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Arzneimittelsicherheit
Kindgerechte Pharmakotherapie
«Neuer Verfassungsartikel lässt hoffen»
Der neue Verfassungsartikel über die Forschung am Menschen wurde mit grosser Mehrheit angenommen. Wir sprachen mit Professor Susanne Suter, Präsidentin des Schweizerischen Wissenschafts- und Technologierats und frühere Chefärztin Pädiatrie am Universitätsspital Genf, über die Konsequenzen für die Forschung an Kindern.
F rau Professor Suter, wird der neue Verfassungsartikel die medizinische Forschung an Kindern in der Schweiz aus Ihrer Sicht in ausreichendem Masse ermöglichen? Professor Dr. med. Susanne Suter: Der Verfassungsartikel lässt vieles offen, was die medizinische Forschung an Kindern betrifft. Es wird davon abhängen, wie das Gesetz diesbezüglich formuliert sein wird. Wir Ärzte sollten uns aber klar zum Verfassungsartikel bekennen. Er hält die beiden Grundsätze fest, auf denen die Forschung am Menschen beruhen soll: einerseits das Bekenntnis zum Schutz des Menschen und andererseits eine positive Einstellung zur Forschung, deren Bedeutung für die Gesellschaft anerkannt wird. Es liegt nun an uns, darzulegen, wie man Kinder am besten schützt, auch dadurch, dass sie am medizinischen Fortschritt in Sicherheit teilhaben können.
Ist denn der Schutz der Kinder ausreichend gewährleistet? Suter: Der Schutz der Kinder, die in einem intakten Bezugssystem leben – in den meisten Fällen ist das die Familie –, ist dadurch gewährleistet, dass man das System als Ganzes als urteilsfähig betrachtet. Das Gesetz soll unterstützen, dass die mit dem Alter wachsende Urteilsfähigkeit des Kindes in die Entschei-
Professor Dr. med. Susanne Suter, Präsidentin des Schweizerischen Wissenschafts- und Technologierats
dungsfindung, die abschliessend Sache der Eltern ist, berücksichtigt wird. Kinder, die nicht in einem intakten Bezugssystem leben, brauchen besonderen Schutz. Hier sehe ich die eigentlichen Probleme zum Einschluss oder Ausschluss des Kindes in ein Forschungsprojekt. Man muss aber auch beachten, dass Kinder durch die Forschung direkt geschützt werden können, zum Beispiel vor dem Nicht-Wissen um altersspezifische
Wirkungen von Arzneimitteln oder altersspezifische Krankheitssymptome. Sie profitieren auch von neu entdeckten Mechanismen, die zu Krankheiten führen, wie beispielsweise bei den vielfältigen, aber seltenen metabolischen Krankheiten, die in den letzten Jahrzehnten beschrieben wurden.
Wie lauten die wichtigsten Kriterien, die aus Ihrer Sicht für Studien an Kindern erfüllt sein müssen? Suter: Wie beim Erwachsenen müssen das Risiko der Forschung und der erwartete Nutzen gegeneinander abgewogen werden. Es darf nicht sein, dass man beim Kind mit Risiken behaftete Medikamente, zum Beispiel zur Krebsbekämpfung, nicht anwenden darf, wenn der erwartete Nutzen auf Besserung oder Heilung hoffen lässt. Die Belastungen,
“ Forschung wie auch Behand-
lung muss immer kindgerecht und von entsprechend hoch qualifiziertem
”Personal durchgeführt werden.
denen das Kind ausgesetzt ist, sind in diesem Fall gross, aber das muss möglich sein. Gerade in diesem Fall ist die Risikoverminderung am besten garantiert, wenn das Kind in ein streng kontrolliertes Forschungsprojekt – und das sind in der Schweiz heute alle Forschungsprojekte – eingeschlossen wird. Ausserdem muss die Forschung wie auch die Behandlung immer kindgerecht, das heisst altersgerecht und in kindgerechter Umgebung sowie von entsprechend hoch qualifiziertem Personal durchgeführt werden. Forschung, die nicht bester Qualität ist, kann weder ethisch noch medizinisch gerechtfertigt sein. Dieser Aspekt wird meines Erachtens von nicht
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Arzneimittelsicherheit
medizinisch geschulten Personen stark unterschätzt.
Sie kritisierten einmal, dass die starre Definition einer kindlichen Urteilsunfähigkeit unabhängig vom Alter des Kindes praktisch von 0 bis 17 Jahre gelte. Ab wann sollte Ihrer Ansicht nach das Kind ein gewichtiges Wort mitzureden haben, ob es an einer Studie teilnehmen will oder nicht, gegebenenfalls auch gegen den Willen seiner Eltern? Suter: Ein Kind soll an der Diskussion umso mehr teilhaben, je älter es ist. Kinderbetreuende Pflegende und Ärzte müssen das zusammen mit den Eltern
“ An Kindern nicht getestete
neue Medikamente sollen grundsätz-
”lich nicht gebraucht werden.
diskutieren. Falls das Kind an einer chronischen Krankheit leidet, versteht es meistens viel mehr, als man von einem akut und einmalig erkrankten Kind erwarten kann. Das wissen die Eltern und die betreuenden Personen. Man denke beispielsweise an ein Kind mit Diabetes, das gelernt hat, was täglich gemacht werden
muss, um die Krankheit in den Griff zu bekommen. Die Eltern und das betreuende Team müssen aber auch dafür sorgen, dass das Kind durch eigenständige Entscheidungen nicht zu sehr belastet wird. Es soll sich auch auf eine Umgebung stützen können, die ihm die Sicherheit gibt, dass man für es sorgt. Entscheidungen gegen den Willen der Eltern sind nach meiner Erfahrung selten notwendig. Meistens gelingt es, die Eltern zu überzeugen. Falls es um ein Forschungsprojekt geht, dem die Eltern nicht zustimmen, sollte dies keinesfalls durchgeführt werden. Anders verhält es sich bei einer Behandlung, der die Eltern nicht zustimmen. Falls das betreuende Team davon überzeugt ist, dass die Eltern damit gegen das Interesse des Kindes handeln, ist in allen Fällen eine Ethikkommission einzubeziehen.
Was raten Sie den Schweizer Kinderärztinnen und -ärzten in der Praxis: Wie sollten sie bei der Verordnung von Medikamenten vorgehen, für die es im Grunde keine validen Daten zur Anwendung bei Kindern gibt? Suter: An Kindern nicht getestete neue Medikamente sollen grundsätzlich nicht
gebraucht werden. Alte, an Kindern erprobte Medikamente sind vorzuziehen, und man soll sich dabei an publizierte Richtlinien halten. Falls man aus zwingenden Gründen ein neues, nicht an Kin-
“ Kinder, die nicht in einem
intakten Bezugssystem leben, brauchen
”besonderen Schutz.
dern getestetes Medikament einsetzen will, soll man sich bei pädiatrischen Spezialisten Rat holen. Das kann zum Beispiel der Fall sein bei seltenen, neu beschriebenen Krankheiten, für die die Kenntnis des Krankheitsmechanismus neue Behandlungsmöglichkeiten eröffnet. Bei häufig gebrauchten Kategorien von Medikamenten wie zum Beispiel Antibiotika soll man sich nicht zum Gebrauch von Neuheiten verführen lassen, wenn die Infektiologen nicht ausdrücklich dazu raten, etwa wegen Resistenzentwicklungen gegen die alten Mittel.
Frau Professor Suter, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Renate Bonifer.
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