Sie verursachen akzidentell eingenommen in der Regel nur leichte gastrointestinale Reizsymptome. Aber bereits bei Einnahme kleinster Mengen oder beim nachfolgenden Erbrechen können sie aufgrund ihrer niedrigen Viskosität aspiriert werden und eine chemische Pneumonie verursachen. Husten und Dysnpoe sind typische Initialsymptome und bedingen eine Spitalüberwachung. Asymptomatische Kleinkinder können nach Ingestion von bis zu 3 Schlucken zu Hause beobachtet werden.
Am häufigsten sind Vergiftungen mit Haushaltsprodukten und Medikamenten.
Tabelle 1: Antidote in der Kinderarztpraxis
Aktivkohle
Simethicon Naloxon Flumazenil
Dosierung 1 g/kg Körpergewicht p.o.
40–100 mg p.o.
0,01–0,1 mg/kg Körpergewicht i.v., evtl. alle 2 bis 3 Minuten mehrmals wiederholen 0,01 mg/kg Körpergewicht, mit 0,005–0,01 mg/kg Körpergewicht wiederholbar
Indikation Verhinderung der Absorption vieler Toxine (mit Ausnahme von Alkoholen, Lösungsmitteln, Säuren und Laugen sowie Eisen, Lithium und anderen Metallen) innerhalb der ersten 1 bis 2 Stunden nach Ingestion
Verhindert die Schaumbildung nach Einnahme von Detergenzien
Antagonisierung der Wirkung von Opiaten
Antagonisierung der Wirkung von Benzodiazepinen, Zolpidem, Zopiclon, Zaleplon
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SCHWERPUNKT
Batterien und Magnete
Knopfbatterien passieren den Gastrointestinaltrakt in den allermeisten Fällen problemlos und werden ausgeschieden. Sehr selten bleiben sie jedoch im Ösophagus stecken und können dann innert kurzer Zeit zur Nekrose führen. Deshalb dürfen nur absolut asymptomatische Kinder zu Hause von den Eltern überwacht werden. Symptomatische Kinder oder Kinder,
Tabelle 2: Medikamente, die nach Ingestion von 1 bis 2 Tabletten zu schweren Vergiftungssymptomen führen können (Auswahl)
Substanzen Methylsalizylat
Sulfonylharnstoffe Betablocker
Kalziumkanalblocker
Clonidin, Imidazoline Opioide Kampfer Phenothiazine
Clozapin, Olanzapin
Trizyklische Antidepressiva
Chinin, Chinidin Chloroquin, Hydroxychloroquin
Gefahr Salizylatvergiftung mit Neurotoxizität, metabolischer Azidose (1 ml entspricht etwa 1400 mg ASS)
spezifische Primärmassnahmen* Kohle 1 g/kg KG, NaBic bei Azidose. Cave: Beatmung kann zu Verhinderung der Hyperventilation und damit zu akuter Verschlechterung durch Verstärkung der Azidose führen!
schwere prolongierte Hypoglykämie nach 1–2 Tabletten innert 8 Stunden (bei Retardformulierung länger)
Kohle 1 g/kg KG, Glukose
Bradykardie, Hypotension, Überleitungsstörungen, Delir, Koma, Hypoglykämie nach mehr als 2 Tabletten; keine Todesfälle
Kohle 1 g/kg KG, Insulin/Glukose als spezifisches Antidot (Bolus von 1,0 IU/kg i.v., danach Dauerinfusion von 0,5 IU/kg/h. Gleichzeitig Glukose: Bolus von 0,5–1 g/kg, danach Dauerinfusion von 0,5–1,0 g/kg/h)
Hypotension und Bradykardie nach 1–2 Tabletten möglich (v.a. Nifedipin, Diltiazem und Verapamil)
Kohle 1 g/kg KG, ev. Kalzium (0,125–0,175 mmol/kg langsam i.v), Insulin/Glukose (Dosierung siehe unter Betablocker)
ZNS- und Atemdepression und kardio- Kohle 1 g/kg KG vaskuläre Instabilität innert 4–6 Stunden nach 1–2 Tabletten
ZNS- und Atemdepression, Miosis, nach 1–2 Tabletten (v.a. Methadon, Codein ab 5 mg/kg)
Kohle 1 g/kg KG, Naloxon (0,01–0,1 mg/kg i.v.), evtl. alle 2–3 Minuten mehrmals wiederholen
ZNS-Depression, Apnoe, Exzitation, Krampfanfälle, Todesfälle nach > 500 mg (5 ml 10%-Lösung)
Bei Chlorpromazin ist die minimale Dosis für schwere Symptome mit 1–2 Tabletten (200 mg) erreicht. Promethazin scheint weniger toxisch.
Kohle 1 g/kg KG
ZNS-Depression, anticholinerges
Kohle 1 g/kg KG
Syndrom. Koma, Krampfanfälle, Apnoe
schon ab 1 Tablette möglich.
Cave: extrapyramidale Symptome (EPS)!
schwere Intoxikation nach 1–2 Tabletten (10–20 mg/kg): Koma, Krämpfe, anticholinerge Symptome, Blutdruckveränderungen, Herzrhythmusstörungen
Kohle 1 g/kg KG, NaBic bei kardiotoxischen Zeichen (1–2 mmol/ kg i.v. als Bolus über < 5 Minuten unter engmaschiger Kontrolle der arteriellen Blutgase (ABGA) wiederholen, bis Ziel-pH 7,50–7,55 erreicht ist). kardiovaskuläre und neurologische Toxizität nach 1–2 Tabletten Kohle 1 g/kg KG Krampfanfälle, Rhythmusstörungen, Kohle 1 g/kg KG Atemstillstand nach 1–2 Tabletten *Zusätzlich soll die notwendige allgemeine supportive Therapie vorgenommen werden. die bezüglich der Symptome schlecht beurteilbar sind (Kinder, die sich nicht äussern können oder mit vorbestehender Symptomatik, wegen der die Situation nicht beurteilt werden kann), brauchen notfallmässig eine radiologische Kontrolle und, falls die Batterie im Ösophagus steckt, eine sofortige endoskopische Entfernung. Auch Magnete werden in der Regel problemlos ausgeschieden. Hier ist nur dann eine radiologische Kontrolle nötig, wenn mehr als ein Magnet verschluckt wurde, da es in diesem Fall zu einer Inkarzeration kommen kann (3). Medikamentenvergiftungen In den meisten Fällen erwischen Kinder nur eine einzige Tablette. Gelegentlich kommt es auch zu einer Medikamentenüberdosierung, weil bei der Verabreichung ein Kinder- mit einem Erwachsenenmedikament verwechselt wird. Viele Medikamente werden von Kleinkindern in einer üblichen Erwachsenendosis gut ertragen, und es kommt nur zu leichten Vergiftungssymptomen wie Somnolenz, Ataxie, Schwindel, Erbrechen. Andere Medikamentenüberdosierungen haben meist problemlose Verläufe, weil das Kind rechtzeitig eine adäquate Therapie erhält. Darunter fallen insbesondere die häufigen Paracetamolintoxikationen (siehe unten). Medikamente, die in sehr geringer Überdosierung schon schwere Vergiftungssymptome verursachen können, sind selten. In Tabelle 2 sind die Übersichtsarbeiten zusammengestellt, die unter dem Titel «Are one or two dangerous?» zu einigen besonders gefährlichen Medikamenten im «Journal of Emergency Medicine» erschienen sind (4–16). Eine aktuelle Arbeit zu Intoxikationen bei Kleinkindern zeigt, dass in den USA pro Jahr mehr als 50 000 Kinder nach Ingestion eines potenziell toxischen Medikamentes eine Notfallaufnahme aufsuchen und dass diese Zahl in den letzten Jahren anstieg. Rund 5000 dieser Kinder mussten hospitalisert werden, und über 2000 hatten einen mittelschweren, schweren oder tödlichen Verlauf. In der Zeitspanne 2001 bis 2008 wurden 66 Todesfälle nach unbeabsichtigter Einnahme von Medikamenten durch Kleinkinder registriert. Am häufigsten waren Opiate involviert (20 Fälle), aber auch kardiovaskuläre Medikamente (11 Fälle), Medikamente für das ZNS (9 Fälle) und Paracetamol (6 Fälle) verursachten tödliche Verläufe (17). Am STIZ wurde in den letzten Jahren bei Kleinkindern lediglich 1 Todesfall mit einer Medikamentenintoxikation registriert. Es war ein 11/2-jähriges Kind, das versehentlich ein opiathaltiges Suppositorium erhielt und an den typischen Zeichen der Opiatintoxikation starb. Paracetamol Am STIZ wurden im Jahr 2011 bei Kindern 371 Paracetamolüberdosierungen registriert. Neben den gastointestinalen Symptomen, die rasch nach Ingestion auftreten, manifestiert sich die Hepatotoxizität, die durch den reaktiven Metaboliten N-Acetyl-p-benzoquinonimin (NAPQI) verursacht wird, mit einer Latenz von zirka 20 Stunden. 24 3/12 SCHWERPUNKT Kleinkinder bis zum Vorschulalter scheinen weniger empfindlich auf eine akut einmalige Überdosierung zu reagieren als Erwachsene. Bis zu einer Einnahme von ≤ 200 mg/kg Körpergewicht können Kleinkinder zu Hause beobachtet werden, vorausgesetzt, das Kind ist asymptomatisch und hat keine Lebervorerkrankungen. Liegt die eingenommene Dosis aber höher, oder wurde wiederholt überdosiert, ist ein hepatotoxischer Effekt möglich und eine Hospitalisation zur Verabreichung des Antidots N-Acetylcystein (SH-Donor) nötig. Als Erstmassnahme soll Kohlesuspension in der ersten Stunde nach Einnahme verabreicht werden. Eisen Eine weitere Intoxikation, die bei rechtzeitiger antidotaler Therapie eine gute Prognose hat, ist die Eisenvergiftung. Während Überdosierungen mit dreiwertigem Eisen (Fe+++) auch in hohen Dosen unproblematisch verlaufen, kann zweiwertiges Eisen (Fe++) ab 20 mg/kg Körpergewicht zu leichten, ab 60 mg/kg Körpergewicht zu schweren Symptomen führen. Eisen wird in den Mukosazellen als Ferritin gespeichert und bei Bedarf an Transferrin gebunden in den Körper abgegeben. Bei Überdosierung stört der korrosive und oxidative Effekt auf die Darmmukosa diesen Regelkreis. Eisen kann dann passiv dem Konzentrationsgradienten folgend in den Körper gelangen. Leitsymptome sind Nausea, Erbrechen, Hämatemesis, Diarrhö, Hypovolämie, Hypotension, metabolische Azidose und Schock. Komplikationen sind Leberzellnekrose und selten Strikturen. Da Kohle Eisen nicht bindet, kommen als primäre Dekontamination nur die Magenspülung, die Ganzdarmspülung oder die endoskopische Entfernung infrage. Beide Massnahmen sowie die Verabreichung des Antidots Deferoxamin müssen unter stationären Bedingungen durchgeführt werden. Giftige Pflanzen Besonders attraktiv sind für Kleinkinder Beeren, es werden aber auch Blätter und Blüten zerzaust und eingenommen. Neben der peroralen Exposition wird das STIZ auch regelmässig nach kutanen Expositionen mit Pflanzen kontaktiert. Tabelle 3 gibt eine Übersicht zu besonders gefährlichen Pflanzen in der Schweiz. Da alle Pflanzentoxine durch Kohle gebunden werden, ist die frühzeitige Verabreichung von Kohlesuspension nach potenziell gefährlichen Pflanzeningestionen zu empfehlen, insbesondere dann, wenn, wie zum Beispiel bei der Herbstzeitlose, kein Antidot zur Verfügung steht und supportive Massnahmen nur beschränkt zur Verbesserung des Verlaufs beitragen können. Weil die Inhaltsstoffe zuerst aus der Pflanze gelöst werden müssen, bevor die Resorption beginnen kann, steht immer ein Zeitfenster zur Verfügung, in welchem Kohle gegeben werden kann. Pilze Pilze verursachen je nach enthaltenem Toxin diverse Syndrome mit unterschiedlicher Symptomatik. Wirklich lebensbedrohlich sind nur amatoxinhaltige Pilze, deren berühmtester Vertreter der grüne Knollenblätterpilz ist. Bei Kindern besteht die Hauptgefahr in der Abbildung 2: Initiales Vorgehen nach Ingestion von Ätzsubstanzen bei Kleinkindern *Wenn die Ingestion nicht länger als 30 Minuten zurückliegt, soll mit 100–150 ml Wasser verdünnt werden; † = Gilt nicht für alle Substanzen, zum Beispiel Amidosulfonsäure. Tabelle 3: Für Kleinkinder gefährliche Pflanzen Pflanzen Aconitum sp. Eisenhut Atropa belladonna Tollkirsche Colchicum autumnale Herbstzeitlose Datura stramonium Stechapfel Datura suaveolens Engelstrompete Digitalis sp. Fingerhut Euphorbia sp. Heracleum mantegazzianum Hyoscyamus niger Wolfsmilchgewächse Riesenbärenklau Schwarzes Bilsenkraut Laburnum anagyroides Littonia sp. Nerium olenader Goldregen Littonia Oleander Ricinus communis Wunderbaum Taxus baccata Eibe Sandersonia aurantiaca Veratrum album Laternenlilie Weisser Germer Bemerkungen Aconitin wirkt stark kardiotoxisch durch Aktivierung des Natriumeinstroms. 1–2 Beeren reichen für ein schweres anticholinerges Syndrom. Oft Verwechslung mit Bärlauch; Mitosehemmung führt zu Multiorganversagen. Alle Pflanzenteile enthalten Atropin und führen zu einem anticholinergen Syndrom. Alle Pflanzenteile enthalten Atropin und führen zu einem anticholinergen Syndrom. Digitaloide führen zu Erbrechen und Herzrhythmusstörungen. Verursachen Cornealäsionen bei Augenkontakt. Fototoxischer Effekt bei Hautkontakt. Alle Pflanzenteile enthalten Atropin und führen zu einem anticholinergen Syndrom. Das Hauptalkaloid Cytisin führt zu einem Vergiftungsbild ähnlich dem des Nikotins. Mitosehemmung führt zu Multiorganversagen. Herzaktive Glykoside führen zu Herzrhythmusstörungen. Rizin führt zu Erbrechen, hämorrhagischer Gastroenteritis und Kreislaufkollaps. Beeren ungiftig, Taxin in den Nadeln stark kardiotoxisch durch Blockierung der Na+-/Ca++Kanäle. Mitosehemmung führt zu Multiorganversagen. Leitsymptome sind Erbrechen, Bradykardie und Hypotension. 3/12 25 SCHWERPUNKT Einnahme von Pilzen im Garten. In Abhängigkeit von der Bodenbeschaffenheit und den Pflanzenarten wächst dort ein breites Spektrum an verschiedenen Pilzarten. Meist sind Unfälle mit Rasenpilzen harmlos. Unter den Pilzen, die im Garten gedeihen, können aber auch amatoxinhaltige sein (Amanita sp., Galerina sp.). In Fällen, bei denen eine relevante Menge Pilz eingenommen wurde, soll deshalb vom «worst case» ausgegangen und dem Kind unverzüglich Kohlesuspension verabreicht werden. Ein Pilzkontrolleur soll zur Identifikation von allfällig noch vorhandenen Pilzen aufgeboten werden. Ist kein Pilz mehr vorhanden oder ist eine Pilzbestimmung nicht innert Kürze möglich, muss das Kind zur Antidotbehandlung hospitalisiert werden. Drogen Anfragen zu Drogen und Kleinkindern erhält das STIZ eher selten. Einzige Ausnahme sind Zigaretteningestionen. Bei der Einnahme von bis zu 2 Zigaretten oder 6 Zigarettenstummeln sind höchstens leichte Symptome (Erbrechen, Blässe, Tachykardie, Schwitzen, Unruhe) zu erwarten, und das Kind kann durch die Eltern zu Hause beobachtet werden. Erst bei grösseren Mengen soll das Kind Kohlesuspension erhalten und zur Überwachung hospitalisiert werden. Korrespondenzadresse: Dr. med. Christine Rauber-Lüthy Schweizerisches Toxikologisches Informationszentrum Freiestrase 16, 8032 Zürich Tel. 044-251 66 66, Fax 044-252 88 33 E-Mail: christine.rauber@usz.ch Referenzen: 1. Branton T, Ciancaglini P, Benitez J, Lawrence R. Accuracy of caregivers in assessing liquid medication spills-expanded investigation (abstract). 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