Transkript
SCHWERPUNKT
Bisswunden – was ist zu beachten?
Interview mit Dr. med. Nicole Ritz, Fachärztin für Pädiatrie und Infektiologie, Universitäts-Kinderspital beider Basel
Bisswunden bringen ein erhöhtes Infektionsrisiko mit sich. Wir sprachen mit der Infektiologin Dr. med. Nicole Ritz, was in der Praxis nach einem Katzen-, Hunde- oder auch Menschenbiss zu tun ist, um Infektionen zu verhindern.
F rau Dr. Ritz, muss man nach einer Bissverletzung immer Antibiotika geben? Dr. med. Nicole Ritz: Es gibt viele Faktoren, die das Infektionsrisiko bei einer Bisswunde beeinflussen. Es kommt darauf an, welches Tier beisst, an welcher Lokalisation die Wunde ist, wie diese aussieht und welche immunologische Konstitution der Patient hat. Immundefiziente Patienten und solche mit einer Asplenie brauchen selbstverständlich immer eine Antibiotikaprophylaxe. Des Weiteren sollte man immer Antibiotika geben, wenn die Bissverletzung an den Händen ist, wenn es sich um grosse, lazerierte Wunden handelt, bei Wunden mit nekrotischem Material, wenn der Biss Gelenke, Sehnen oder Knochen verletzt hat – und prinzipiell immer, wenn es ein Katzenbiss ist. Katzen dringen mit ihren langen, spitzen Zähnen tief ins Gewebe ein. Das bedeutet immer ein erhöhtes Infektionsrisiko. Das wird oft unterschätzt, weil ein Katzenbiss auf den ersten Blick nicht so schlimm aussieht.
Gilt dieses erhöhte Infektionsrisiko auch für Katzenkratzer? Ritz: Nein, hier ist in der Regel keine Antibiotikaprophylaxe nötig, weil die Wunde sehr oberflächlich ist.
Welches Antibiotikum sollte man für die Infektionsprophylaxe nach einem Biss nehmen? Ritz: Bei Infektionen, welche durch Bissverletzungen verursacht sind, handelt es sich nie um nur einen Erreger. So weiss man von Hundebissen, dass durchschnittlich fünf verschiedene Erreger an einer Infektion beteiligt sind. Am häufigsten sind dies Pasteurellen, Staphylokokken, Streptokokken und Anaerobier. Man muss also ein entsprechendes Erregerspektrum abdecken. Am besten hierzu geeignet ist AmoxicillinClavulansäure, also Augmentin® oder die entsprechenden Generika, in einer Dosierung von 50 mg/kg, maximal 1000 mg, auf zwei Dosen pro Tag verteilt als Tablette oder Sirup verabreicht. Für Patienten mit einer Unverträglichkeit gegenüber Betalaktam-Antibiotika kann beispielsweise Cefuroxim, ein Cephalosporin der zweiten Generation, gegeben werden. Sollte man dem Patienten hingegen auch keine Cephalospo-
rine geben können, das heisst bei früherer anaphylaktischer Reaktion auf Betalaktam-Antibiotika, kommt Cotrimoxazol oder bei Kindern über 8 Jahre Doxycyclin infrage. Alle Alternativen zu Amoxicillin-Clavulansäure müssen mit Metronidazol oder Clindamycin kombiniert werden, um die Anaerobier abzudecken.
Wie lang soll man die Antibiotika geben? Ritz: Die Antibiotikaprophylaxe nach einem Biss sollte drei bis fünf Tage dauern. Das sind zurzeit die gängigen Empfehlungen, Studien gibt es hierzu jedoch nicht.
Was ist bei der Wundversorgung von Bissen zu beachten? Ritz: Als Sofortmassnahme sollen die Eltern die Wunde mit Wasser und Seife auswaschen und danach mit dem Kind sofort zu einem Arzt gehen – nicht erst am nächsten Tag, sondern am gleichen Tag. Infektionen nach Tierbissen entwickeln sich in der Regel sehr rasch.
Eine Wunde mit Seife auszuwaschen, scheint mir eher ungewöhnlich, oder? Ritz: Dies ist die gängige Empfehlung, welche übrigens auch für die Tollwutprophylaxe gilt. Reines Wasser ist natürlich immer noch sehr gut. Wenn man kein Leitungswasser zur Hand hat, zum Beispiel auf einer Wanderung, geht auch Wasser aus dem Bach. Die Ärztin oder der Arzt soll die Wunde dann mit Hochdruck spülen, mit 10 bis 20 ml physiologischer Kochsalzlösung mit einer Spritze ohne Nadel (s. auch Artikel Wundversorgung in dieser Ausgabe). Tiefe Bisse, wie die von Katzen, sind allerdings sehr schwierig zu reinigen.
Sollte man bei einem Katzenbiss also notfalls noch einen zusätzlichen Schnitt machen? Ritz: Nein, auf keinen Fall. Wenn die Wunde sonst schön aussieht, sollte man nicht weiter explorieren.
Soll man eine Bisswunde nähen oder nicht? Ritz: Dazu gibt es vermutlich so viele verschiedene Meinungen wie Ärzte. Grundsätzlich neigt man eher
Dr. med. Nicole Ritz, UniversitätsKinderspital beider Basel
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SCHWERPUNKT
Tabelle:
Standardschema für die postexpositionelle, aktive Impfung gegen Tollwut
Gegen Tollwut ungeimpft/teilgeimpft1
4 x 1 Dosis i.m. an den Serokontrolle am Tag 21, allenfalls weitere Impfungen und
Tagen 0, 3, 7 und 14
Serokontrollen 1 x pro Woche, bis Titer 0,5 IE/ml erreicht.
Immer simultan Tollwutimmunglobuline am Tag 0: 1 x 20 IE/kg KG,
möglichst um die Wunde, restliche Menge im kontralateralen Deltoid oder
anterolateralen Oberschenkel i.m.
Sind die Tollwut-Immunglobuline nicht sofort verfügbar, können sie noch
bis zum 7. Tag nach Beginn der Impfung (= Tag 0) verabreicht werden.
Gegen Tollwut vollständig geimpft2
2 x 1 Dosis i.m. an den Serokontrolle am Tag 14, allenfalls weitere Impfungen und
Tagen 0 und 3
Serokontrollen 1 x pro Woche, bis Titer 0,5 IE/ml erreicht.
1weniger als 3 Dosen 2Primovakzination (≥ 3 Dosen) oder postexpositionelle Impfung (4 Dosen) mit einem von der WHO empfohlenen Impfstoff oder Impfung mit jeglichem Tollwutimpfstoff, wenn postvakzinal adäquate Antikörpertiter dokumentiert sind.
Quelle: Bull BAG 2012; Nr. 6: 111–115.
zum Nähen, wenn der Biss noch nicht lange zurückliegt, also maximal 6 bis 8 Stunden, vorausgesetzt, man kann die Wunde gut reinigen. Wunden, die nur schlecht zur reinigen sind, sollte man auch nicht primär verschliessen. Schwierig ist mitunter die Entscheidung bei Wunden im Gesicht. Hier muss man das Infektionsrisiko gegen den potenziellen Narbenschaden abwägen.
Wann sollte man den Patienten erneut zur Kontrolle einbestellen? Ritz: Nach 24 bis 48 Stunden. Infizierte Bisse führen nämlich sehr rasch zu Symptomen. Bei Pasteurella entsteht eine Infektion zum Beispiel schon nach 8 bis 12 Stunden.
Wann muss man ins Spital einweisen? Ritz: Eine Einweisung ins Spital ist bei allen Wunden nötig, die einer chirurgischen Sanierung bedürfen, und bei Patienten, bei denen es trotz Antibiotikaprophylaxe zur Infektion kommt. Auch Patienten, die Fieber oder andere Symptome für eine sich ausbreitende Infektion aufweisen, müssen ins Spital.
An welche Impfungen ist bei einer Bisswunde zu denken? Ritz: Zum einen an die Tetanusimpfung gemäss den üblichen Richtlinen (s. auch Artikel Wundversorgung in dieser Ausgabe), zum anderen an die Tollwutprophylaxe. Die Schweiz gilt – wenn man von der Meldung infizierter Fledermäuse einmal absieht – zwar als Tollwut-frei, aber eine 100-prozentige Sicherheit gibt es nicht. Wenn das fragliche Tier in der Schweiz geboren ist und sein Halter mit ihm regelmässig beim Tierarzt war, ist eine Tollwut äusserst unwahrscheinlich. Anders sieht es bei streunenden oder illegal importieren Tieren aus. Wenn man die Geschichte des Tieres also nicht kennt, muss man eine Post-Expositionsprophylaxe gegen Tollwut durchführen. Das Risiko, dass eine Tollwut tatsächlich übertragen wird, ist zwar klein, aber wenn man mit Tollwutvirus infiziert wird, ist das ein Todesurteil. In der Literatur sind bis jetzt nur zwei Fälle von Tollwut-Überlebenden beschrieben. Also geht man kein Risiko ein. Die BAGEmpfehlungen für die Tollwutprophylaxe wurden kürzlich geändert (Tabelle). Es sind nun vier Impfdosen an den Tagen 0, 3, 7 und 14 sowie die lokale Infiltration der Wunde mit Tollwutimmunglobulinen, idealerweise am ersten Tag, erforderlich.
Wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Renate Bonifer.
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