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KINDERSCHUTZ
Überall lauert der Unfalltod
Einfache Massnahmen mindern das Risiko
Weltweit fordern Strassenverkehr, Badeunfälle oder Verbrennungen jedes Jahr Hunderttausende von Kinderleben. Dabei könnten vielfach schon einfache Massnahmen dazu beitragen, jedes Zweite dieser Kinder zu retten, wie in Istanbul der Kinderarzt Prof. Frederic P. Rivara vom Seattle Children’s Hospital/Washington berichtete. In den Ländern der Dritten Welt zählen Verkehrsunfälle und Ertrinken neben dem Erkrankungsrisiko zu den grössten Gefahren.
Mehr Verkehrsopfer in ärmeren Ländern.
G emäss einer gemeinsamen Studie des UN-Kinderhilfswerks Unicef und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben weltweit jährlich rund 830 000 Minderjährige an den Folgen solcher Unfälle. Gemäss der UN-Studie werden 96 000 Kinder und Jugendliche Opfer von Verbrennungen, 46 000 sterben bei Stürzen und 45 000 an Vergiftungen.
Unfälle als dominierende Todesursache bei älteren Kindern
Während bei den unter Einjährigen, aber auch bei den 1- bis 4-Jährigen vor allem Infektionskrankheiten des Gastrointestinal- beziehungsweise Respirationstrakts oder die Malaria sowie Kinderkrankheiten die Mortalität bestimmen, spielen mit zunehmendem Alter Verkehrsunfälle eine immer wichtigere Rolle. Weltweit stehen bei den 5- bis 9-jährigen Kindern Unfälle im Strassenverkehr bereits auf dem dritten Platz aller Todesursachen, nur noch übertroffen von Erkrankungen der Respirationsorgane und Aids. In derselben Altersgruppe gehören auch Ertrinken, Tod durch Ver-
Todesursachen von Kindern in der Schweiz
2009 starben in der Schweiz 123 Kinder im Alter von 1 bis 14 Jahren, die meisten infolge von Krankheiten.
Unfälle und Gewalt davon 60% im Strassenverkehr 10% durch Ertrinken 2,5% infolge von Stürzen 27,5% übrige Unfälle
32,5%
Krankheiten
60,2%
davon
36,5% durch Tumoren
44,6% infolge anderer Erkrankungen
18,9% infolge angeborener Fehlbildungen
andere oder unbekannte
Todesursache
7,3%
Quelle: Bundesamt für Statistik, aktuelle Statistik mit den Daten von 2009
brennungen oder Stürze zu den zehn Hauptmortalitätsgründen. Bei den 10- bis 14-Jährigen stellen – direkt hinter den Respirationskrankheiten – tödliche Unfälle im Strassenverkehr bereits die zweithäufigste Todesursache dar, vor tödlichen Badeunfällen. Selbst im tropischen Bangladesh, einem der ärmsten Länder der Welt, sind nicht Malaria, Diarrhö oder Tuberkulose hauptverantwortlich für den Tod von Kindern, sondern Verkehrsunfälle. Daneben sind dort Stürze, Ertrinken und Bisse durch giftige Tiere relativ häufige Ereignisse mit tödlichem Ausgang – eine Tendenz, die in den meisten Ländern mit sehr niedrigem Einkommen zu beobachten sei, sagte Rivara. Bei den Verkehrsunfällen ist im Vergleich zwischen den Industrieländern und Drittweltländern ein auffälliges Missverhältnis zwischen der Anzahl registrierter Fahrzeuge und den tödlichen Unfällen zu erkennen. Während sich weltweit auf den Strassen der «low income countries» nur 9 Prozent der Fahrzeuge bewegen, sind dort 42 Prozent aller Verkehrsopfer zu beklagen. Oder: Von den 1,3 Millionen jährlichen Verkehrstoten (20 bis 50 Millionen Verletzte) auf der Welt gehen 91 Prozent auf das Konto von Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen. Die wohlhabenden Länder weisen zum Vergleich 52 Prozent aller weltweit zugelassenen Fahrzeuge auf, aber nur 9 Prozent der Verkehrsopfer. Kinder scheinen in ärmeren Ländern besonders gefährdet zu sein, denn von den 260 000 jährlich im Strassenverkehr verunglückten Minderjährigen weltweit kommen 97 Prozent aus «low and middle income countries». Afrikanische Staaten und Indien sind hier traurige Spitzenreiter. Bei den 1- bis 14-jährigen Kindern kommen in diesen Regionen mit 23 beziehungsweise 19 Kindern pro 100 000 rund drei- bis viermal so viele unter die Räder wie in Europa. Gleichzeitig nimmt der globale Verkehr zu. Schätzungen gehen davon aus, dass sich die Zahl motorisierter Vehikel zwischen dem Jahr 2000 und 2020 um zwei
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Drittel erhöhen wird. Dabei sind es nicht die Industrieländer – ihnen wird auf hohem Niveau sogar eine Abnahme der Fahrzeugparks um 28 Prozent prognostiziert –, sondern die Regionen wie Südasien (plus 140%, darunter Indien mit plus 150%), Schwarzafrika (plus 130%) oder der ostasiatische Pazifikraum (plus 130%), für die eine deutliche Zunahme von Motorrädern, Mopeds, Autos oder LKW erwartet wird.
zum Beispiel bei den Eltern, keinen Effekt gezeigt, betonte Rivara. In Bangladesh zeitigen professionelle Schwimmkurse mit insgesamt 26 000 Kindern bereits Erfolge, da von diesen Teilnehmern praktisch niemand mehr dem Wasser zum Opfer fällt: «Wenn man bedenkt, dass die Kosten für einen solchen Kurs gerade einmal 3 Dollar pro Kind betragen, ist das eine unglaublich effektive Intervention.»
Helmpflicht und Bodenwellen
Mit der Zunahme des Strassenverkehrs wird sich auch die Zahl der Verkehrstoten deutlich erhöhen. Wie kann dem entgegengewirkt werden? Aus Vietnam kommen ermutigende Nachrichten, berichtete Rivara. Dort wurde im Dezember 2007 eine obligatorische Helmpflicht für alle Motorräder und Mopeds eingeführt. In den Jahren zuvor, zwischen 1995 und 2005, hatte sich die Zahl der Fahrzeuge um 45 Prozent erhöht, davon allein 95 Prozent Motorräder und Mopeds. Entsprechend wuchs in dieser Zeit die Zahl der tödlich Verunglückten, darunter viele Jugendliche. Nach der Einführung der Helmpflicht, und zwar sowohl für die Fahrer als auch für Beifahrer und Passagiere von Mopedtaxis, stieg die Zahl der Helmträger von 25 auf knapp 100 Prozent. Diese Entwicklung lasse Hoffnung aufkommen, meinte Rivara. Auch die hohe Geschwindigkeit der Fahrzeuge fordert ihren Tribut. In den meisten Staaten der Erde liegt die erlaubte Fahrgeschwindigkeit innerhalb der Städte und Dörfer bei 50 km/h. Im westafrikanischen Ghana beispielsweise werde jedoch im Durchschnitt mit 87 km/h durch Städte und Kommunen «geheizt», das heisst, 95 Prozent aller Fahrzeuge überschreiten das 50-km/h-Limit. Um diesen Wahnsinn zu stoppen, wurden systematisch Bodenwellen in die Strassen der Ortschaften gebaut. Eine einfache und extrem kostengünstige Massnahme: Ghana konnte die Todesrate unter den Fussgängern und damit unter den Kindern um 60 Prozent senken.
Schwimmkurse
Für alle Kinder auf der Welt bedeutet Wasser eine ganz besondere Gefahr. Unter den rund 450 000 Menschen, die jedes Jahr durch Ertrinken ums Leben kommen, befinden sich 186 000 Kinder und Jugendliche. Beispielsweise sterben von 100 000 der bis zu 17-jährigen Kinder und Jugendlichen in Asien knapp 30 jährlich durch Ertrinken, mehr als dreimal so viele wie im dortigen Strassenverkehr. Zum Vergleich kommen von 100 000 Kindern weniger als 4 durch Stürze, Schlangenbisse, Selbstmorde oder elektrische Schläge ums Leben. Wie im Strassenverkehr sind es hauptsächlich die Kinder der ärmeren Länder, die im Wasser ihr Leben verlieren. Von allen jährlich auf der Welt ertrunkenen Minderjährigen kommen 97 Prozent aus Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen. Was kann getan werden? In einer im Jahr 2009 publizierten Vergleichsstudie wurde offenbar, dass Schwimmstunden unter den 1- bis 4-Jährigen das Todesrisiko durch Ertrinken um 88 Prozent senkt. Unter den 5- bis 19-Jährigen vermögen offizielle Schwimmkurse dieses Risiko immerhin um 64 Prozent zu reduzieren. Dagegen hätten private Schwimmstunden,
Risiko offenes Herdfeuer
Mit insgesamt 300 000 bis 400 000 Opfern (Kinder und Erwachsene) pro Jahr fordert auch das Feuer einen sehr hohen Tribut. Schwerpunkte sind Südostasien und der Nahe Osten. Es sind vor allem die Frauen, Mädchen und alten Menschen, die von Verbrennungen und Feuertod bedroht sind – und Kinder unter 5 Jahren. Dabei spielt offenes Herdfeuer eine zentrale Rolle, denn immer noch kochen 3 Milliarden Menschen ihr Essen über offenem Feuer. Dies führt gleichzeitig zu Infektionen der Respirationsorgane. So wird geschätzt, dass weltweit rund 1,5 Millionen Menschen pro Jahr aufgrund solcher durch offenes Herdfeuer verursachter Infektionen, wie zum Beispiel Pneumonien, sterben. Ursache ist der hohe Feinstaubanteil in der Luft, der in solchen Küchen 300-mal höher ist als in Küchen mit geregeltem Abzug. Um die Gesundheit von Frauen und Kindern zu schützen, wurden für die ländliche Bevölkerung Guatemalas sogenannte «plancha stoves» entwickelt. Sie ähneln einem sehr einfachen Steinherd mit Platte und Kamin. In einer kontrollierten Untersuchung mit 500 Haushalten wurden nun offene Feuerstellen mit diesen «plancha stoves» verglichen. Ergebnis: Unter den 9-jährigen Kindern erlitten an den neuen Herden nur noch halb so viele schwere Verbrennungen wie an offenen Feuerstellen (18/1000 Kinder vs. 35/1000). Zudem reduzierten sich die schweren Pneumonien um 22 Prozent und die Kohlenmonoxidvergiftungen um 99 Prozent.
Notfallcheckliste rettet Leben
Auch durch eine Verbesserung der Notfallversorgung könnten viele Kinderleben gerettet werden. Wer beispielsweise in den Niederlanden mit einer Verletzung direkt in ein Traumazentrum gebracht wird, hat eine um 40 Prozent bessere Chance zu überleben als anderswo im Land. Die durchschnittliche Mortalität mit einem schweren Trauma beträgt in den USA 35 Prozent, in Mexiko 55 Prozent und in Ghana 63 Prozent. Dabei kann eine einfache Checkliste schon viel bewirken. Wird laut einer randomisierten Untersuchung aus dem Jahr 2009 vor einer Operation eine Checkliste mit den wichtigsten Fragen zum Patienten, zum Equipment und zur OP-Technik durchgegangen, kann die Komplikationsrate um 30 Prozent und die Mortalitätsrate um 40 Prozent gesenkt werden. Auch hier seien die Kosten nur sehr gering und der Effekt sehr hoch, betonte Rivara.
Klaus Duffner
Quelle: Vortrag von Frederic P. Rivara am Kongress «Excellence in Paediatrics» in Istanbul, 30. November bis 3. Dezember 2011.
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Ertrinken ist eine häufige Todesursache.
Verbrennungen und Lungenkrankheiten durch offenes Feuer.
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