Transkript
Schwerpunkt
Kinder + Medikamente = kinderleicht?
Wie bewerten es Eltern und Fachpersonen?
Lilian Bernasconia, René Glanzmannb, Christoph R. Meierc
In vielen Fällen erhalten Kinder Arzneimittel, die nur für Erwachsene untersucht sind. Um zu erfassen, wie Eltern und Fachpersonen damit umgehen, sind in der deutschsprachigen Schweiz (im Kanton Bern und in beiden Basel) Daten mittels Fragebogen erfasst worden. Inhaltlich sind dabei die drei Themenblöcke Anwendung, Dosierung/Wirkung und Darreichungsformen im Fokus gestanden. Eltern bewerteten die Versorgung mit kindergerechten Arzneimitteln
Zusätzlich wurden mögliche Schwierigkeiten, wie beispielsweise ob die galenische Form für die Behandlung des Kindes adäquat ist, die Selbsteinschätzung der Beteiligten, die häufig verwendeten Medikamente, der Grad der Adherence (Therapiebereitschaft), die Qualität der Informationen und das Ausmass der «Off-label»-Verwendung thematisiert. Zurück erhalten wurden 145 ausgefüllte Fragebögen (18%).
und besonders die Arzneimittelinformationen positiver als Fachpersonen. Aus Sicht der Fachpersonen ist dagegen die Versorgung der Kinder mit hochwertigen Arzneimitteln oft mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden.
Z ur Verbesserung der Arzneimittelversorgung in der Pädiatrie sind in den USA und Europa Initiativen ergriffen worden. Auch in der Schweiz sind Bestrebungen im Gang, die Richtlinien bezüglich Forschung, Förderung und Entwicklung denen der USA und der EU anzugleichen (1–3). Es ist bisher viel darüber berichtet worden, dass und warum die Arzneimittelversorgung bei Kindern verbessert werden muss (6–8). Wenig bekannt dagegen ist, wie Eltern und Fachpersonen die Situation einschätzen. Ziel der folgenden Umfrage war es, bei Eltern und Fachpersonen (Ärzte und Apotheker) in der deutschsprachigen Schweiz zu erfassen, wie sie mit der gegenwärtigen Si-
aDepartement Pharmazeutische Wissenschaften, Universität Basel bUniversitäts-Kinderklinik beider Basel, Basel cInstitut f. Pharmakologie und Toxikologie, Universität Basel
tuation der Arzneimittelversorgung für Kinder und mit den Informationen über die Anwendung des Arzneimittels zufrieden sind. Hierzu wurden Eltern mit Kindern von 0 bis 6 Jahren, Ärzte mit eigener Praxis sowie Spitalärzte und Apotheker befragt.
Methodik
Insgesamt wurden im Frühling 2009 805 Fragebogen über Arztpraxen, Spitäler und Apotheken in den Kantonen Bern (ohne Oberland), Basel-Stadt und BaselLand verteilt. Sie sind vorher den kantonalen Ethikkommissionen zur Begutachtung vorgelegt worden. Die Eltern konnten durch die beteiligten Fachpersonen angesprochen werden. Vergleiche der Resultate erfolgten zwischen den verschiedenen befragten Gruppen und – wenn vorhanden – mit der Literatur und vergleichbaren Studien.
Ergebnisse
Insgesamt beteiligten sich 94 Eltern und 51 Fachpersonen, davon 12 Ärzte mit eigener Praxis und 18 im Spital tätige Ärzte sowie 21 Apotheker. Die notwendige Anzahl von 50 Beteiligten pro Gruppe wurde damit erreicht (4, 5). Die Befragten verteilten sich gleichmässig über die erfassten städtischen und ländlichen Regionen. Es zeigte sich, dass Eltern die Versorgung mit kindgerechten Arzneimitteln und besonders die verfügbaren Arzneimittelinformationen positiver bewerteten als die Fachpersonen. Das Gegenteil war erwartet worden (Abbildung 1 und 2). Während fast alle Eltern (91,8%) angeben, über Wirkung und Anwendung eines Arzneimittels Bescheid zu wissen, beurteilen Fachpersonen die vorhandenen Informationen (Arzneimittelinformation, Internet, Literatur) dagegen zu 35,4 Prozent als ungenügend (Kasten 1 und 2). Auf die Frage: «Welche der drei folgenden Punkte machen Ihnen bezüglich Medikamenten bei Kindern ganz allgemein am meisten zu schaffen?» wurde von Ärzten mit eigener Praxis und von Apothekern die «Sicherheit ganz allge-
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Schwerpunkt
Abbildung 1: Zufriedenheit mit der Arzneimittelversorgung für Kinder
Abbildung 2: Zufriedenheit mit den Informationen über Arzneimittel für Kinder
Kasten 1:
Die drei wichtigsten Informationsquellen von Eltern und Fachpersonen im Vergleich (mehrere Angaben möglich)
Eltern (n = 260) 1. Arzt mit eigener Praxis (32,3%) 2. Apotheke (31,5%) 3. Kollegen (10,8%)
Fachperson (n = 151) 1. Arzneimittelkompendium der Schweiz (31,8%) 2. Internet, fachspezifische Seiten (17,2%) 3. Ärzte, ärztliche Kollegen (11,3%)
Kasten 2:
Die drei Hauptschwierigkeiten (mehrere Angaben möglich)
Eltern (n = 121) 1. Schwierigkeiten beim Verabreichen (33,1%) 2. keine kindergerechte Form (22,3%) 3. Dosisangaben nur für Erwachsene (14%)
Fachperson (n = 142) 1. keine kindergerechte Form (27,5%) 2. nur Tabletten, Injektionen, Infusionen erhältlich
(15,5%) 3. bewährte Form des Arzneimittels ausser
Handel (14,1%)
mein», von den Spitalärzten der «Off-label-use» am häufigsten (42,9%, 47,0%, 38,5%) angegeben. (Off-label use bezeichnet das Verordnen und Abgeben von Arzneimitteln ausserhalb der zugelassenen Indikation und Darreichungsform [6–8]). Weitere angesprochene Problempunkte waren: ungenügende Informationen, Dosisangaben nur für Erwachsene, fehlende adäquate galenische Formen für Kinder, das zunehmende Verschwinden kindgerechter Medikamente vom Markt, gewünschte Medikamente nur in Spitalapotheken vorhanden, benötigte Medikamente sind nicht rechtzeitig verfügbar, gewisse Wirkstoffe lassen sich nicht in eine geeignete galenische Form für Kinder bringen sowie existierende Kommunikationsprobleme mit anderen beteiligten Fachpersonen.
Schwerpunkt
Kasten 3:
Die drei Hauptgründe für fehlende Adherence (mehrere Angaben möglich)
Eltern (n = 119) 1. Geschmack wird nicht geschätzt (36,1%) 2. Ungeeignete Darreichungsform (20,2%) 3. Geruch/Farbe wird nicht geschätzt (15,1%)
Fachperson (n = 76) 1. Geschmack wird nicht geschätzt (28,9%) 2. ungeeignete Darreichungsform (23,7%) 3. Geruch/Farbe wird nicht geschätzt; Eltern ver-
stehen Zweck des Arzneimittels nicht und geben es nicht (je 9,2%)
Der vorliegende Beitrag ist ein stark zusammengefasster Ausschnitt aus der Masterarbeit Pharmazie der Autorin. Die Autorin dankt ihren Betreuern, Dr. med. René Glanzmann, Prof. Dr. Christoph R. Meier, Prof. Dr. med. Stephan Krähenbühl, Dr. med. Hans Stötter und ganz besonders allen Eltern, Ärzten und Ärztinnen, Apothekern und Apothekerinnen, die sich an diesem Projekt beteiligt haben.
So weit möglich werden die Eltern über die Tatsache der Off-Label-Anwendung eines Arzneimittels informiert, der die Eltern dann zustimmen. Knapp die Hälfte der Eltern geben an, keine Schwierigkeiten damit zu haben, dass ihre Kinder ihre Medikamente regelmässig einnehmen. Das deckt sich gut mit den Resultaten der Fachpersonen, wonach die Adherence bei mehr als der Hälfte der von ihnen therapierten Kinder zufriedenstellend gut ist. Mit kindgerechten Darreichungsformen liesse sich die Situation hier ganz sicher noch verbessern (9, 11) (Kasten 3).
Diskussion
Fachpersonen können viele Probleme auffangen, die in Zusammenhang mit der Anwendung von Arzneimitteln bei Kindern auftreten. Eltern geben an, insgesamt recht gut informiert und kompetent zu sein – sie kommen demnach in den meisten Situationen zurecht. In der heutigen Mediengesellschaft ist es für die meisten Eltern ohnehin nicht sehr schwierig, Informationen zu erhalten. Im Gegenteil: Sie werden eher damit über-
schwemmt. Hier spielt das Vertrauensverhältnis zu einem Arzt oder einem Apotheker nach wie vor eine nicht zu unterschätzende Rolle (Kasten 1). Doch für Fachpersonen präsentieren sich oft Double-Bind-Situationen: Was immer auch getan oder unterlassen wird, die Lösung bleibt unbefriedigend. Es zeigen sich eine Menge Widersprüche, mit denen Fachpersonen im Alltag klarkommen und hinter denen sie stehen müssen. Für betroffene Eltern und ihre Kinder, die ohnehin in einer schwierigen Situation sind, macht das die Lage nicht einfacher. Einige solcher Punkte sind in Abbildung 3 dargestellt. Wie ist es möglich, mit solchen Rahmenbedingungen zurechtzukommen? Wäre der Aufbau einer Erfahrungsdatenbank sinnvoll (10)? In dieser sollten auf jeden Fall auch kindgerechte Hilfsstoffe und Applikationshilfen erfasst werden sowie bewährte Formulierungen und Rezepturen enthalten sein. Es gibt diesbezüglich schon vielversprechende neue Ansätze, die aber leider noch nicht sehr verbreitet sind (9, 11). Die «Kinderapotheke» ist als ein schweizweites Projekt (analog z.B. der Armeeapotheke) gedacht und sollte die
Versorgung mit all jenen Arzneimitteln gewährleisten, die sonst nicht mittels Rezeptur/Defektur oder via Spitalapotheke hergestellt und vertrieben werden können. Darüber hinaus wäre ein Info- und FeedbackPortal für Eltern notwendig.
Kontaktadresse: Lilian Bernasconi (Apothekerin im Assistenzjahr) Brambergstrasse 30, 3176 Neuenegg E-Mail: Lilian.Bernasconi@stud.unibas.ch
Literatur: 1. European Medicines Agency (EMEA): Medicines for Children. www.emea.europa.eu/htms/human/ paediatrics/introduction.htm (aufgerufen am 19.10.2009) 2. U.S. Food and Drug Administration (FDA): Office of Pediatric Therapeutics: www.fda.gov/oc/opt/default.htm 3. Heim Bea (Nationalrätin): Motion vom 12.06.2008: Arzneimittelsicherheit bei Kindern fördern (Annahme NR am 03.10.2008). 4. BOMS, Basic of Medical Statistics (Teilnehmerzahl-Einschätzung und Powerkalkulation): www.boms.ch/ 5. Kutschmann M, Bender R et al. Aspekte der Fallzahlkalkulation und Powerberechnung anhand von Beispielen aus der rehabilitationswissenschaftlichen Forschung. Rehabilitation 2006; 45: 377–384. 6. Conroy S, McIntyre J. The use of unlicensed and off-label medicines in the neonate. Seminars in Fetal & Neonatal Medicine 2005; 10: 115–122. 7. Hill P. Off licence and off label prescribing in children: litigation fears for physicians. Arch Dis Child 2005; 90/Suppl I: i17–i18. 8. Vogt W, Frobel AC, Läer S. Gibt es eine Metamorphose der «therapeutischen Waisen?» Besonderheiten der Pharmakotherapie bei Kindern. Pharm. Unserer Zeit 2009; 38/1: 22–29. 9. Schäfer C. Nein, meine Tropfen nehm ich nicht! Arzneimittelanwendung bei und mit Kindern. Pharm Unserer Zeit 2009; 38/1: 74–82. 10. Bundesamt für Gesundheit (BAG): www.bag.admin.ch, Home > Themen > Krankheiten und Med... > Heilmittel > Themengebiete > Kinderarzneimittel (aufgerufen am 21.10.2009) 11. Wagner R, Frey OR. Arzneimittelanwendungen bei Kindern und Jugendlichen. Therapeutische Umschau 2006; 63/6: 411–418.
Abbildung 3: Beispiele von Double-Bind-Situationen
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