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POS, ADHS und die IV
In der Schweiz kann das vor mehr als 40 Jahren definierte psychoorganische Syndrom (POS) unter bestimmten Voraussetzungen als Geburtsgebrechen von der Invalidenversicherung anerkannt werden. Die Tatsache, dass nicht alle Kinder mit ADHS die notwendigen Kriterien für das POS und die IV-Anerkennung erfüllen, führt in der Praxis immer wieder zu Irritationen. Wir sprachen darüber mit dem Kinder- und Jugendpsychiater Dr. med. Ulrich Fischer.
P ädiatrie: Herr Dr. Fischer, warum kommt es nach Ihrer Erfahrung als IV-Konsiliararzt immer wieder zu Diskussionen zwischen IV und antragstellenden Ärzten, wenn es um die Anerkennung eines POS als Geburtsgebrechen geht? Dr. med. Ulrich Fischer: Ein wichtiger Grund dafür ist, dass vielen Antragstellern die Kriterien, wann ein POS ein Geburtsgebrechen ist, noch nicht genügend bekannt sind. Die Anerkennungskriterien sind in den Kreisschreiben über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen (KSME) des BSV festgelegt. Die einzelnen Randziffern (Rz) zum GG 404 definieren die Voraussetzungen für eine Kostenzusprache. Ein POS ist nicht dasselbe wie ein ADHS. Das POS als Geburtsgebrechen ist ein versicherungsmedizinisches Konstrukt und keine klinische Diagnose. Als wissenschaftliches Konzept hat das POS keinen Eingang in zeitgemässe Klassifikationssysteme, wie DSM IV oder ICD-10, gefunden. Das POS stammt aus einer anderen Ära, und man muss die klinischen Befunde sozusagen versicherungsmedizinisch übersetzen, wenn man die IV als Leistungsträger verpflichten will. Mehr nicht. Als der Gesetzgeber 1971 – lange vor der Einführung der allgemeinen Krankenversicherungspflicht – das POS als mögliches Geburtsgebrechen definierte, war seine Intention sicher nicht, alle ADHS-Kinder in der IV abzusichern, sondern Kinder, die eine Kombination von schweren Störungen auf-
weisen, welche sich gegenseitig in ihrer negativen Auswirkung potenzieren können. Heute aber hat man aber manchmal den Eindruck, dass die Diagnose ADHS fast automatisch die Anmeldung bei der IV nach sich zieht, obwohl in vielen Fällen die Kriterien dafür nicht erfüllt sind. Es gibt sogar Krankenkassen, die bei einer Ritalinverordnung die Eltern auffordern, das Kind bei der IV anzumelden, falls das der behandelnde Arzt nicht tut. Dann eröffnet die IV ein Dossier und muss vom behandelnden Arzt einen Bericht anfordern, der dann oft bestätigt, dass kein Geburtsgebrechen im Sinne des GG 404 vorliegt, sondern ein ADHS.
Und darum zieht die IV aus finanziellen Gründen die Notbremse und wird immer restriktiver bei der Anerkennung eines POS als Geburtsgebrechen? Fischer: Das ist sicher nicht der Grund dafür, dass diese Anträge heutzutage möglicherweise kritischer beurteilt werden als früher. Ich denke, das liegt in erster Linie daran, dass von der IV regionale ärztliche Dienste eingerichtet und personell aufgestockt wurden, sodass jetzt Neuropädiater oder Kinderpsychiater diese Anträge prüfen. Mit anderen Worten, es wird geprüft, ob die Anerkennungskriterien nach KSME erfüllt sind. Das Problem mit dem exponentiellen Anstieg der ADHS-Diagnosen und der Ritalinverschreibung in den letzten Jahren ist aber ein ganz anderes: Es wird rein
Dr. med. Ulrich Fischer, Facharzt FMH für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, hat eine Praxis in Zofingen und ist Konsiliararzt der SVA Aargau.
klinisch diagnostiziert – oft nur mit einer Befragung der Eltern oder Fragebögen – und dann eine Behandlung mit Methylphenidat eingeleitet. Wird das Kind dann besser in der Schule, folgert man ex juvantibus, dass es ADHS hat. Das finde ich zu kurz gedacht. Es gibt viele Lernund Leistungsstörungen in der Schule, bei denen man nicht unbedingt an ADHS denken muss. Leider scheint es aber nicht wenige Ärzte zu geben, für die ADHS die einzige Diagnose aus dem kinderpsychiatrischen Bereich zu sein scheint, die sie verwenden. Ausserdem wird die Diagnose ADHS vermehrt bereits im pädagogischen Bereich gestellt, zum Beispiel von Lehrpersonen – inklusive des Vorschlags der medikamentösen Behandlung, auch das erleben wir! Faktoren, die im pädagogischen Bereich liegen, werden dann oft ausgeklammert. Ich habe oft den Eindruck, dass die Diagnose ADHS zu leicht gestellt wird, inklusive der Methylphenidat-Medikation. Es braucht aber eine wirklich seriöse Abklärung. Obendrein ist jetzt noch die bedenkliche Entwicklung zu beobachten, dass ADHS zu einer zu leicht gestellten
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Diagnose in der Erwachsenenpsychiatrie wird.
Kommen wir zurück auf das POS und die IV-Problematik. Werden die Kriterien (siehe Infokasten) für die Anwendung nicht doch zu streng ausgelegt? Fischer: Ich finde es wichtig und gerechtfertigt, bei Kindern, die die Kriterien nicht erfüllen, auch kein Geburtsgebrechen anzuerkennen. Die IV-Anerkennung ist auch therapeutisch nicht immer nützlich. Es müssen Störungen des Verhaltens im Sinne einer krankhaften Beeinträchtigung der Kontaktfähigkeit oder der Affektivität vorliegen und alle anderen Kriterien müssen erfüllt sein. Viele Antragsteller schreiben beispielsweise, die Verhaltensstörung zeige sich darin, dass das Kind sehr unkonzentriert und zappelig im Unterricht sei. Das aber sind Störungen der Konzentration und des Antriebs und keine Verhaltensstörung im Sinne Randziffer 404.5 zum Geburtsgebrechen. Eine Verhaltensstörung bedeutet vielmehr die Beeinträchtigung von Affektivität oder Kontaktfähigkeit. Ein Kind mit ADHS ist zwar unkonzentriert und zappelig in der Schule, hat unter Umständen aber keine Verhaltensstörung und erfüllt somit nicht die Kriterien für die IV-Anerkennung. Es kann sein, dass ein Kind nur unter einer Aufmerksamkeitsstörung leidet. Diese kann noch so massiv sein, wenn das Kind keine Merkfähigkeits- und Erfassensstörung hat oder eben keine Störung der Kontaktfähigkeit oder der Affektivität, dann ist es kein Fall für die IV. Das ist manchmal ganz schwer zu vermitteln und wird so missverstanden, als ob die IV abstreite, dass das Kind stark beeinträchtigt und therapiebedürftig sei. Das ist nicht der Fall, es geht hier nur um eine Zuordnung des Kostenträgers. Manche Ärzte schreiben sogar, dass gewisse Therapiemassnahmen angeordnet seien, aber man warte auf die Kostengutsprache der IV. Das finde ich falsch und unethisch. Es besteht eine gesetzliche Vorleistungspflicht der Krankenkasse (Art. 70 ATSG), und man darf eine medizinische Leistung nicht unnötig aufschieben.
Die Kriterien für die IV-Anerkennung sind zwar definiert, aber viele Kinder-
ärzte beklagen, dass unklar sei, welche Tests von der IV anerkannt werden und welche nicht. Was meinen Sie dazu? Fischer: Vermutlich spielen Sie auf die Diskussionen um die Untersuchung nach Ruf-Bächtiger an, die viele Praxispädiater für die Abklärung verwenden. Der Haken daran ist, dass diese Testbatterie für die eindeutige Erfassung einiger wichtiger Kriterien für die IV-Anerkennung des POS nicht gut geeignet ist.
Ein Beispiel bitte! Fischer: Das beginnt schon mit der Abklärung der Intelligenz mit den kolorierten Matrizen nach Raven (CMP). Das ist ein rein orientierendes Verfahren mit einer veralteten Normierung. Damit kann man ein Intelligenzprofil, was ja ganz besonders wichtig wäre für Kinder mit Teilleistungsstörungen, gar nicht erstellen. Der Nachweis von Teilleistungsstörungen wird aber gefordert von der IV. Ein weiteres Beispiel ist die Differenzierung zwischen Erfassensstörungen und Merkstörungen. Oft lese ich in Anträgen den Satz: «Was das Kind nicht erfassen kann, kann es sich auch nicht merken.» Aber das ist so nicht richtig. Erfassens- und Merkfähigkeitsstörungen können zusammen oder unabhängig voneinander vorkommen. Es gibt Kinder, die haben eine Erfassens-, aber keine Merkfähigkeitsstörung. Sie erfassen etwas zwar weniger gut, können es aber in gleicher Qualität reproduzieren. Und es gibt Kinder, die erfassen etwas sehr gut, können es aber nicht reproduzieren. Für einen IV-Antrag müssen Erfassen und Merkfähigkeit getrennt untersucht und bewertet werden. Dafür ist das Verfahren nach RufBächtiger auch nicht gut geeignet. Es gibt viele Fragen zur Validität und zur Altersnormierung.
Trotzdem hatten sich vor etwa zwei Jahren über 300 Ärztinnen und Ärzte für die Untersuchung nach Ruf-Bächtiger stark gemacht. Beeindruckt das eigentlich niemanden? Fischer: Doch, das hat durchaus etwas bewirkt. So hat das BSV Anfang 2009 eine Konsensusgruppe mit Vertretern aus Fachgesellschaften und IV einberufen. Wir erarbeiten zurzeit ein Manual, in welchem Anerkennungskriterien und Test-
Info
POS als Geburtsgebrechen
Ein psychoorganisches Syndrom (POS) kann sowohl angeboren (prä- oder perinatale Entstehung) als auch erworben sein. Alle folgenden Kriterien müssen für die Anerkennung eines POS als Geburtsgebrechen erfüllt sein:
kongenitale (angeborene) Störung Störungen des Verhaltens im Sinne einer krankhaften Beeinträchtigung der Affektivität oder Kontaktfähigkeit Störungen des Antriebs Störungen des Erfassens Störungen der Konzentrationsfähigkeit Störungen der Merkfähigkeit Diagnose und Behandlung vor dem 9. Geburtstag (es gelten nur med. Behandlungen, z.B. Psychopharmakotherapie, Ergotherapie, Psychotherapie, nicht aber Logopädie, Psychomotorik, schulische Massnahmen).
KSME zum GG 404 www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/view/ 275/lang:deu/category:34
«POS oder ADHS?» von Dipl.-Psych. Piero Rossi www.adhs.ch/adhs/diagnostik/pos_oder_adhs. htm
ADHS Aktuell, Nr. 23, September 2009 www.sfg-adhs.ch »Rubrik Newsletter» Newsletter-Archiv
verfahren für den IV-Antrag erläutert und bewertet werden. Ziel dieses Manuals ist zum einen die umfassende Information der Antragsteller und zum anderen eine einheitliche Bewertung der Anträge durch die kantonalen IV-Stellen. Da sich das Manual noch in der Vernehmlassung befindet, kann und möchte ich heute aber noch nichts weiter dazu sagen.
Wann wird dieses Manual zur Verfügung stehen? Fischer: Das ist noch offen, aber ich hoffe, es wird nicht mehr allzu lange dauern. Möglicherweise könnte es schon im Herbst so weit sein.
Herr Dr. Fischer, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Renate Bonifer.
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